Drama

The End (2024)

Regie: Joshua Oppenheimer
Original-Titel: The End
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Musical, Drama
IMDB-Link: The End


Das Ende kommt am Anfang. Gleich mein zweiter Viennale-Film in diesem Jahr mit dem vielversprechenden Titel „The End“ erweist sich als frühes Highlight dieses Festivals. Regisseur Joshua Oppenheimer ist bislang nur mit Dokumentation („The Act of Killing“) aufgefallen. Sein neuestes Projekt ist ein filmisches Wagnis, das alle Konventionen sprengt: Tilda Swinton, George MacKay und Michael Shannon spielen eine reiche Familie, die sich nach der Apokalypse zusammen mit ihrem Butler, einer Haushälterin und einem Arzt in einen Bunker zurückgezogen hat und dort heile Welt spielt. Sie sind die letzten Überlebenden der Menschheit, die es geschafft hat, sich selbst über den Jordan zu schießen – bis eines Tages eine junge Frau (Moses Ingram) vor ihrer Tür liegt. Nach anfänglicher Irritation nimmt die Familie die junge Frau auf, doch mit dem Eindringen einer fremden Person und deren tragischer Geschichte in ihre kleine Welt beginnen Fassaden zu bröckeln und lange Verdrängtes bahnt sich an die Oberfläche. In dieser Hinsicht lassen sich Parallelen zum ersten Viennale-Film On Becoming a Guinea Fowl entdecken, doch wer in „The End“ auf eine Katharsis wartet, wartet vergebens. Der Witz an der ganzen Sache ist, dass Joshua Oppenheimer die Geschichte von Lug und Selbstbetrug als leichtfüßiges Musical inszeniert, in dem die Protagonistinnen und Protagonisten ihr Seelenleid in Form lieblicher, wenn auch nicht eingängiger Songs zum Besten geben. Diesen Spagat zwischen Endzeitdrama in einem Bunker und Musical muss man erst einmal schaffen. Das Wagnis hätte böse ausgehen können, und die ersten (schiefen) Töne von George MacKay lassen dies vermuten, doch hat der Wahnsinn hier Methode. Wenn der Schmerz zu tief sitzt, um besprochen zu werden, dann singt ihn heraus! Großartig!


8,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

On Becoming a Guinea Fowl (2024)

Regie: Rungano Nyoni
Original-Titel: On Becoming a Guinea Fowl
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: On Becoming A Guinea Fowl


Perlhühner, auf Englisch Guinea Fowls, sind äußerst nützliche Tiere in der Steppe. Wenn sie Raubtiere anmarschieren sehen, geben sie mit lautem Gekreische dem Rest der Tierwelt Bescheid, dass diese doch lieber das Weite suchen soll. Genau eine solche Warnung hätte auch Shula (Susan Chardy) gut gebrauchen können, als sie seltsam gewandet von einer Party nach Hause fahrend in den frühen Morgenstunden ihren Onkel tot auf der Straße liegen sieht. Denn nun gebietet es die Tradition, dass die gesamte Verwandtschaft in Truppenstärke in ihr Haus einfällt, um den Toten angemessen zu betrauern. Die alten Herren halten ein Schwätzchen im Garten und bestellen bei Shula Essen, als wären sie in einem Restaurant, doch das Sagen haben eh die Matriarchen, die sich ausgiebig darüber entsetzen können, dass Shula beispielsweise ein Bad genommen hat – so etwas gehört sich schließlich nicht, wenn man trauert. Und überhaupt: Wo sind die dicken Tränen, wo das herzzerreißende Geschrei? Shula hält nicht viel von diesem Unsinn, war sie Onkel Fred ohnehin nie so richtig zugetan. Warum das so ist, entfaltet sich erst langsam in Rungano Nyonis Tragikomödie, die einerseits das falsche Getue auf Beerdigungen aufs Korn nimmt (und auch wenn manche Riten ungewöhnlich erscheinen, so kommt einem Vieles dennoch von eigenen Familienzusammenkünften ähnlicher Art recht vertraut vor), und andererseits aber eine Geschichte von Verdrängung und tief liegenden Verwundungen erzählt. Man muss sich aber ein wenig hineinarbeiten in dieses Setting und die zurückhaltende und indirekte Erzählweise. Der Film macht es einem trotz gelegentlich absurd-komischer Situationen nicht einfach, entfaltet dafür gegen Ende hin eine Wucht und Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Wenn am Ende die Familien über die Besitztümer des Verstorbenen streiten, wobei eine Seite die andere aufgrund von höherer sozialer Stellung und Reichtum die andere runterputzen und erniedrigen kann, fallen Fassaden zusammen und das Niedrigste im Menschen tritt hervor. Wenn dann der Schrei des Perlhuhns ertönt, hat das eine fast kathartische Wirkung.


