Liebesfilm

Anora (2024)

Regie: Sean Baker
Original-Titel: Anora
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Liebesfilm, Komödie
IMDB-Link: Anora


Dass ich den Cannes-Gewinner „Anora“ krankheitsbedingt auf der Viennale verpasst habe, war schon Pech, bin ich doch großer Fan von Sean Bakers bisherigen Arbeiten. Ich hatte schon das Gefühl, dass mir da ein Film des Jahres durch die Lappen ging. Aber glücklicherweise mahlen die Mühlen in Österreich bekanntermaßen langsam, und so kann man sich auch zwei Monate nach Ende der Viennale und ein halbes Jahr nach dem Cannes-Sieg in einen gut gefüllten Kinosaal setzen, um den bisherigen Höhepunkt des Baker’schen Schaffens zu sichten. „Anora“ beginnt als klassische Cinderella-Geschichte: Die Erotiktänzerin Anora, die nur Ani genannt werden möchte, lernt im Club den russischen Milliardärsohn Wanja kennen. Es wird Party gemacht, getanzt, gevögelt, und es kommt, was kommen muss: Der infantile, aber humorvolle und gutherzige Wanja verfällt der lebenslustigen Ani, was in einem spontanen Hochzeitsantrag in Las Vegas mündet, und wenn man schon mal da ist, können diesem Antrag auch gleich Taten folgen. Das Problem ist allerdings: Wanjas Eltern in Russland sind nicht unbedingt glücklich darüber, dass die Ehe ihres Sohns mit einer Sexarbeiterin in Russlands Klatschmagazinen auftaucht und schicken daher ihre Schergen, um die Sache geradezubiegen. Was als erotisch aufgeladene Liebesgeschichte beginnt, wechselt bald zu einem Krimi mit Screwball-Elementen, aber Baker wäre nicht Baker, wenn er es bei der leichten Unterhaltung belassen würde. Baker ist ein Humanist mit einem großen Herzen für die Figuren am Rand der Gesellschaft, denen nicht alles in den Schoß fällt. Gleichzeitig hat er aber auch einen ehrlichen, ungeschönten Blick auf die Verhältnisse und führt daher seine Geschichten zu einem konsequenten Ende. „Anora“ vereint alle Vorzüge seines bisherigen Schaffens und fügt diesen noch einmal neue Facetten hinzu. Lustiger und tragischer war noch keiner seiner Filme. Und auch wenn Baker bislang ein fantastisches Händchen für Casting gezeigt hat, ist die Besetzung von Mikey Madison als Titelheldin ebenfalls sein bisheriges Glanzstück. Madison spielt ihre Figur mit einer Hingabe und Energie, die lange im Gedächtnis bleibt. Doch auch Juri Borissow in der denkwürdigsten vieler denkwürdigen Nebenrollen verleiht seinem Handlanger Igor eine Tiefe und menschliche Größe, die man in vielen Filmen vergeblich sucht. Das ist überragend geschrieben und kongenial gespielt. Kein Wunder, dass sowohl Madison als auch Borissow für ihre Leistungen für einen Golden Globe nominiert wurden, eben Sean Baker für Film, Regie und Drehbuch selbst. „Anora“ ist ein ganz großer Wurf, der alle Facetten der cineastischen Emotionen abdeckt, extrem gut unterhält und dabei auch noch lange nachwirkt. Er wäre wohl mein Film des Jahres 2024 geworden. So wird er halt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mein Film des Jahres 2025.


9,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Neon – © Neo, Quelle: http://www.imdb.com)

Challengers – Rivalen (2024)

Regie: Luca Guadagnino
Original-Titel: Challengers
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Liebesfilm, Sportfilm
IMDB-Link: Challengers


