2022

The Lost City – Das Geheimnis der verlorenen Stadt (2022)

Regie: Aaron und Adam Nee
Original-Titel: The Lost City
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Abenteuerfilm, Action, Komödie, Rom-Com
IMDB-Link: The Lost City


„The Lost City“ hat alles: Abenteuer. Eine Schatzsuche. Action. Romantik. Exotik. Sandra Bullock. Channing Tatum. Daniel Radcliffe. Und Brad Pitt! Die Abenteuerkomödie von Aaron und Adam Nee wirkt so, als hätten die beiden Regiebrüder Indiana Jones mit den Quartermain-Filmen, Uncharted und den neuen Jumanji-Filmen in einen Mixer geworfen und kräftig durchgerührt in der Hoffnung, dass das Ergebnis noch mal besser als nur die Summe seine Teile ist. Das Problem dabei ist: Habt ihr schon mal versucht, Avocado mit Ananas, Gurke, Karotte, Apfel, Banane und Blattspinat in einen Mixer zu schmeißen? Alle Ingredienzen sind ja ein Genuss für sich, aber in Summe kommt halt eine undefinierbare, braune Suppe heraus, die einfach nach allem und nichts schmeckt. Gut, so hart muss man mit „The Lost City“ nicht unbedingt zu Gericht gehen, denn der Film hat fraglos seine Momente – das komödiantische Timing stimmt häufig. Aber nach durchaus vielversprechendem Beginn (die Entführung einer Bestseller-Autorin durch einen durchgeknallten Milliardär, der sich durch ihre Mithilfe einen sagenumwobenen Schatz krallen will, doch nicht damit rechnet, dass ihr unterbelichtetes Covermodel zu Hilfe eilt) lässt der Film dann auch recht schnell nach. Die Dschungel-Action wirkt beliebig und mit Versatzstücken älterer und besserer Filme garniert, es läuft auf den üblichen Showdown hinaus, den man schon meilenweit voraus riecht, das alles wirkt leider sehr uninspiriert, auch wenn sich Sandra Bullock und Channing Tatum nach Kräften bemühen, das Vehikel zu tragen. Aber da kommen wir zum zweiten großen Problem des Films: Auch das wieder so ein Gurke-Ananas-Ding. Jede/r für sich ist großartig, aber die beiden haben zusammen einfach keine Chemie. Und so bleibt „The Lost City“ ein schales Abenteuer, das zwar einige gelungene Stellen aufweist, aber insgesamt nicht funktionieren will. Eine einmalige Sichtung ist mehr als ausreichend.


3,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Photo Credit: Kimberley French/Kimberley French – © 2021 Paramount Pictures. All rights reserved, Quelle: http://www.imdb.com)

The Lost King (2022)

Regie: Stephen Frears
Original-Titel: The Lost King
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Biopic, Drama, Komödie
IMDB-Link: The Lost King


