Drama

Poor Things (2023)

Regie: Giorgos Lanthimos
Original-Titel: Poor Things
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Poor Things


Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos sieht die Dinge ein wenig anders als die meisten anderen Menschen, wie sich schon in vielen seiner Filme wie etwa The Lobster oder The Killing of a Sacred Deer gezeigt hat. The Favourite – Intrigen und Irrsinn mit einer Oscar-prämierten Olivia Colman und den ebenfalls nominierten Rachel Weisz und Emma Stone war da schon seine zugänglichste Arbeit der letzten Jahre. Mit Emma Stone hat er sich (zusammen mit Willem Dafoe, Mark Ruffalo und Ramy Youssef und Kathryn Hunter in tragenden Nebenrollen) erneut zusammengetan, um ihr in einer Art feministischer Frankenstein-Adaption, basierend auf dem gleichnamigem Roman von Alasdair Gray, die Möglichkeit zu geben, ihren zweiten Oscar zu gewinnen, den sie für „The Favourite“ noch verpasst hat. Emma Stone und Giorgos Lanthimos – das passt einfach. Und seltener war ein Oscargewinn für die beste Schauspielleistung verdienter als für Stone in „Poor Things“. Sie spielt sich nicht nur die Seele aus dem Leib, sondern eben jene in den Leib der von einem genialen Chirurgen zusammengeflickte Bella Baxter hinein. Die hat nämlich eine irre Vorgeschichte: Nach einem geglückten Suizid-Versuch wird sie von Dr. Godwin Baxter (ein monströs entstellter Willem Dafoe) gefunden, das das Gehirn ihres ungeborenen Kindes in den Leib der Verstorbenen verpflanzt. Zu Beginn lernen wir das Kind im Körper der Frau kennen, doch die Fortschritte, die sie macht, sind gewaltig, und bald beginnt sie, sich von ihrem Schöpfer zu emanzipieren. Sie brennt mit dem windigen Lebemann und Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo, der auch längst überfällig für den Goldjungen ist) durch und entdeckt auf ihrer Reise nicht nur die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern auch die Freuden des Lebens, ihre Sexualität und auch das Leid, das durch die Ungerechtigkeit der Welt verursacht wird. Bella begegnet diesem allerdings nicht mit dem Zynismus ihrer Mitmenschen, sondern mit dem reinen Herzen der Unschuld. Eine denkwürdige Figur! Und als wäre die Geschichte nicht schon interessant genug, verpackt sie Lanthimos noch dazu in einer fantastischen, märchenhaften Kulisse, die einen staunen lässt. „Poor Things“ ist ein Gesamtkunstwerk, das allerdings gerade durch die Verfremdung greifbar wird. Denn vor diesem Hintergrund der Verfremdung tritt das Universelle der Geschichte und ihrer Figuren hervor. So ist Lanthimos‘ bislang experimentellster Film gleichzeitig sein vielleicht auch zugänglichster.


8,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Jane Eyre (2011)

Regie: Cary Joji Fukunaga
Original-Titel: Jane Eyre
Erscheinungsjahr: 2011
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Jane Eyre