Im Finale eines kleineren Turniers der Challengers-Turnierreihe (im Tennis sozusagen die zweite Liga unter der ATP-Tour) treffen Patrick Zweig (Josh O’Connor) und Art Donaldson (Mike Faist) aufeinander – unter den interessierten Blicken des ehemaligen Wundertalents Tashi Duncan (Zendaya), die durch eine böse Knieverletzung früh in der Karriere ausgebremst wurde. Die drei verbindet eine lange Geschichte miteinander. Patrick und Art waren früher beste Freunde, haben ihre erste großen Erfolge gemeinsam im Doppel gefeiert – und das nicht nur auf dem Tennisplatz, sondern auch an einem denkwürdigen Abend mit Tashi. Nachdem die sich zunächst für den charismatischeren Patrick entschieden hat, wurde sie später mit dem solideren und fokussierten Art sesshaft, der in Folge auch eine erfolgreiche Tenniskarriere hinlegte, während Patrick, immer wieder an sich selbst scheiternd, in den Niederungen der kleineren Turniere hängenblieb, wo man mangels vernünftiger Preisgelder auch mal im Auto auf dem Parkplatz vor dem Tennisplatz übernachten muss. Doch befindet sich Art zum Zeitpunkt dieses großen Aufeinandertreffens in einer Formkrise. Am letzten großen Ziel, der Gewinn der US Open, droht er zu scheitern, weshalb Tashi, mittlerweile seine Frau und Trainerin, zwecks Formaufbau die Teilnahme an diesem kleineren Challengers-Turnier vorschlägt. Im Zuge des neuerlichen Aufeinandertreffens der einstigen Freunde und nunmehrigen Rivalen werden die Erinnerungen an die turbulenten Ereignisse der vergangenen zwölf Jahre wieder nach oben gespült und verleihen dieser Begegnung besondere Brisanz. In Rückblenden erzählt Luca Guadagnino in von ihm gewohnt stylischen Bildern die komplizierte Gefühlshistorie dieses Dreiecks. Wenn Sportler:innen ihren unbedingten Siegeswillen ins Liebesleben einbringen, wird es eben schnell mal kompliziert. Diesen Aspekt beleuchtet Guadagnino sehr kunstvoll. Auch die Sportszenen selbst lassen nichts zu wünschen übrig. Es ist schlicht spektakulär anzusehen, wenn man als Zuseher plötzlich die Perspektive des Balls einnimmt und von verschwitzten Rivalen mit jedem Schlag grimmiger übers Netz gedroschen wird. Die Schauwerte des Films überzeugen also. Auch die Darstellerriege liefert in hoher Qualität ab. Zendaya fungiert hierbei als Zugpferd für diesen Film, doch bleibt sie schauspielerisch sogar fast zurück hinter Josh O’Connor und Mike Faist, die ihre Charaktere mit authentischem und nuancierten Spiel enorme Glaubwürdigkeit verleihen und den Herzschlag des Films bestimmen. Allerdings können Dramaturgie und Spannungsbogen mit den Schauwerten nicht ganz mithalten. Für die doch recht einfach strukturierte Geschichte fühlt sich der Film insgesamt zu lang an. Guadagnino nimmt sich viel Zeit für seine Charaktere, was prinzipiell löblich ist, doch nicht jeder Ausflug in deren Vergangenheit erweist sich als gewinnbringend für die Zuseher. Und so gibt es immer wieder zähe Passagen, die den Film und seine Figuren nicht so recht voranbringen. Das drückt letzten Endes die Bewertung auf solide, aber ausbaufähige 6 Kürbisse.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Metro Goldwyn Mayer Pictures – © 2023 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved, Quelle: http://www.imdb.com)

Queer (2024)

Regie: Luca Guadagnino
Original-Titel: Queer
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Drama, Roadmovie, Biopic
IMDB-Link: Queer