Das Leben schreibt die besten Geschichten. Da gab es mal so einen buckligen König in England, Richard III., der in der entscheidenden Schlacht vom späteren Tudor-König Heinrich dem Vielten (ich komme immer durcheinander mit den gleich heißenden englischen Königen und ihren Nummerierungen) eins auf die Mütze bekam und dessen Leichnam danach angeblich in den Fluss geworfen wurde. Ein ebenfalls nicht unbekannter Schriftsteller mit dem Namen William Shakespeare (glücklicherweise ohne Nummerierung) brachte dann Aufstieg und Fall von König Richard III. in seinem gleichnamigen Stück auf die Bühne, woraufhin die ganze Welt inklusive dem englischen Königshaus dann der Meinung war: Das war ein böser Bursche, ein Usurpator, lange leben die Tudors! Nur eine schottische Hobby-Historikerin mag nicht so recht an die Geschichte des fiesen Herrschers glauben und auch nicht, dass sein Leichnam unauffindbar verloren ging. So steigert sich Philippa Langley (die großartige Sally Hawkins), verfolgt von einer rätselhaften und gar nicht buckligen Erscheinung des verschollenen Königs selbst, in die Mission hinein, die sterblichen Überreste von Richard III. zu finden. Wie gut, dass der Archäologe Richard Buckley (Mark Addy) gerade von seiner Universität Leicester vor die Tür gesetzt wurde und nun Geld verdienen muss. Mit den Moneten, die Philippa auftreibt, kommt man ja eine Weile über die Runden, und wenn die Dame nun Löcher ins leicester’sche Straßennetz graben will, dann sei es halt so. Doch der Rest ist … Geschichte. Stephen Frears konzentriert sich in seiner Verfilmung dieser irren Story, wie Richard III. nach über 500 Jahren dann doch noch ausgebuddelt wurde, weniger auf die Suche selbst, sondern mehr auf Philippa und ihren Kampf gegen die Männerwelt, die sie belächelt, solange sie noch keine Ergebnisse vorzuweisen hat, dann aber ganz schnell ganz vorne steht, wenn die Lorbeeren verteilt werden. Und das ist durchaus ein löblicher Aspekt, der hier beleuchtet wird. Allerdings leidet der Spannungsaufbau der Geschichte darunter, denn mindestens ebenso interessant wäre ein tieferer Einblick in Philippas Recherchen gewesen, die aber mittels ein paar angedeuteter Videocalls mit anderen Historiker:innen und dem Kauf einiger Bücher zu Richards Leben abgetan werden. Und das ist schade. Auch bin ich nicht davon überzeugt, dass Philippas Zwiesprache mit der Erscheinung des Königs einen echten Mehrwert stiften, auch wenn dieser sympathisch von Harry Lloyd dargestellt wird. So schrullig hätte Hawkins als Philippa Langley aber gar nicht sein müssen, das war dann doch ein wenig zu viel des Guten.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Good Boy (2022)

Regie: Viljar Bøe
Original-Titel: Good Boy
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Thriller, Horror, Komödie
IMDB-Link: Good Boy


Er, Christian, ist gutaussehend, charmant, reich und hat Manieren. Sie, Sigrid, ist aufgeweckt, ein wenig verpeilt, herzlich, und bereit, sich in Christian, ihr Tinder-Date, zu verlieben. Wäre da nicht eine kleine Komplikation, nämlich Christians Haustier. Christian tut sich recht schwer, die Rasse seines Hundes Frank zu bestimmen, steckt da doch ein Mensch im Hundekostüm drinnen. Doch Liebe überwindet alle Hürden, und wer ist Sigrid schon, sich über die Fetische anderer Leute zu mokieren? „Good Boy“ von Viljar Bøe ist ein schwarzhumoriger, hundsgemeiner Film – eine groteske Lovestory wie auch ein abgründiger Thriller gleichermaßen. Solche originellen Absurditäten findet man eben beim Slash Filmfestival in Wien, das Perlen des Genrekinos zwischen Horror, Fantasy und Science Fiction zeigt. Das Slash Festival geht dorthin, wo einem das Lachen im Hals steckenbleibt, wenn sich Falltüren öffnen, wo man sie nicht erwartet hat. Dass dieses wunderbare kleine Festival von sehr entspannten Leuten organisiert und ebenso entspanntem Publikum besucht wird, ist noch mal ein Grund mehr, sich den einen oder anderen Film des Festivals zu gönnen. Aber zurück zu „Good Boy“, meinem Auftakt zu insgesamt fünf Filmen, die ich im Rahmen des Slash Festivals sehen möchte. Hätte Viljar Bøe ein stimmigeres Ende für seinen kleinen, fiesen Film gefunden, das nicht komplett im Chaos von Logiklöchern (in diesem Fall: völlig irrationalem Verhalten der Figuren) versinkt, so hätte das ein Überraschungs-Hit des Jahres für mich werden können, so unterhaltsam, wie der Film in seiner ersten Stunde exekutiert ist. Doch am Ende geht Bøe den einfachen Weg, den man von einem schwarzhumorigen Horrorthriller mit Figuren, die im Anblick der Gefahr sämtliche graue Zellen abschalten, eben erwartet. Und das ist dann angesichts der großartigen ersten Stunde schon ein wenig schade.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: © Saban Films, Quelle http://www.imdb.com)