Wenn eine Geschichte 1,5 Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen immer noch Bedeutung genießt und immer wieder neu verfilmt wird, kann man auf jeden Fall von einem zeitlosen Stoff sprechen. Da ist es dann auch egal, wenn die Protagonisten seltsam gewandet auf Pferden reiten und in düsteren Herrenhäusern wohnen. Es liegt also etwas Universelles in Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“, 2011 von Cary Fukunaga mit Mia Wasikowska und Michael Fassbender in den Hauptrollen verfilmt. Das Universelle: Das Streben nach Selbstbestimmung, denn Jane Eyre, die mittellose Waise, die als Gouvernante im Haus des Adeligen Edward Fairfax Rochester zu arbeiten beginnt, hat trotz ihrer Jugend und der harten Zeiten, die sie erlebt hat, immer den Kopf oben und vertritt ihre eigene Meinung. Ebenfalls universell: Die Geheimnisse, die viele Leben umgeben – in diesem Fall ausgedrückt durch mysteriöse Geräusche in der Nacht und das manchmal erratische Verhalten des Hausherren. Auch wenn Fukunaga diese Geheimnisse als spannende Gruselgeschichte einbaut, so lautet dennoch die dahinterliegende Frage: Wie gut kennen wir uns und unsere Gefährten denn wirklich? Wo liegen die finsteren Ecken, in die niemand hineinschauen kann und in die man nicht einmal selbst hineinschauen möchte? Und das vielleicht Universellste überhaupt an Jane Eyre: Die Liebe zwischen zwei Menschen, die zunächst unterschiedlicher nicht sein könnten und doch zueinander finden. Es ist keine Überraschung, dass die Geschichte auch heute noch ihre Fans hat. Fukunaga setzt diese mit viel Liebe für viktorianische Opulenz um, bringt aber einen modernen Anstrich ein, der sich beispielsweise in der Inszenierung der Gruselmomente zeigt. Das bewahrt den Film davor, zu einem routinierten Kostümfest zu verkommen, in dem sich schöne Menschen in schönen Kleidern anschmachten. Allerdings hätte die Inszenierung durchaus noch einen Tick subversiver und gewagter sein dürfen – die Vorlage hätte das hergegeben.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Killers of the Flower Moon (2023)

Regie: Martin Scorsese
Original-Titel: Killers of the Flower Moon
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi, Western, Historienfilm
IMDB-Link: Killers of the Flower Moon


Die 96. Oscarverleihung ist nun schon wieder Geschichte, und der wohl größte Verlierer des Abends war Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“. Zehnmal nominiert ging er am Ende des Tages ohne einzigem Goldglatzkopf nach Hause. Der Film scheint die Meinungen zu spalten. Sehen die einen ein bildgewaltiges Meisterwerk, können sich die anderen kaum die 3,5 Stunden lang wach halten. Als waschechter Österreicher berufe ich mich mal wieder auf die Neutralität und versuche ganz opportunistisch eine Position in der Mitte zu finden. Auf der Plusseite dieses ambitionierten Werks stehen eine durchaus interessante Geschichte rund um die vielfachen Morde an Stammesmitgliedern der Osage, die durch Ölfunde auf ihrem Land zu Reichtum gelangten (wie so oft gelingt es Scorsese, die dunklen, eher verschwiegenen Kapiteln der amerikanischen Geschichte zu Tage zu bringen und aus ihnen eine Art Zustandsbeschreibung der heutigen Welt abzuleiten) sowie eine sehr eigene und einzigartige, fiebrige Atmosphäre, die durch formvollendete Bilder, aber auch einem genial reduzierten Soundtrack von Robbie Robertson getragen wird. Auch der Cast weiß zu überzeugen, wenngleich Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle des gierigen und etwas naiven Handlangers Ernest Burkhart die Mundwinkel etwas zu weit nach unten hängen und er so fast schon eine Karikatur seines Charakters schafft, und ich Lily Gladstones konzentrierte Darstellung zwar mag, aber nicht als so überragend empfinde wie manch andere Kritiker. Dafür zeigt Robert DeNiro, dass er es immer noch kann, wenn er will, und ausnahmslos alle Nebenrollen sind perfekt gecastet. Aber man muss schon auch über das Thema Ambition reden. Diese ist in jeder Einstellung des Films merkbar – Scorsese wollte hier einmal mehr das große amerikanische Epos schaffen. Und so packt er so gut wie alles in den Film hinein, ohne sich darum zu scheren, ob ihm da Publikum dabei folgen kann oder will. So schleppt sich die erste Stunde des Films recht ereignislos dahin, nur getragen von der interessanten Atmosphäre, und man muss schon Geduld beweisen, bis es mal ein wenig zur Sache geht und der Film Fahrt aufnimmt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, zieht das Tempo aber an und Scorsese spielt all seine Stärken aus. Ein Meisterwerk ist der Film daher aufgrund dieses uneinheitlichen Tempos nicht, aber dennoch gehört er mit Sicherheit zu den stärkeren Beiträgen des vergangenen Kinojahrs, der aber vielleicht im Heimkino sogar noch ein Stück besser aufgehoben ist, da bei 3,5 Stunden die Blase dann doch mal ein wenig zu drücken beginnt.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Prestige – Die Meister der Magie (2006)