Da ist er nun, der Überraschungsfilm der Viennale 2024. Wie Eva Sangiorgi in ihrer kurzen Ansprache vor Beginn der Vorführung erklärte, wäre der Film ohnehin als Fixpunkt im Programm gelaufen, hätte man nur rechtzeitig einen Verleih dafür gefunden. Nachdem sich dieser Prozess aber ein wenig hinzog, musste man ausweichen und dem neugierigen Publikum Guadagninos neuestes Werk mit Daniel Craig in der Hauptrolle eben als Überraschungsfilm präsentieren. Auf der einen Seite erscheint diese Vorgehensweise durchaus mutig, denn der Film nach einer literarischen Vorlage von William S. Burroughs gehört sicherlich zu jenen, die die Gemüter spalten. Andererseits: Wann kann man schon einen Guadagnino-Film als Überraschungsfilm präsentieren? Der Italiener ist so etwas wie der große internationale Aufsteiger der letzten zehn Jahre mit Filmen wie Call Me by Your Name oder Suspiria. Er gehört zu jenen Regisseuren, deren Stil man sofort wiedererkennt, da er eine ganz eigene, sinnliche Bildsprache pflegt und auch musikalisch immer wieder spannende Pfade betritt. „Queer“ bildet diesbezüglich keine Ausnahme – im Gegenteil. Der Film ist atmosphärisch enorm dicht. Die Story hingegen – und da sind wir bei dem Aspekt, der wohl die Geister voneinander scheiden wird – bleibt dünn. In seinem autobiographischen Roman erzählt William S. Burroughs von seinem Alter Ego, das in Schwulenbars in Mexico City abhängt und sich unsterblich in einen Jüngeren (Drew Starkey) verliebt, mit dem er sich schließlich auf einen Roadtrip nach Südamerika aufmacht, um dort nach der legendären Yage-Pflanze zu suchen, nach dessen Einnahme man angeblich Gedanken lesen kann. William Lee, mit vollem Einsatz von Daniel Craig gespielt, der die wohl beste und jedenfalls mutigste Leistung seiner Karriere abliefert, ist ein Suchender, doch scheint er manchmal selbst nicht zu wissen, was er sucht. Gefangen zwischen Lust und dem aufrichtigen Wunsch nach Liebe ist er ein Mensch, der niemals anzukommen scheint, ganz gleich, wohin es ihn verschlägt. Prinzipiell sieht man ihm bei seiner Reise ins Nirgendwo auch gerne zu, dafür sorgt allein schon die schon angesprochene dichte Atmosphäre. Und doch hat der Film ein Problem mit dem Pacing. Zieht sich der erste der drei Teile recht zäh hin, wird Teil zwei beinahe nebenbei rasch abgehandelt, ehe der Film in Teil drei, die Suche nach der Yage-Pflanze, ins Groteske driftet. Alle drei Teile fühlen sich auf ihre Weise wie eigene Filme an, die nur schwer zueinanderfinden. So fällt es am Ende auch schwer, eine emotionale Bindung zur Figur des William Lee aufzubauen, auch wenn sich Daniel Craig eben die Seele aus dem Leib spielt. „Queer“ ist ein Kunstwerk, eine ästhetische und intellektuelle Übung, der trotz aller Bemühungen (oder vielleicht auch gerade deshalb) ein wenig die emotionale Mitte fehlt. Ein Wagnis mit ganz klaren Stärken, aber auch Schwächen.


6,5 Kürbisse

Bildzitat: http://www.imdb.com

Between the Temples (2024)

Regie: Nathan Silver
Original-Titel: Between the Temples
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie
IMDB-Link: Between the Temples


Seit Woody Allen weiß man als Filmliebhaber: Die Hauptstadt des Judentums ist New York, und dort konkret Brooklyn. Da können Tel Aviv und Jerusalem einpacken. Und so lernen wir in Nathan Silvers „Between the Temples“ den von Jason Schwartzman gespielten Ben Gottlieb, Kantor seiner Synagoge und in einer veritablen Lebenskrise. Seine Frau ist verstorben, er hat die Fähigkeit, vor Publikum zu singen verloren, und als Ü-40er lebt er nun wieder bei seiner Mutter und deren Lebensgefährtin. Durch Zufall begegnet er eines Abends nach einer betrunkenen Schlägerei in einer Bar seiner alten Musiklehrerin Carla Kessler (Carol Kane). Die hat ein recht ungewöhnliches Ansinnen: Nachdem sie herausfindet, dass Ben Jugendliche auf ihre Bar-Mizwa vorbereitet, kommt sie zu ihm, um ihre eigene Bar-Mizwa, die sie nie hatte, nachzuholen. Dieses Ansinnen stößt nicht überall auf Gegenliebe, aber wo ein Wille, da ein Weg. „Between the Temples“ erinnert zeitweise sehr an den wunderbaren Film Harold und Maude von Hal Ashby, findet aber eigene Wege und Themen, um nicht in den Verdacht einer Kopie zu geraten. Im Mittelpunkt steht zwar auch die Beziehung zweier Menschen, die entgegen gängiger Konventionen zueinander finden, doch unterscheiden sich die Figuren und ihre Ambitionen sowie Erzähltempo und Humor recht deutlich. Im Gegensatz zu „Harold und Maude“ ist „Between the Temples“ der zärtlichere, feinfühligere Film, da Nathan Silver noch mehr am Innenleben seiner Figuren interessiert ist als Hal Ashby in „Harold und Maude“. Jason Schwartzman und Carol Kane in den Hauptrollen verleihen ihren Figuren eine sanfte Melancholie, die sich in jeder Geste ausdrückt und die Charaktere besser beschreibt, als es Worte könnten. Der bessere Film ist „Between the Temples“ deshalb aber nicht, er ist nur etwas anders. Allerdings erinnert auch dieser Film uns daran, dass das Leben eben manchmal unerwartete Wendungen nimmt, und wenn etwas Gutes passiert, dann sollte man dies auch einfach annehmen, ohne es lange zu hinterfragen.