Meine Stunden mit Leo (2022)

Regie: Sophie Hyde
Original-Titel: Good Luck to You, Leo Grande
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Komödie, Drama
IMDB-Link: Good Luck to You, Leo Grande


Eine ältere Frau. Ein junger, knackiger Mann. Ein Hotelzimmer. Wenn das nicht „Porno!“ schreit? Aber keine Sorge, unter der Regie von Sophie Hyde entfaltet sich in „Meine Stunden mit Leo“ ein herzliches, emotional intelligentes Kammerstück über die Liebe, Begehren und vor allem Akzeptanz. Denn die pensionierte Religionslehrerin Nancy ist nur vordergründig an Sex interessiert. Sie hatte in ihrem Leben, das sie ausschließlich mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann geteilt hat, noch nie einen Orgasmus, und sie ist fest entschlossen, diesen „Makel“ zu beheben. Der attraktive Callboy Leo soll ihr dabei helfen. Doch Leo durchschaut schon sehr bald, dass sich hinter dieser offensichtlichen Begierde etwas anderes, Tieferes verbirgt: Nancy kennt sich selbst nicht, fühlt sich verloren zwischen den Rollen, die sie ihr ganzes Leben über gespielt hat. Kann ihr der charmante, aber gleichzeitig unverbindliche und als Person kaum zu fassende Leo dabei helfen, sich selbst kennenzulernen? Es braucht schon eine Meisterin des Fachs wie Emma Thompson, um eine solch komplexe und gleichzeitig verletzliche Figur glaubhaft spielen zu können. Und zusätzlich braucht es jede Menge Mut, um sich körperlich wie seelisch dermaßen zu entblößen wie Thompson in diesem Film. Doch selbst das reicht noch nicht aus, um aus der schwierigen Prämisse und dem starren Rahmen (die Handlung spielt sich fast ausschließlich innerhalb der vier Wände des Hotelzimmers ab) einen gelungenen Film zu machen. Es braucht auch noch einen ebenbürtigen Gegenpart zu Nancy. Daryl McCormack als Leo meistert diese große Hürde mit Bravour. Das gelungene Zusammenspiel von Thompson und McCormack schafft erst den Raum für die Geschichte und die Verbundenheit der Zuseher mit den Figuren. Was ein schwieriger, weil schlüpfriger Sexfilm hätte werden können, wird so zu einem Striptease der anderen Art: Nämlich jenem der Seelen. Und das finde ich deutlich aufregender und interessanter als jegliche Fleischbeschau.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Sachertorte (2022)

Regie: Tine Rogoll
Original-Titel: Sachertorte
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Rom-Com
IMDB-Link: Sachertorte