Regie: Christopher Nolan
Original-Titel: The Prestige
Erscheinungsjahr: 2006
Genre: Thriller, Drama
IMDB-Link: The Prestige


Christopher Nolan gilt als einer der neuen Säulenheiligen Hollywoods – verbindet er doch Blockbuster-Kino mit Anspruch. Es scheint fast, als hätte es eine Ära „Vor Nolan“ gegeben, in der entweder hirnlose Straßenfeger gedreht werden konnten (die meisten Action-Filme davon von Michael Bay, dem ungekrönten König der bombastischen Explosionen, während sein Bruder im Geiste Roland Emmerich das Genre der Science Fiction-Katastrophenfilme besetzte), oder anspruchsvolles Arthouse-Kino, das dann in Programmkinos vor einer einstelligen Zahl an Zuschauern gezeigt wurde. Christopher Nolan verbindet diese beiden Welten und beweist, dass man für breitenwirksame Unterhaltung nicht den Anspruch komplett über Bord werfen muss. „The Prestige“ aus dem Jahr 2006 mit Hugh Jackman und Christian Bale in der Hauptrolle zweier rivalisierender Magier (mit einem exquisiten Support Cast um sie herum: Michael Caine, Scarlett Johansson, Rebecca Hall, Piper Perabo, Andy Serkis, David Bowie) ist eines von mittlerweile vielen Beispielen des Nolan’schen Schaffens intelligenter Blockbuster. Während viele ähnlich gelagerte Thriller den Fehler machen, sich zu sehr auf den Plot-Twist zu verlassen, ohne diesen ausreichend vorzubereiten, führt jede Filmsekunde in „The Prestige“ auf den entscheidenden Moment am Ende zu, der selbst einen M. Night Shyamalan neidisch werden lässt. Und das ist große Kunst, denn so wird aus „The Prestige“ ein Werk wie aus einem Guss, in dem sich alles der (spannend inszenierten) Geschichte unterordnet. Dazu kommt Nolans grandioses Gespür für Ausstattung und Atmosphäre, die den Zuseher gänzlich eintauchen lassen in diese seltsame Welt, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Und dabei handelt die Geschichte im Grunde von nichts mehr als zwei Egomanen, deren angekratztes Ego zu immer extremeren Maßnahmen verleitet bis hin zur vollständigen Selbstaufgabe nur um des Ruhmes willen. Kann man davon eine Aussage zur heutigen Lage der Gesellschaft ableiten? Vermutlich. Und das macht „The Prestige“ nicht nur spannend, sondern auch zeitlos.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

All of Us Strangers (2023)

Regie: Andrew Haigh
Original-Titel: All of Us Strangers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: All of Us Strangers