7,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Matt und Mara (2024)

Regie: Kazik Radwanski
Original-Titel: Matt and Mara
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie, Drama
IMDB-Link: Matt and Mara


Man kann die Truppe rund um Kazik Radwanski ein künstlerisches Konglomerat nennen oder etwas despektierlicher eine Festival-Gang. Jedenfalls waren sowohl sein Hauptdarsteller Matt Johnson (zB mit Operation Avalanche) als auch seine Hauptdarstellerin Deragh Campbell (mit MS Slavic 7) mit eigenen Filmen auf der Viennale vertreten. All diese Filme sind sehr unterschiedlich in ihrer Tonalität und mit ihren Themen, und doch verbindet diese drei kanadischen Künstler:innen ein gemeinsames Verständnis für zurückgenommenes Storytelling und ein respektvoller Blick auf die Arbeitsweisen der jeweils anderen. In „Matt und Mara“ treffen sich nun zwei Freunde nach langer Zeit wieder. Es ist nicht klar, seit wann und aus welchen Gründen die beiden befreundet sind, aber sie haben eine enge Bindung und sehr viel Chemie miteinander. Beim gemeinsamen Spazieren durch Toronto wird über das Leben und das Schreiben gesprochen (Matt ist mittlerweile ein angesehener Autor, Mara Dozentin für kreatives Schreiben), oder es wird einfach nur herumgeblödet. So ganz greifbar wird die Beziehung der beiden nicht, und es sieht so aus, als wüssten sie selbst gar nicht genau, was sie sind außer eben „Matt und Mara“. Vielsagend ist, dass beispielsweise Maras Ehemann von Matts Existenz gar nichts weiß. Überhaupt lebt der Film sehr stark von Lücken und Auslassungen. Alles bleibt vage, und damit ist am Ende auch alles möglich. Thematisch erinnert Kazik Radwanskis Film stark an Celine Songs Oscar-nominierten Past Lives aus dem vergangenen Jahr, allerdings hat Song den formal strengeren und konzentrierteren Film geliefert. Das spricht nicht unbedingt gegen „Matt und Mara“, denn dessen Stärke liegt in seiner Unbeschwertheit, die vor allem von Matt Johnson erzeugt wird, wohingegen sich die Perspektive des Films auf Deragh Campbells Mara und deren Gefühlschaos richtet. Daraus ergibt sich ein interessanter Kontrast, der dem Film gut tut. „Matt und Mara“ ist vielleicht kein großer Wurf, aber sehenswert und in seinem Thema durchaus nachvollziehbar, denn selten sind Gefühlswelten und Beziehungen so eindeutig definiert, wie uns Hollywood das oft vorzeigen möchte.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Liebesbriefe aus Nizza (2024)

Regie: Ivan Calbérac
Original-Titel: N’avoue jamais
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie
IMDB-Link: N’avoue jamais