Wenn eine deutsch-österreichische Rom-Com nach einem picksüßen Schokokuchen benannt ist, weckt das gewisse Erwartungen von wegen „schwer verdaulich“. Und wenn dieser Film dann auch noch hemmungslos Richard Linklaters Romantikträumer-Klassiker „Before Sunrise“ zitiert, fragt man sich schon zu Beginn: Bin ich hier im richtigen Film? Dann erklingt aber Wandas „Bussi Baby“, und schon ist die Stimmung gleich viel beschwingter und man selbst geneigt, das nun Kommende vorurteilsfrei aufzunehmen. Und das ist gut. Denn „Sachertorte“, das Regiedebüt von Tine Rogoll, ist wider des süßen Titels eine leichtfüßige, charmante Komödie mit wahnsinnig viel Lokalkolorit, die nicht nur beim Soundtrack fast immer den richtigen Ton trifft. Es geht um eine Zufallsbekanntschaft in Berlin: Der Quizshowfragenersteller Karl (Max Hubacher) trifft auf die Wienerin Nini (Michaela Saba), die nur noch einen letzten Vormittag in der Stadt hat. Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden verbringen schöne gemeinsame Stunden, der Funke springt über. Doch leider verliert Karl Ninis Nummer, und da er von ihr nichts weiß, außer dass sie jedes Jahr zu ihrem Geburtstag um Punkt 15 Uhr im weltberühmten Café Sacher eine Sachertorte isst, reist er, der verpeilte Romantiker, ihr kurzerhand nach, um fortan jeden Tag im Sacher auf sie zu warten. Während er wartet, macht er einige Bekanntschaften, zum Beispiel mit dem Kaffeehauspersonal (Ruth Brauer-Kvam und der für komödiantische Momente sorgende Karl Fischer als Oberkellner Schwartz), seinen etwas seltsamen, aber liebenswerten WG-Kollegen, der Dirigentenwitwe und Grand Dame Fanny Sawallisch (charismatisch: Krista Stadler) und der Kaffeehausbesitzerin und Konditorin Miriam (Maeve Metelka, die Tochter von Nicholas Ofczarek, also mit hervorragenden Schauspielgenen ausgestattet). Und je länger Karl auf Nini wartet, desto größer werden die Zweifel, ob er sich hier nicht einfach verrannt hat. Klar, die Geschichte ist angelegt wie eine typische Rom-Com, und der versierte Zuseher riecht den Braten bzw. in diesem Fall die Macarons schon kilometerweit gegen den Wind. Allerdings punktet der Film durch eine gut gelaunt aufspielenden Besetzung mit toller Chemie, sympathischen Figuren und jede Menge Wiener Charme. Ich kenne sonst keinen Film, in dem die Hauptdarstellerin ein ehrlich gemeintes „Schleicht’s eich, es Beidln!“ granteln darf, der nicht von Ulrich Seidl ist. Das unrealistischste am ganzen Film ist, dass einer über 100 Tage lang jeden Tag ein Stück Sachertorte mit Schlag essen kann und dann nicht so aussieht wie ich. Darüber hinaus ist „Sachertorte“ ein zwar zuckersüßer, aber auch leichtfüßiger, liebenswerter Film und eine positive Überraschung.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von FELIX VRATNY – © FELIX VRATNY, Quelle http://www.imdb.com)

All the Beauty and the Bloodshed (2022)

Regie: Laura Poitras
Original-Titel: All the Beauty and the Bloodshed
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: All the Beauty and the Bloodshed


Über Nan Goldin, die mit ihren Fotografien in den berühmtesten Kunstmuseen der Welt, darunter die Tate Modern Gallery, das Metropolitan Museum, das Guggenheim Museum oder der Louvre in Paris, ausgestellt wird, wusste ich vor Laura Poitras Porträt recht wenig, was eine Umschreibung für „nichts“ ist. Allein schon aus diesem Grund ist die Sichtung von „All the Beauty and the Bloodshed“ eine durchaus erhellende Sache, kommt man doch einer faszinierenden Künstlerseele näher. Allein schon das Eintauchen in ihre bunte, sehr bewegte Biographie (mit von ihr selbst schonungslos offen gelegten Tiefen, aber auch den Höhen), die sich hauptsächlich in wilden New Yorker LBGTQ-Kreisen bewegt, unterhält und bewegt den Zuseher über die volle Filmlänge. Doch Laura Poitras gibt sich nicht damit zufrieden, ein einfühlsames Künstlerporträt zu zeigen, so wie sich Nan Goldin auch nicht damit zufrieden gibt, ihre Fotos zu schießen und auszustellen. Beide Frauen haben weitere Antriebe, sie wollen ein Stachel im Fleisch sein – Nan Goldin in jenem der Familie Sackler, bedeutende Kunstmäzene, nach denen ganze Flügel in den größten Museen der Welt benannt wurden, und Laura Poitras in unserem, jenem der Zuseher, die sich mit Abschweifungen und Foto-Collagen konfrontiert sehen, die zuweilen gegen die üblichen Sehgewohnheiten gehen. Aber was hat es nun mit dem Grant der rüstigen Dame gegen die Familie Sackler auf sich? Nun, die Sacklers beziehen ihren unermesslichen Reichtum, der sie Kunstschätze aus aller Welt anhäufen ließ, durch ihre Pharmakonzerne. Diese wiederum sind unter anderem für die Einführung von Valium verantwortlich (ein durchaus einträgliches Geschäft), aber auch für die Opioid-Krise in den USA, da deren Schmerzmittel, das die Ärzte dort wie Hustenbonbons verschreiben, hochgradig süchtig macht und oft als Einstiegsdroge für die dann ganz harten Sachen dient. Nan Goldin war eine der vielen Abhängigen, sie spricht also aus Erfahrung und hat somit mit der Familie Sackler auch eine persönliche Rechnung offen. In die Künstlerbiographie ist also auch geschickt der Kampf von Nan Goldin gegen die übermächtige Familie Sackler eingewoben, und nach und nach begreift man, dass Werk, Künstlerin und Frau zu einem großen Ganzen verschmelzen – dass das künstlerische Werk Ausdruck eines inneren Antriebs ist, Ausdruck eines Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Einschränkungen und die Allmacht der herrschenden Klasse. So formt sich über Werk und Wirken das Bild einer schillernden Persönlichkeit, die mit ihrer Courage, ihrem Gerechtigkeitssinn und einer schonungslosen Ehrlichkeit auch gegenüber sich selbst für viele als Vorbild dienen kann. Der Film, der sie porträtiert, mag zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig wirken, entwickelt aber mit der Zeit einen unwiderstehlichen Sog, der der großartigen Nan Goldin gerecht wird.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Tár (2022)