Ein einsamer, homosexueller Drehbuchautor in einem kalten und verlassenen Appartement-Hochhaus in London. Das Leben zieht an ihm vorbei, die Tage sind gleichförmig und werden vorrangig auf der Couch verbracht, während über den Fernseher alte „Top of the Pops“-Folgen flimmern. Eines Tages klopft der einzige Mitbewohner dieses sterilen Hauses an der Tür: Betrunken, ebenfalls vereinsamt und nach Liebe und Geborgenheit suchend. Adam, der Schriftsteller, ist jedoch zu feige und schließt die Tür zunächst wieder. Doch die Neugier siegt, und bei der nächsten Begegnung lässt er sich auf die Avancen des jungen Harry ein. Was zunächst wie eine queere Liebesgeschichte in Anonymität der Großstadt beginnt, entfaltet sich unter Andrew Haighs sensibler Regie bald zu einer Studie von Vereinsamung, Trauer und Verlust. Denn bei einem Besuch seiner Geburtsstadt macht Adam bald eine unerwartete Begegnung: Er trifft auf seine Eltern, die sich im gleichen Alter wie er selbst befinden. Ein Traum? Eine Geistererscheinung? Eine Parallelwelt? Und kann ihm die aufkeimende Liebe zu Harry Halt geben in einer Situation, die Adam zu verschlingen droht? Langsam, aber keinesfalls langatmig tastet sich Haigh mit seinem grandios aufspielenden Cast vorwärts und entfaltet nach und nach das eigentliche Thema des Films bis hin zu seinem bitteren und aufwühlenden Ende. So großartig „All of Us Strangers“ auch inszeniert ist mit seinen weichen, zärtlichen Kamerabildern, dem klug eingesetzten Sounddesign und dem dichten Drehbuch, das der Geschichte dennoch genügend Raum zum atmen lässt, er würde nicht funktionieren ohne der überragenden Leistung des Casts, allen voran Andrew Scott in der Hauptrolle des Adam. Aber auch Paul Mescal als Harry sowie Claire Foy und Jamie Bell als Eltern tragen ihre Figuren mit größtmöglicher Sensibilität und Menschlichkeit und machen „All of Us Strangers“ zu einem gefühlsbetonten Drama, das mit zwar am Überirdischen anstreift, doch dank eben dieser ambivalenten und komplexen Figuren die Beine fest auf dem Boden behält.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Chris Harris/Chris Harris, Quelle: http://www.imdb.com)

Saltburn (2023)

Regie: Emerald Fennell
Original-Titel: Saltburn
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie, Thriller
IMDB-Link: Saltburn


Schaut man die Oscarnominierungen 2024 durch, fehlt ein Film, der im Vorfeld hoch gehandelt wurde: „Saltburn“ von Emerald Fennell, die mit Promising Young Woman 2020 für Furore sorgte. Und da kommt man dann doch ins Grübeln. War der Academy die bitterschwarze, zynische Thrillerkomödie zu derb, zu eklig vielleicht (es gibt zwei, drei Stellen, die berechtigterweise für Kontroversen sorgen)? Andererseits hat Emerald Fennell ja auch in ihrem Vorgängerfilm bewiesen, dass sie auf Konventionen pfeift und einfach ihr Ding durchzieht. Und so ist auch „Saltburn“ ganz eindeutig ein Fennell-Film: Pulsierend, auf eine eher ungute Weise erotisch, mit tollem Soundtrack ausgestattet, mit Bildern, die wie Gemälde wirken (Kamera: der Oscar-dekorierte Linus Sandgren) und einem erneut groß aufspielendem Cast. In diesem Fall glänzt Barry Keoghan in der Hauptrolle des Oxford-Stipendiaten Oliver Quick (wer nun an Charles Dickens denkt, denkt nicht falsch), der aus einfachen Verhältnissen stammt und sich mit dem reichen Erben Felix Catton (Jacob Elordi) anfreundet. Dieser lädt Oliver ein, den Sommer über bei seiner Familie in Saltburn zu verbringen. Um das Anwesen in der Tonalität von Wolf Haas und seiner berühmten Brenner-Romane zu beschreiben: Schloss: Hilfsausdruck. Die Eltern (Rosamund Pike und Richard E. Grant) sind der neuen Bekanntschaft ihres Filius wohlgesonnen, und der lebt sich auch bald recht gut ein. So gut, dass er eigentlich gar nicht mehr weg möchte. Und schon bald zeigt sich, dass mehr in dem schüchternen Kerl steckt, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. „Saltburn“ spielt geschickt mit den Erwartungshaltungen des Publikums, die immer wieder unterlaufen werden. Mal absurd komisch, mal sinnlich, mal bedrückend, mal zutiefst zynisch lässt sich der Film keinem Genre klar zuordnen und geht ganz eigene Wege. Auf den beißenden Humor sollte man sich einlassen können, ebenso wie auf die derben Szenen, die aber allesamt (wenig subtil) ein Sittenbild von Reich & Schön und jenen, die gerne dazugehören wollen, zeichnen. Zwar war „Promising Young Woman“ der konzentriertere und inhaltlich überraschendere Film, aber auch „Saltburn“ liefert gekonnte Unterhaltung und zeigt auf, dass Emerald Fennell ein Name ist, den man sich unbedingt merken muss.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Chiabella James/Chiabella James/Prime Video – © 2022 Amazon Content Services LLC, Quelle: http://www.imdb.com)