Französische Komödien sind manchmal schwer erträglich. Die Figuren bewegen sich oft am Rande der Hysterie und sind in ihrer Motivation kaum nachzuvollziehen, alles ist Drama, Drama, Drama. Die Menschen sehen unfassbar gut aus und räkeln ihre Luxuskörper an malerischen Stränden oder trinken Wein in pittoresken Bistros, während sie Probleme verhandeln, die nicht einmal mit viel gutem Willen als solche erkennbar sind. Wenn nun eine französische Liebeskomödie unter dem deutschen Verleihtitel „Liebesbriefe aus Nizza“ angekündigt ist, schrillen bei mir also die Alarmglocken. In diesem Fall aber unberechtigterweise, denn von Anfang an, wenn die Ehefrau zu ihrem Geburtstag von ihrem Mann, einem pensionierten General, ein Geburtstagsständchen zur Melodie der Marseillaise, geträllert bekommt, schleicht sich das erste Grinsen ins Gesicht. Seit 50 Jahren sind François (André Dussollier) und Anne (Sabine Azéma) verheiratet, doch da entdeckt François auf dem Dachboden zufällig eine alte Schachtel mit Liebesbriefen, die aus der Zeit stammen, in der die beiden noch in Nizza gelebt haben, und die an Anne gerichtet sind. Damit konfrontiert gibt diese den damaligen Seitensprung zu. Was soll’s auch – das ist fast vierzig Jahre her, ein unbedeutendes Abenteuer zu einer Zeit, als ihr Mann viel unterwegs war, und sie liebt ihn ja. Doch für François bricht eine Welt zusammen, und generalstabsmäßig plant er seine Rache am Rivalen von damals. Widerwillig macht sich Anne mit ihm zusammen auf den Weg nach Nizza, um ihn von den schlimmsten Dummheiten abzuhalten. Doch die Konfrontation mit dem Widersacher, dem immer noch gut in Form befindlichen Boris (Thierry Lhermitte), verläuft anders als geplant. Im Grunde ist „Liebesbriefe aus Nizza“ ein äußerst romantischer Film, denn er zeigt, dass Liebe nicht selbstverständlich ist, sondern man jeden Tag an ihr arbeiten muss. Gleichzeitig ist er aufgrund des wohldosierten Humors keinesfalls schmalzig, sondern erzählt seine Geschichte mit gutem Tempo und perfekt sitzenden Gags. Wenn sich beispielsweise François vor der Konfrontation mit dem Nebenbuhler in Form zu bringen versucht, aber ihm beim Joggen am Strand so sehr die Puste ausgeht, dass ein noch älterer Herr auf einem Rollator ihm diesen als Hilfe anbietet, sagt das zum einen in einem einfachen Bild viel über die Besessenheit des gehörnten Ehemanns und dessen Charakter aus, sorgt zum anderen aber auch für einen herzhaften Lacher. Das macht Ivan Calbérac in seinem Film richtig gut: Er bedient sich der Mittel der Komödie, um seinen Film aufzulockern, und überspitzt vielleicht manche Situation ein wenig, um ihre Komik herauszuarbeiten, überdreht aber nie. So bleiben die Figuren und ihre Motivation immer greifbar, so kann auch eine Entwicklung bei ihnen stattfinden. Unter vielen mittelmäßigen Komödien aus Frankreich sticht dieser Film jedenfalls sehr positiv hervor.


7,0 Kürbisse

Foto: Filmladen Luna Filmverleih)

Jane Eyre (2011)

Regie: Cary Joji Fukunaga
Original-Titel: Jane Eyre
Erscheinungsjahr: 2011
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Jane Eyre


Wenn eine Geschichte 1,5 Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen immer noch Bedeutung genießt und immer wieder neu verfilmt wird, kann man auf jeden Fall von einem zeitlosen Stoff sprechen. Da ist es dann auch egal, wenn die Protagonisten seltsam gewandet auf Pferden reiten und in düsteren Herrenhäusern wohnen. Es liegt also etwas Universelles in Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“, 2011 von Cary Fukunaga mit Mia Wasikowska und Michael Fassbender in den Hauptrollen verfilmt. Das Universelle: Das Streben nach Selbstbestimmung, denn Jane Eyre, die mittellose Waise, die als Gouvernante im Haus des Adeligen Edward Fairfax Rochester zu arbeiten beginnt, hat trotz ihrer Jugend und der harten Zeiten, die sie erlebt hat, immer den Kopf oben und vertritt ihre eigene Meinung. Ebenfalls universell: Die Geheimnisse, die viele Leben umgeben – in diesem Fall ausgedrückt durch mysteriöse Geräusche in der Nacht und das manchmal erratische Verhalten des Hausherren. Auch wenn Fukunaga diese Geheimnisse als spannende Gruselgeschichte einbaut, so lautet dennoch die dahinterliegende Frage: Wie gut kennen wir uns und unsere Gefährten denn wirklich? Wo liegen die finsteren Ecken, in die niemand hineinschauen kann und in die man nicht einmal selbst hineinschauen möchte? Und das vielleicht Universellste überhaupt an Jane Eyre: Die Liebe zwischen zwei Menschen, die zunächst unterschiedlicher nicht sein könnten und doch zueinander finden. Es ist keine Überraschung, dass die Geschichte auch heute noch ihre Fans hat. Fukunaga setzt diese mit viel Liebe für viktorianische Opulenz um, bringt aber einen modernen Anstrich ein, der sich beispielsweise in der Inszenierung der Gruselmomente zeigt. Das bewahrt den Film davor, zu einem routinierten Kostümfest zu verkommen, in dem sich schöne Menschen in schönen Kleidern anschmachten. Allerdings hätte die Inszenierung durchaus noch einen Tick subversiver und gewagter sein dürfen – die Vorlage hätte das hergegeben.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