7,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Megalopolis (2024)

Regie: Francis Ford Coppola
Original-Titel: Megalopolis
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Science Fiction, Drama
IMDB-Link: Megalopolis


Der legendäre Francis Ford Coppola hat seine besten Arbeiten abgeliefert, wenn er tief in das Herz der Finsternis geblickt hat – sei es in der Pate-Trilogie oder in Apocalypse Now. Diese Meisterwerke überdauern unbestritten Generationen von Filmliebhaber:innen und sind heute noch so relevant wie damals. als sie erschienen sind. Als großes filmisches Vermächtnis schenkt uns Coppola nun mit seinem wohl letzten Film die Utopie einer Stadt, die sich wie Phoenix aus der Asche zu erheben scheint. New Rome, eine Variation von New York (die Anspielungen auf das alte Rom finden sich nicht nur im Namen der Stadt, sondern in allen Details des Films bis hin zum Haarschnitt), ist schier untrennbar in zwei Klassen unterteilt: Die Reichen und Mächtigen schmeißen Partys, die an Orgien erinnern, der Pöbel existiert in den Ruinen der finstersten Gassen. Es droht – analog zum antiken Weltreich – der komplette Zerfall, und Bürgermeister Cicero (Giancarlo Esposito) ist in einem desillusionierten Pragmatismus gefangen, bei dem einzig der Machterhalt im Vordergrund steht. Ihm gegenüber steht das visionäre Genie Cesar Catalina (Adam Driver), ein Architekt mit einer ganz eigenen, traumhaften Vorstellung der Zukunft der Stadt. Mit dieser stößt er vor allem bei Cicero auf Widerstand, denn das Volk brauche nach seinen Vorstellungen keine Träume, sondern reale Lösungen für reale Probleme. Um diesen Konflikt von Vision versus Pragmatismus (mitten drin, die von Nathalie Emmanuel gespielte Tochter des Bürgermeisters, die eine Liebesbeziehung mit dessen Rivalen Cesar eingeht) dreht sich „Megalopolis“, und eines sei vorweg genommen: Es ist von Anfang an klar, welcher Seite Coppola selbst zugeneigt ist. Der Mann, der so tief in die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele geblickt hat, macht der Menschheit mit seinem letzten Film den Vorschlag, miteinander zu träumen und gemeinsam eine bessere Welt zu erschaffen. Das ist schön, das ist lobenswert, allein, es hätte einen besseren Film für diese Botschaft gebraucht. In einer überladenen und wenig überzeugenden Hochglanz-CGI-Welt vergisst Coppola, dass Schauwerte allein nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen. Denn wenn man die Story nüchtern zusammendampft, ist die Suppe schon recht dünn. Und auch Konflikten geht Coppola eher aus dem Weg, als dass er sie auserzählt. So tröpfelt das Geschehen vor sich her, es gibt Leerstellen zu überwinden, die wie ein weißes Papier anmuten, auf denen etwas Bemerkenswertes hätte entstehen können. Man muss vor Coppola den Hut ziehen, der quasi sein ganzes Privatvermögen in dieses letzte filmische Vermächtnis gesteckt hat und den Mut eingegangen ist, seinen eigenen Weg beharrlich zu gehen, doch leider gelingt es ihm nicht wirklich, die Zuseher auf diesem Weg mitzunehmen. So bleibt „Megalopolis“ eine große Absichtserklärung.