Sully (2016)

Regie: Clint Eastwood
Original-Titel: Sully
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Biopic
IMDB-Link: Sully


Große Passagierflugzeuge sind nicht unbedingt darauf ausgerichtet, im Wasser zu landen. Was Captain Chesley Sullenberger am 15. Jänner 2009 auf dem Hudson River vor New York gelungen ist, kann wohl als eine der größten Meisterleistungen der Luftfahrtgeschichte bezeichnet werden. Notwendig wurde dieser Stunt durch eine Kollision mit einem Vogelschwarm, der dafür sorgte, dass beide Triebwerke ausfielen. Umzukehren oder einen anderen Flughafen anzusteuern, war unmöglich, so der erfahrene Kapitän, also ging’s runter in den Fluss. Oder wäre es doch möglich gewesen, auf einem Flughafen zu landen statt das teure Flugzeug den Fischen zu überlassen? Die Luftfahrtbehörde schaut genau hin und bittet Sullenberger (Tom Hanks) und seinen Co Jeff Skiles (Aaron Eckhart) zum Gespräch. Haben die beiden etwa einen schwerwiegenden, weil teuren Fehler gemacht? „Sully“ unter der routinierten Regie von Clint Eastwood ist weniger Katastrophenfilm als Gerichtsdrama. Im Mittelpunkt stehen die Ermittlungen der Luftfahrbehörde und die Selbstzweifel von Sullenberger, die diese Ermittlungen verursachen. Ja, er hat 155 Menschenleben gerettet, aber war der Weg ins Wasser tatsächlich der einzig mögliche? Hier wird der Zynismus unserer Zeit spürbar: Es reicht nicht aus, zum Helden zu werden – es müssen auch die Interessen der Aktionäre gewahrt werden. Daraus und aus der nüchternen Nacherzählung der Ereignisse, die ohne künstliche Dramatisierung auskommt, bezieht „Sully“ seine größte Stärke. Es zeichnet einen Meister wie Eastwood aus, dass er den Unfall selbst enorm spannend, aber ohne Überhöhung zeigen kann. Andererseits wirkt sich der nüchterne, fast dokumentarische Zugang in den ruhigeren Momenten aber auch etwas bremsend aus und macht den Film gelegentlich etwas schwerfällig. Doch es überwiegen die positiven Aspekte, die einmal mehr unter Beweis stellen, dass der akribisch arbeitende Clint Eastwood trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch einer der interessanten und relevantesten Filmemacher unserer Zeit ist (von gelegentlichen Ausnahmen wie etwa dem eher drögen The Mule und dem Hurra-patriotischen „American Sniper“ mal abgesehen).