Regie: Todd Field
Original-Titel: Tár
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Musikfilm
IMDB-Link: Tár


Lydia Tár ist ein Superstar der Klassikszene. Die stets eloquente wie elegante Dirigentin leitet als einzige Frau weltweit ein renommiertes Philharmoniker-Orchester, nämlich in Berlin. Dazu unterrichtet sie auf Hochschulen, gibt gefeierte Interviews auf großen Bühnen und bringt auch noch ein neues Buch heraus, in dem sie ihre Sicht auf Musik teilt. Privat ist sie mit ihrer ersten Violinistin verheiratet, mit der sie auch eine Tochter hat. Alles fein also, wären da nicht seltsame E-Mails, die ihre sichtlich verunsicherte Assistentin von einem ehemaligen Orchestermitglied empfängt. Lydia Tár hat für derartige Belanglosigkeiten jedoch keine Zeit und keinen Nerv, sie hat Wichtigeres vor, nämlich Mahlers 5. Symphonie neu einzuspielen. Und darüber hinaus eine junge, knackige Cellistin zu protegieren, die neu ins Orchester gekommen ist. Doch dann entwickeln sich die Dinge allmählich so, dass Tár die Kontrolle darüber verliert. Plötzlich wird sie von einem selbst verursachten Strudel in Richtung Abgrund gezogen. „Tár“ von Todd Field ist ein intelligentes und perfides Stück Kino und eine weitere Meisterleistung von Cate Blanchett in der Hauptrolle. Ihre Lydia Tár ist eine Frau, die sich mit Ellbogen nach oben kämpfen musste und die Bodenhaftung verloren hat. Der große Erfolg verleitet sie zur Annahme, einen unsichtbaren Schutzschild zu besitzen, an dem alles abprallt, wie man es so oft bei Menschen sieht, die über lange Jahre in Machtpositionen sitzen. Erinnerungen an Harvey Weinstein und andere tief Gefallene werden wach. Perfid ist „Tár“, weil er den Machtmissbrauch dem für gewöhnlich in solchen Situationen Machtloseren umhängt und gerade dadurch ein grelles Licht darauf wirft. Streng durchkomponiert wie ein Stück klassischer Musik seziert Todd Field in seinem Film diese Machtgefälle in der Kunst (natürlich auch auf alle anderen Bereiche übertragbar) und verfremdet seine Beobachtungen mit leicht surrealen Momenten der Bedrohung, die das Innenleben der Protagonistin sichtbar machen. Um so einen Film zu tragen, braucht es schon ein Kaliber wie Cate Blanchett, die einmal mehr zeigt, warum sie als eine der besten Schauspielerinnen ihrer Zeit gehandelt wird. In allen Belangen ist „Tár“ ganz große Kunst.