4,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Lionsgate/Courtesy of Lionsgate – © 2024 Lionsgate, Quelle: http://www.imdb.com)

A Quiet Place: Tag Eins (2024)

Regie: Michael Sarnoski
Original-Titel: A Quiet Place: Day One
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Horror, Drama, Science Fiction
IMDB-Link: A Quiet Place: Day One


Als gelernter Wiener kann ich dem Konzept der A Quiet Place-Welt einiges abgewinnen. Wer unnötig Lärm macht oder sonst eine Ruhestörung begeht, geht sofort über den Jordan. Man stelle sich mal diese herrliche Ruhe in Straßenbahnen oder Zugabteilen vor! Keine wilde Party morgens um zwei Uhr in der Nachbarswohnung mehr! Wundervoll! Und keine grantigen Audi-Fahrer, die glauben, die Straße gehöre ihnen, was sie mit lautem Hupen kundtun müssen. Was für eine Vorstellung! Insofern muss man den außerirdischen Entitäten mit den großen Lauschern ja fast dankbar sein, dass sie sich unseren Planeten ausgesucht haben, um für Ruhe zu sorgen. Im Grunde sind das lediglich etwas aggressivere Varianten der sudernden alten Wiener Dame, die dem Covid’schen Balkonkonzert des Tenors nebenan mit einem herzlichen „RUHE! RUHE! So schee is des a net!“ den Garaus gemacht hatte. Aber wenn man selbst der Ruhestörer ist, der dann Sekunden später in einer Blutlache liegt, ist das halt auch nur bedingt lustig. Da ist es auch kein Trost, wenn man weiß, dass man ohnehin in wenigen Wochen bis Monaten das Zeitliche gesegnet hat, so wie es der krebskranken Samira (Lupita Nyong’o) ergeht. Als die außerirdischen Musikkritiker also über New York hereinfallen, tut sie erst einmal das, was jeder in der Situation tun würde: Sie versucht zu überleben. Nachdem Ersteres (zumindest vorerst einmal) sichergestellt ist, bekommt sie aber Lust auf Pizza, nämlich in einer ganz bestimmten Pizzeria in Harlem, und so macht sie sich auf den geräuschlosen Weg nach Norden, während der Rest der Stadt (sofern er nicht von Außerirdischen zermantscht wird) nach Süden flüchtet, da das Militär relativ schnell herausgefunden hat, dass die Besucher aus fernen Galaxien zwar außergewöhnlich gut hören, aber nur schlecht schwimmen können, was dazu führt, dass im Süden der Stadt Boote bereitgestellt werden, die die restlichen Überlebenden der Invasion retten sollen. Aber Samira ist eben nicht nach Rettung, sondern nach Pizza zumute. Zusammen mit ihrem tiefenentspannten Kater Frodo (bitte um einen Oscar für den Kater Schnitzel!) zieht sie quer durch die Stadt, im Schlepptau schon bald den ängstlichen Studenten Eric (Joseph Quinn, den man aus der vierten Staffel von „Stranger Things“ kennt). Auf Zehen- (bzw. Pfoten-)spitzen schleicht das ungleiche Trio nun durch die Stadt, dabei versuchend, unvermeidliche Zusammenstöße mit den Außerirdischen zu vermeiden. Besonders originell ist das nicht, und man ahnt schon bald, worauf das alles hinausläuft, aber das Nyong’o, Quinn und Schnitzel groß aufspielen und sich das Drehbuch Zeit nimmt, die zwischenmenschlichen und -kätzischen Beziehungen aufzubauen, folgt man dem lautlosen Geschehen gerne. Überhaupt fühlt sich „A Quiet Place: Tag Eins“ die meiste Zeit über mehr wie ein Drama als wie ein Horrorfilm an – was für mich keinen Nachteil darstellt. Allerdings muss ich einen unfassbaren Logikfehler hervorheben: Es ist absolut unmöglich, dass du eine Katze in eine verlassene Bar setzen kannst, ohne dass sie leere Gläser vom Tresen stößt (und ihnen interessiert nachblickt) oder auf dem Schlagzeug der Band herumläuft! Es scheint, als wäre am Set kein einziger Katzenbesitzer anwesend gewesen.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Gareth Gatrell/Gareth Gatrell – © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved. Quelle: http://www.imdb.com)

Godzilla Minus One (2023)

Regie: Takashi Yamazaki
Original-Titel: Gojira Mainasu Wan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Action, Drama, Science Fiction
IMDB-Link: Gojira Mainasu Wan