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Im letzten Sommer (2023)

Regie: Catherine Breillat
Original-Titel: L’été dernier
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Erotik
IMDB-Link: L’été dernier


Catherine Breillat steht unter Verdacht, gerne mal filmisch mit Grenzüberschreitungen zu provozieren. Da darf dann auch mal ein *hüstel* gestandener Porno-Darsteller sein gewaltiges Gemächt herzeigen, wie beispielsweise in „Romance XXX“. In ihrem neuesten Film bedient die französische Altmeisterin des provokativen Kinos ein Genre, das für gewöhnlich freizügigen Internetseiten vorbehalten ist: Stiefmutter verführt Stiefsohn. (Jetzt wäre mir mit „Steifsohn“ gerade fast ein Tippfehler unterlaufen, den ich so hätte stehen lassen können.) Wobei: So eindeutig ist die Antwort auf die Frage, wer wen verführt, nicht zu geben. Gut, die scharfe Mama hätte eigentlich wenig Grund, den aufsässigen Gockel, der, weil schwieriges Kind, von seiner leiblichen Mutter zu seinem Vater abgeschoben wird, zum Betthupferl zu machen. Sie ist beruflich erfolgreich, hat zwei entzückende adoptierte Töchter mit ihrem Göttergatten, der zwar vielleicht schon etwas in die Jahre gekommen und leiblich auseinandergegangen ist (und, unter uns gesagt, ein Alkoholproblem hat, wenn er zu jedem Abendessen, das ihm die Gattin hinstellt, ein, zwei Glaserl Whiskey trinken muss), aber es läuft eigentlich ganz gut in ihrem Leben. Das alles auf Spiel zu setzen für ein Tête-à-Tête mit dieser Schmalzlocke von Stiefsohn: Hat sie nicht alle? Aber irgendwas hat dieser Bengel halt schon an sich, der offen rebelliert und eigentlich gar nicht dazugehören will in diese Patchwork-Familie. Warum sich der so an Muttern ranmacht, wird auch nicht ganz klar. Am ehesten kann man sein Verhalten unter jugendlichen Leichtsinn und eben Rebellion verbuchen. Aber es passiert nun mal das, was passiert, und hinterher schauen alle bedröppelt aus: Muttern, weil sie Schuldgefühle hat (Nonanet!), Söhnchen, weil er Gefühle entwickelt (oder zumindest äußert), die nicht erwidert werden. Und schon bahnt sich die große Familientragödie am Horizont an. Was Junior lernen muss: Eine Frau, die alles hat, kann auch alles verlieren und wird sich mit Zähnen und Klauen gegen eben dies zur Wehr setzen. „Im letzten Sommer“ ist natürlich auf Provokation aus. Aber darunter liegt eine Ebene, die den Film, für mich jedenfalls, sehr interessant macht: Nämlich der Umgang mit der Schuld- und Schuldgefühlfrage. Breillat zeichnet das Porträt einer Frau, die andere für ihre Fehler zahlen lässt. Dabei ist sie, hervorragend gespielt von Léa Drucker, gar keine Antagonistin, kein kaltherziges Ekel, sondern eben einfach jemand, der einen gewissen Status und Annehmlichkeiten erworben hat und diese um keinen Preis der Welt aufgeben möchte. Und in gewisser Weise gibt Breillat damit auch einen Kommentar zum Zustand unserer Gesellschaft ab, ob so intendiert oder nicht.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: http://www.imdb.com)

Die Schneegesellschaft (2023)

Regie: J. A. Bayona
Original-Titel: La sociedad de la nieve
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: La sociedad de la nieve