8,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Everything Everywhere All at Once (2022)

Regie: Dan Kwan und Daniel Scheinert
Original-Titel: Everything Everywhere All at Once
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Komödie, Fantasy, Science Fiction, Drama
IMDB-Link: Everything Everywhere All at Once


Diesen Durchmarsch hätten im Vorfeld wohl nicht viele erwartet. Aber am Ende der Oscarnacht 2023 standen 7 Goldmännchen für „Everything Everywhere All at Once“ zu Buche: Für die beste Hauptdarstellerin (Michelle Yeoh, sehr verdient), den besten Nebendarsteller (Ke Huan Quan mit einem eindrucksvollen Schauspiel-Comeback), die beste Nebendarstellerin (Jamie Lee Curtis, die den Oscar, bei allem Respekt vor ihrer kleinen, aber feinen Rolle, wohl auch für ihr Lebenswerk zugestanden bekommen hat), für das beste Drehbuch, den besten Schnitt, die beste Regie (die Daniels, die mich schon mit ihrem Vorgängerwerk „Swiss Army Man“ begeistert haben) und nicht zuletzt für den besten Film. Andere Kaliber wie Spielbergs The Fabelmans oder das herausragende The Banshees of Inisherin mussten sich geschlagen geben. Doch ist der Hype nun gerechtfertigt? Wie so oft im Leben ist die Antwort weder ein klares Ja noch ein klares Nein. Jein halt, die Lieblingshaltung der diplomatischen (man könnte auch sagen: opportunistischen) Österreicher. Denn während der Film einerseits volle Punktzahl für Originalität und die stilistisch atemberaubende Umsetzung seiner Idee verdient, hat er dennoch auch seine Längen und Problemzonen. (Und damit meine ich nicht Jamie Lee Curtis‘ Hüftspeck.) Zu Beginn wird man als Zuseher ins kalte Wasser geworfen, und es dauert eine Weile, bis man sich in der Geschichte zurechtfindet. Doch ist man dann an diesem Punkt angelangt, zeigt der Film auch unnötige Längen. Über den Inhalt darf man eigentlich nicht zu viel verraten, um den Spaß nicht zu verderben, nur soviel: Michelle Yeoh als überforderte Wäschereibesitzerin stellt fest, dass nicht nur eloquente Zauberkünstler mit rotem Umhang durch Multiversen reisen können. „Everything Everywhere All at Once“ ist dem (intelligenten) Fantasy- bzw. Science Fiction-Genre zuzuordnen. Umso überraschender kam der Oscar-Regen, da die Academy bei Genrefilmen für gewöhnlich eher die Nase rümpft. Diese bedingungslose Detailarbeit, mit der die Daniels ihr Multiversum umsetzen, während sie zusätzlich auch noch eine herzergreifende Familiengeschichte einbauen, beeindruckt allerdings und ist aller Ehren wert. Dies lässt den Preisregen durchaus nachvollziehen. Für einen perfekten Film hätte man das Geschehen allerdings noch etwas straffen und den Zuseher von Beginn an mehr an die Hand nehmen können. Anstrengend ist das alles nämlich schon. Das größte Mysterium rund um den Film erzeugen aber nicht die Daniels, sondern Michelle Yeoh. Wie kann es sein, dass die schon über 60 ist? Die Frau hat Gene!


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Allyson Riggs, Quelle http://www.imdb.com)

Nawalny (2022)

Regie: Daniel Roher
Original-Titel: Navalny
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Navalny