Was den Österreichern die volkstümliche Schlagermusik ist, ist den Japanern Godzilla: Seit Jahrzehnten bringen gruselige Kreaturen unermessliches Leid über die Bevölkerung und zerstören die Zivilisation, und doch sind sie Teil des kulturellen Erbes. Im nun 37. Godzilla-Film (US-Produktionen wie die verunglückte Gurke von Roland Emmerich eingerechnet) erfindet Takashi Yamazaki, der für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet, das Rad bzw. die Echse nicht neu, bettet aber seine Zerstörungsorgien in interessante menschliche Dramen ein. In erster Linie geht es um den Kamikaze-Pilot Koichi Shikishima (Ryonusuke Kamiki), der gleich doppelt Schuld auf sich geladen hat: Nachdem er in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs desertiert, findet er kurz darauf nicht den Mut, mit der Bordkanone seines Flugzeugs den die auf einer Nebeninsel stationierten Mechaniker angreifenden Godzilla zu attackieren. Ob es was gebracht hätte, sei dahingestellt, aber so wird jedenfalls mit Ausnahme von Shikishima und des Chefmechanikers Tachibana die ganze Gruppe von der Riesenechse mit dem schlechten Wutmanagement ausgelöscht. Zurück in Tokio stellt Shikishima fest, dass seine Eltern in den Bombenruinen gestorben sind. Zudem nistet sich die junge Noriko samt Kind, das nicht ihres ist, bei ihm ein. Doch findet Shikishima keine Ruhe, und als Godzilla einige Jahre später erneut gesichtet wird und sich auf den Weg nach Tokio macht, muss sich Shikishima erneut seinen Ängsten stellen. „Godzilla Minus One“ ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Zum Einen wäre da eben das fast schon stille Post-Trauma-Bewältigungsdrama rund um Shikishima, auf dem der Fokus in der ersten Hälfte des Films liegt. Zum Anderen ist „Godzilla Minus One“ der erste fremdsprachige Film, der jemals den Oscar für die besten Spezialeffekte einheimsen konnte. Und das durchaus verdient. Zwar bewegt sich Godzilla etwas klobig (das liegt wohl in der Natur der Echse), doch die Inszenierung der Zerstörung wirkt brutal, roh und mitreißend. Ohne ein richtiger Godzilla-Kenner zu sein (neben dem schon genannten Emmerich-Verbrechen kenne ich noch den Ur-Godzilla, die US-Neuinterpretation von Gareth Edwards aus 2014 sowie dessen Nachfolgewerke Godzilla II: King of the Monsters und Godzilla vs. Kong), doch reiht sich „Godzilla Minus One“ hinter dem Gareth Edwards-Film als meine persönliche Nummer 2 unter den Monsterechsenfilmen ein.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

May December (2024)

Regie: Todd Haynes
Original-Titel: May December
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama
IMDB-Link: May December