Die Geschichte ist so unglaublich, dass sie nur wahr sein kann: Anfang der 70er Jahre stürzte eine Rugbymannschaft aus Uruguay auf dem Weg nach Chile über den Anden ab. Auf einem Berggipfel im Nirgendwo gestrandet, ohne Aussicht auf Hilfe oder Rettung, gingen die Überlebenden durch unfassbares Leid und standen vor der schwierigen moralischen Entscheidung, die toten Kameraden zu essen, um zu überleben, ehe sie nach über zwei Monaten im Eis wie durch ein Wunder doch noch geborgen wurden. Noch in den 70ern wurde diese Geschichte unter dem Titel „Überleben!“ verfilmt. J. A. Bayona, der sich mit Das Waisenhaus einen Namen gemacht hatte, ehe er ihn mit Jurassic World: Das gefallene Königreich wieder in den Sand setzte, gelingt nun mit der Neuverfilmung dieses Survival-Dramas ein eindrucksvolles und mittlerweile Oscar-nominiertes Comeback im Regiestuhl. Sein Geheimrezept sieht vor, sich nicht auf den reißerischen Aspekt der Geschichte, besagtes moralische Dilemma, zu konzentrieren, sondern die Gemeinschaft in den Vordergrund zu rücken, den Halt, den sich die jungen Männer in dieser Ausnahmesituation geben, und den schieren Überlebenswillen, der aber nicht niedrigste Instinkte zutage fördert, sondern sich immer noch innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens bewegt. Bayona erzählt diese Geschichte dabei in einem visuell mitreißenden, ultrarealistischem Stil und behält somit Distanz zu dem Geschehen, was angesichts der unglaublichen Ereignisse auch geboten ist, um eben nicht zu reißerisch zu werden. Andererseits birgt diese nachvollziehbare Entscheidung auch eine Schwäche: Mit der Distanz der Geschichte bleiben auch die Figuren distanziert, was den Film vor allem zu Beginn stellenweise doch ein wenig zäh werden lässt. Dennoch Hut ab vor Bayonas Regie und der stimmigen Umsetzung einer wundersamen Geschichte, die sich kein Autor jemals so hätte ausdenken können.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: http://www.imdb.com)

Meine Nacht bei Maud (1969)

Regie: Éric Rohmer
Original-Titel: Ma nuit chez Maud
Erscheinungsjahr: 1969
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Ma nuit chez Maud


Ein braver Kirchgänger, 34 Jahre alt, der gerade von einigen Auslandsjahren in die französische Provinz nach Clermont-Ferrand zurückgekommen ist, trifft auf seinen Jugendfreund, der ihn mit einer Freundin bekannt macht: der geschiedenen Ärztin Maud. Da sich draußen schon bald ein Schneetreiben entwickelt und Maud darauf besteht, dass Jean-Louis, der Katholik, bei ihr bleibt, wird dieser schon bald mit einem Zwiespalt konfrontiert, der ihn ihm tobt. Als gläubiger Christ schätzt er nichts höher als das Sakrament der Ehe, und sein Plan ist es auch, sich bald zu verheiraten – am besten in die hübsche Françoise, die er in der Kirche gesehen, die er sich aber noch nicht anzusprechen getraut hat – doch Maud, verführerisch, belesen und auch ein wenig vom Leben desillusioniert, fordert ihn heraus, sich diesem Konflikt zu stellen. „Meine Nacht bei Maud“ war der größte Kinoerfolg von Éric Rohmer, und man kann auch nachvollziehen, was diesen Erfolg gebracht hat. Denn zum einen ist der Film unglaublich gut gespielt, mit Jean-Louis Trintignant und Françoise Fabian, die sich wie in einem intensiven Tennismatch die Bälle zuschießen und zwischen denen es spürbar knistert. Auch Antoine Videz und Marie-Christine Barrault in Nebenrollen spielen sehr überzeugend. Schöne Menschen sind sie zudem alle. Zum anderen verarbeitet der Film, wenn auch in kühl vorgetragenen, sehr abstrakten Diskussionen, den gut nachvollziehbaren Konflikt zwischen Rollen, die uns zugetragen wurden (in diesem Fall jene des gläubigen Kirchgängers), und dem tief liegenden Begehren. Die Moral ist das, was dazwischen liegt. Dass Jean-Louis ausgerechnet Mathematiker ist und sich so die Welt fast formelhaft zurechtlegen möchte, letztlich aber daran scheitert, ist ein hübsches Detail. Kein einfacher Film, sondern einer, bei dem man konzentriert dabeibleiben muss, doch lohnt es sich, diesem intellektuellem Pingpong zuzuhören, regt es doch weitere Gedanken an, ohne allerdings intellektuell komplett zu überfordern. Zurecht einer der 1001 Filme, die man gesehen haben sollte, ehe das Leben vorbei ist.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.tobis.de)