Alexei Nawalny ist kein Heiliger, wie seine bisherige politische Karriere und die Leute, mit denen er mitmarschiert ist, beweisen. Vielmehr ist er ein mit allen Wassern gewaschener Politiker, der immerhin ein hehres Ziel verfolgt: Russland von Korruption zu befreien und wieder zu demokratischen Werten zu führen. Nur ein winziges Problem stellt sich ihm dabei in den Weg: Vladimir Putin. Den Namen mag man schon mal gehört haben. Das ist der Typ mit dem Minderwertigkeitskomplex und der KGB-Vergangenheit, der der Meinung ist, dass die Ukraine zu einem großrussischen Reich gehört und den Ukrainern dies gerade mit zweifelhaften Methoden erklären möchte. Und dieser Möchtegern-Stalin verfügt dank seiner Macht über jede Menge Leute, die sich für ihn die Finger schmutzig machen. Und so findet sich Alexei Nawalny 2020 nach einer Veranstaltung in Sibirien plötzlich nicht im heimatlichen Moskau wieder, sondern nach Notlandung seines Flugzeugs mit Vergiftungserscheinungen in einem Krankenhaus. Dort springt er dem Tod gleich zum zweiten Mal in Folge von der Schippe, da sich die Ärzte wenig interessiert daran zeigen, ihn wieder zu heilen. Das müssen dann schon die Deutschen machen, die ihn ins Berliner Charité einfliegen lassen. Wieder bei Kräften, begibt sich Nawalny mit Unterstützung eines investigativen Recherchenetzwerks auf die Suche nach seinen Attentätern. Und wird fündig. „Nawalny“, dieses Jahr mit einem Oscar für die beste Dokumentation ausgezeichnet, beginnt relativ unspektakulär und dröge, und auch das Setting, Nawalny in einer Bar von sich erzählen zu lassen, steigert das Interesse zunächst nicht ins Unermessliche. Doch spätestens, wenn auf den Giftanschlag und die Folgen davon eingegangen wird, entspinnt sich ein spannender Krimi, der sich mehr und mehr steigert, gut getragen auch von Nawalnys beiläufigen sarkastischen Kommentaren. Man glaubt kaum seinen eigenen Augen und Ohren, wenn dann Nawalny und sein Team genüsslich die Hintergründe des Verbrechens aufdecken und die Attentäter auch noch am Nasenring durch die Arena zerren. Das ist wortwörtlich großes Kino.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Boston Strangler (2023)

Regie: Matt Ruskin
Original-Titel: Boston Strangler
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Boston Strangler


In den 60er Jahren ermordete ein Unbekannter in Boston 13 Frauen durch Strangulieren. Wenig überraschend bezeichneten die Medien den Mörder als „Boston Strangler“. Schon eher überraschend ist die Tatsache, dass sowohl die Bezeichnung als auch die Berichterstattung auf zwei weibliche Journalistinnen zurückgeht, die einfach die Schnauze voll davon hatten, Produkttests von Toastern in ihrer Zeitung zu veröffentlichen. Die Ermittlungen rund um den Serienkiller markierten den Beginn des Ruhms der beiden Investigativjournalistinnen Loretta McLaughlin und Jean Cole, verkörpert von Keira Knightley und Carrie Coon. Sie haben es natürlich nicht leicht, stoßen sie doch nicht nur auf alltäglichen Sexismus und Rollenklischees, sondern auch auf wenig kooperative Ermittler bei der Polizei. Einzig Detective Conley (Alessandro Nivola) erweist sich als Hilfe, doch ist der Fall schwerer zu knacken als eine Walnuss mit Wattestäbchen. „Boston Strangler“ fokussiert trotz seines reißerischen Titels auf die Ermittlungsarbeit der beiden Journalistinnen und degradiert die Verdächtigen und mutmaßlichen Täter zu Randfiguren. Das ist schon okay so – nichts gegen ordentlich gemachte Journalistenarbeit, die auch sehr spannend sein kann, wie das jüngste Beispiel She Said beweist. Doch anders als der schlau inszenierte Thriller rund um den Weinstein-Skandal plätschert „Boston Strangler“ leider etwas unmotiviert und langsam vor sich hin. Ein wenig mehr Tempo hätte dem Film gut getan. Einzelne bedrohliche Szenarien bauen nur kurz Spannung auf, die dann nicht gehalten werden kann. So ist „Boston Strangler“ zwar kein schlechter Film, aber kaum einer, der lange im Gedächtnis bleiben wird.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: © 2022 Universal Studios and Amblin Entertainment, Quelle http://www.imdb.com)