Wenn die Oscarpreisträgerinnen Julianne Moore und Natalie Portman unter der Regie von Todd Haynes zusammenkommen, kann das durchaus als Pflichtfilm für den Filmkürbis betrachtet werden, war Natalie Portman doch so etwas wie ein Young Adult-Crush und Julianne Moore seit The Big Lebowski und „Boogie Nights“ auch irgendwie. Dass beide Damen zu den großartigsten ihrer Zunft gehören, versteht sich von selbst. Also: Bring ‚em on! Natalie Portman spielt in „May December“ die unnahbare Schauspielerin Elizabeth Berry, die es sich zwecks Recherche im Leben von Gracie gemütlich macht. Deren Leben soll demnächst verfilmt werden mit Berry in der Hauptrolle. Gracie brachte es vor 24 Jahren auf alle Titelseiten, als ihre Affäre mit dem 13jährigen Jo aufflog. Schlimmer noch: Sie wurde von Jo schwanger. Und eben jener Jo von damals ist heute ihr deutlich jüngerer Ehemann, mit dem sie insgesamt drei Kinder hat. Sie scheinen ein glückliches Leben zu führen, doch Berrys Besuch und ihre Fragen bohren alte Wunden auf. Langsam entfaltet sich ein Familiendrama, das durch die berechnend wirkende Schauspielerin noch weiter befeuert wird. Es passiert nicht viel in Todd Haynes‘ Film, doch wenn etwas passiert, entfaltet das Geschehen eine stille emotionale Wucht. Es braucht schon solche Kaliber wie Portman und Moore, um diese unergründlichen Figuren, deren Emotionen und Motive der Zuseher auf eigene Faust enträtseln muss, glaubwürdig auf die Leinwand zu bringen. Doch das eigentliche Zentrum des Films bildet Charles Melton als Jo. Seine Darstellung wirkt zunächst hölzern, fast teilnahmslos, doch begreift man nach und nach, wie viel Kind noch in diesem Jo steckt, wieviel Naivität, die er niemals ablegen konnte. Eine schauspielerische Leistung, die vielleicht vielfach unbeobachtet bleiben wird, deren Studium sich aber lohnt. Eine gute Wahl sind auch die grobkörnigen Bilder, über die Haynes die Schwüle der Südstaaten erlebbar macht. Die Musik übertreibt es manchmal ein wenig mit der Dramatik, aber darüber hinaus gibt es handwerklich am Film nichts auszusetzen. Allerdings muss man sich auf diese Art des Erzählens, die scheinbar nirgendwohin führt, einlassen können. Die eigentliche Geschichte passiert zwischen den Zeilen. Das ist zwar prinzipiell interessant, erfordert aber Geduld und die Bereitschaft, am Ende vielleicht etwas unbefriedigt aus dem Kino zu gehen, wenn lose Enden offen bleiben. In der nächsten Award-Season wird man aber mit Sicherheit öfter auf diesen Film stoßen.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Francois Duhamel / courtesy of Netflix, Quelle: http://www.imdb.com)

Andrea lässt sich scheiden (2024)

Regie: Josef Hader
Original-Titel: Andrea lässt sich scheiden
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama
IMDB-Link: Andrea lässt sich scheiden


„Der Josef Hader ist ein lustiger Mensch. Der macht Kabarett, erzählt Witze, ein richtiger Komiker eben. Doch Hoppla – warum stellt sich da bei seinen Bühnenprogrammen gelegentlich ein solches Unbehagen ein, als würde der Witz gerade auf unsere Kosten gehen, indem wir einen Spiegel vorgehalten bekommen? Darf der das?“ Nun, Josef Hader darf, und er kann. Wer also ins Kino geht, um seinen neuesten Film „Andrea lässt sich scheiden“ zu sehen, und eine lockere, vielleicht leicht schwarzhumorige Komödie erwartet, täuscht sich gewaltig und muss die Erwartungshaltung bald adjustieren. Statt einer Komödie über das lustige Landleben taucht Hader in einer grimmigen Studie menschlicher Emotionen ganz tief ein in die Welt der Ängste und durch Schuld/Scham verursachten Handlungsunfähigkeit. Im Zentrum steht dabei die Landpolizistin Andrea (eine wie immer großartige Birgit Minichmayr), die kurz vor einer Beförderung in die Landeshauptstadt St. Pölten steht, doch nach einem schicksalshaften Abend versehentlich ihren besoffenen Exmann überfährt. Doch statt das Richtige zu tun, flüchtet sie unbeobachtet vom Tatort. Wenig später wird sie zu eben diesem gerufen: Das Auto des Lehrers und abstinenten Alkoholikers Leitner (Josef Hader) liegt im Graben – er ist über den zu diesem Zeitpunkt schon toten Andi gefahren und glaubt nun, wie auch die Polizei, er hätte den Andi auf dem Gewissen. Kommt Andrea also mit ihrer Fahrerflucht durch? Das Interessante an „Andrea lässt sich scheiden“ ist, dass die menschliche Tragödie nicht überhöht wird. Das Leben geht irgendwie weiter, und doch tragen nun zwei Menschen einen großen Rucksack an Schuld mit sich – der sichtlich mitgenommene Leitner durchaus deutlich und für jedermann nachvollziehbar, Andrea hingegen unbemerkt. Es ist nicht schwer, Richtig und Falsch auseinanderzuhalten, doch es kann verdammt schwierig werden, danach zu handeln, wenn das eigene Leben davon betroffen ist. So die Botschaft von Hader, die er in lakonischen Bildern und Dialogen auf die Leinwand bringt. Und wenn der Film auch einige Längen hat, so führt Hader sein hochkarätiges Ensemble (Thomas Schubert, Maria Hofstätter, Thomas Stipsits, Branko Samorovski, Margarethe Tiesel und Robert Stadlober, die alle ihre Momente bekommen, um Eindruck zu hinterlassen) zu einem stimmigen Ende.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Poor Things (2023)

Regie: Giorgos Lanthimos
Original-Titel: Poor Things
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Poor Things


Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos sieht die Dinge ein wenig anders als die meisten anderen Menschen, wie sich schon in vielen seiner Filme wie etwa The Lobster oder The Killing of a Sacred Deer gezeigt hat. The Favourite – Intrigen und Irrsinn mit einer Oscar-prämierten Olivia Colman und den ebenfalls nominierten Rachel Weisz und Emma Stone war da schon seine zugänglichste Arbeit der letzten Jahre. Mit Emma Stone hat er sich (zusammen mit Willem Dafoe, Mark Ruffalo und Ramy Youssef und Kathryn Hunter in tragenden Nebenrollen) erneut zusammengetan, um ihr in einer Art feministischer Frankenstein-Adaption, basierend auf dem gleichnamigem Roman von Alasdair Gray, die Möglichkeit zu geben, ihren zweiten Oscar zu gewinnen, den sie für „The Favourite“ noch verpasst hat. Emma Stone und Giorgos Lanthimos – das passt einfach. Und seltener war ein Oscargewinn für die beste Schauspielleistung verdienter als für Stone in „Poor Things“. Sie spielt sich nicht nur die Seele aus dem Leib, sondern eben jene in den Leib der von einem genialen Chirurgen zusammengeflickte Bella Baxter hinein. Die hat nämlich eine irre Vorgeschichte: Nach einem geglückten Suizid-Versuch wird sie von Dr. Godwin Baxter (ein monströs entstellter Willem Dafoe) gefunden, das das Gehirn ihres ungeborenen Kindes in den Leib der Verstorbenen verpflanzt. Zu Beginn lernen wir das Kind im Körper der Frau kennen, doch die Fortschritte, die sie macht, sind gewaltig, und bald beginnt sie, sich von ihrem Schöpfer zu emanzipieren. Sie brennt mit dem windigen Lebemann und Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo, der auch längst überfällig für den Goldjungen ist) durch und entdeckt auf ihrer Reise nicht nur die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern auch die Freuden des Lebens, ihre Sexualität und auch das Leid, das durch die Ungerechtigkeit der Welt verursacht wird. Bella begegnet diesem allerdings nicht mit dem Zynismus ihrer Mitmenschen, sondern mit dem reinen Herzen der Unschuld. Eine denkwürdige Figur! Und als wäre die Geschichte nicht schon interessant genug, verpackt sie Lanthimos noch dazu in einer fantastischen, märchenhaften Kulisse, die einen staunen lässt. „Poor Things“ ist ein Gesamtkunstwerk, das allerdings gerade durch die Verfremdung greifbar wird. Denn vor diesem Hintergrund der Verfremdung tritt das Universelle der Geschichte und ihrer Figuren hervor. So ist Lanthimos‘ bislang experimentellster Film gleichzeitig sein vielleicht auch zugänglichster.


8,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Jane Eyre (2011)

Regie: Cary Joji Fukunaga
Original-Titel: Jane Eyre
Erscheinungsjahr: 2011
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Jane Eyre


Wenn eine Geschichte 1,5 Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen immer noch Bedeutung genießt und immer wieder neu verfilmt wird, kann man auf jeden Fall von einem zeitlosen Stoff sprechen. Da ist es dann auch egal, wenn die Protagonisten seltsam gewandet auf Pferden reiten und in düsteren Herrenhäusern wohnen. Es liegt also etwas Universelles in Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“, 2011 von Cary Fukunaga mit Mia Wasikowska und Michael Fassbender in den Hauptrollen verfilmt. Das Universelle: Das Streben nach Selbstbestimmung, denn Jane Eyre, die mittellose Waise, die als Gouvernante im Haus des Adeligen Edward Fairfax Rochester zu arbeiten beginnt, hat trotz ihrer Jugend und der harten Zeiten, die sie erlebt hat, immer den Kopf oben und vertritt ihre eigene Meinung. Ebenfalls universell: Die Geheimnisse, die viele Leben umgeben – in diesem Fall ausgedrückt durch mysteriöse Geräusche in der Nacht und das manchmal erratische Verhalten des Hausherren. Auch wenn Fukunaga diese Geheimnisse als spannende Gruselgeschichte einbaut, so lautet dennoch die dahinterliegende Frage: Wie gut kennen wir uns und unsere Gefährten denn wirklich? Wo liegen die finsteren Ecken, in die niemand hineinschauen kann und in die man nicht einmal selbst hineinschauen möchte? Und das vielleicht Universellste überhaupt an Jane Eyre: Die Liebe zwischen zwei Menschen, die zunächst unterschiedlicher nicht sein könnten und doch zueinander finden. Es ist keine Überraschung, dass die Geschichte auch heute noch ihre Fans hat. Fukunaga setzt diese mit viel Liebe für viktorianische Opulenz um, bringt aber einen modernen Anstrich ein, der sich beispielsweise in der Inszenierung der Gruselmomente zeigt. Das bewahrt den Film davor, zu einem routinierten Kostümfest zu verkommen, in dem sich schöne Menschen in schönen Kleidern anschmachten. Allerdings hätte die Inszenierung durchaus noch einen Tick subversiver und gewagter sein dürfen – die Vorlage hätte das hergegeben.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Killers of the Flower Moon (2023)

Regie: Martin Scorsese
Original-Titel: Killers of the Flower Moon
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi, Western, Historienfilm
IMDB-Link: Killers of the Flower Moon


Die 96. Oscarverleihung ist nun schon wieder Geschichte, und der wohl größte Verlierer des Abends war Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“. Zehnmal nominiert ging er am Ende des Tages ohne einzigem Goldglatzkopf nach Hause. Der Film scheint die Meinungen zu spalten. Sehen die einen ein bildgewaltiges Meisterwerk, können sich die anderen kaum die 3,5 Stunden lang wach halten. Als waschechter Österreicher berufe ich mich mal wieder auf die Neutralität und versuche ganz opportunistisch eine Position in der Mitte zu finden. Auf der Plusseite dieses ambitionierten Werks stehen eine durchaus interessante Geschichte rund um die vielfachen Morde an Stammesmitgliedern der Osage, die durch Ölfunde auf ihrem Land zu Reichtum gelangten (wie so oft gelingt es Scorsese, die dunklen, eher verschwiegenen Kapiteln der amerikanischen Geschichte zu Tage zu bringen und aus ihnen eine Art Zustandsbeschreibung der heutigen Welt abzuleiten) sowie eine sehr eigene und einzigartige, fiebrige Atmosphäre, die durch formvollendete Bilder, aber auch einem genial reduzierten Soundtrack von Robbie Robertson getragen wird. Auch der Cast weiß zu überzeugen, wenngleich Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle des gierigen und etwas naiven Handlangers Ernest Burkhart die Mundwinkel etwas zu weit nach unten hängen und er so fast schon eine Karikatur seines Charakters schafft, und ich Lily Gladstones konzentrierte Darstellung zwar mag, aber nicht als so überragend empfinde wie manch andere Kritiker. Dafür zeigt Robert DeNiro, dass er es immer noch kann, wenn er will, und ausnahmslos alle Nebenrollen sind perfekt gecastet. Aber man muss schon auch über das Thema Ambition reden. Diese ist in jeder Einstellung des Films merkbar – Scorsese wollte hier einmal mehr das große amerikanische Epos schaffen. Und so packt er so gut wie alles in den Film hinein, ohne sich darum zu scheren, ob ihm da Publikum dabei folgen kann oder will. So schleppt sich die erste Stunde des Films recht ereignislos dahin, nur getragen von der interessanten Atmosphäre, und man muss schon Geduld beweisen, bis es mal ein wenig zur Sache geht und der Film Fahrt aufnimmt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, zieht das Tempo aber an und Scorsese spielt all seine Stärken aus. Ein Meisterwerk ist der Film daher aufgrund dieses uneinheitlichen Tempos nicht, aber dennoch gehört er mit Sicherheit zu den stärkeren Beiträgen des vergangenen Kinojahrs, der aber vielleicht im Heimkino sogar noch ein Stück besser aufgehoben ist, da bei 3,5 Stunden die Blase dann doch mal ein wenig zu drücken beginnt.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)