All of Us Strangers (2023)

Regie: Andrew Haigh
Original-Titel: All of Us Strangers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: All of Us Strangers


Ein einsamer, homosexueller Drehbuchautor in einem kalten und verlassenen Appartement-Hochhaus in London. Das Leben zieht an ihm vorbei, die Tage sind gleichförmig und werden vorrangig auf der Couch verbracht, während über den Fernseher alte „Top of the Pops“-Folgen flimmern. Eines Tages klopft der einzige Mitbewohner dieses sterilen Hauses an der Tür: Betrunken, ebenfalls vereinsamt und nach Liebe und Geborgenheit suchend. Adam, der Schriftsteller, ist jedoch zu feige und schließt die Tür zunächst wieder. Doch die Neugier siegt, und bei der nächsten Begegnung lässt er sich auf die Avancen des jungen Harry ein. Was zunächst wie eine queere Liebesgeschichte in Anonymität der Großstadt beginnt, entfaltet sich unter Andrew Haighs sensibler Regie bald zu einer Studie von Vereinsamung, Trauer und Verlust. Denn bei einem Besuch seiner Geburtsstadt macht Adam bald eine unerwartete Begegnung: Er trifft auf seine Eltern, die sich im gleichen Alter wie er selbst befinden. Ein Traum? Eine Geistererscheinung? Eine Parallelwelt? Und kann ihm die aufkeimende Liebe zu Harry Halt geben in einer Situation, die Adam zu verschlingen droht? Langsam, aber keinesfalls langatmig tastet sich Haigh mit seinem grandios aufspielenden Cast vorwärts und entfaltet nach und nach das eigentliche Thema des Films bis hin zu seinem bitteren und aufwühlenden Ende. So großartig „All of Us Strangers“ auch inszeniert ist mit seinen weichen, zärtlichen Kamerabildern, dem klug eingesetzten Sounddesign und dem dichten Drehbuch, das der Geschichte dennoch genügend Raum zum atmen lässt, er würde nicht funktionieren ohne der überragenden Leistung des Casts, allen voran Andrew Scott in der Hauptrolle des Adam. Aber auch Paul Mescal als Harry sowie Claire Foy und Jamie Bell als Eltern tragen ihre Figuren mit größtmöglicher Sensibilität und Menschlichkeit und machen „All of Us Strangers“ zu einem gefühlsbetonten Drama, das mit zwar am Überirdischen anstreift, doch dank eben dieser ambivalenten und komplexen Figuren die Beine fest auf dem Boden behält.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Chris Harris/Chris Harris, Quelle: http://www.imdb.com)

Meine Nacht bei Maud (1969)

Regie: Éric Rohmer
Original-Titel: Ma nuit chez Maud
Erscheinungsjahr: 1969
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Ma nuit chez Maud


Ein braver Kirchgänger, 34 Jahre alt, der gerade von einigen Auslandsjahren in die französische Provinz nach Clermont-Ferrand zurückgekommen ist, trifft auf seinen Jugendfreund, der ihn mit einer Freundin bekannt macht: der geschiedenen Ärztin Maud. Da sich draußen schon bald ein Schneetreiben entwickelt und Maud darauf besteht, dass Jean-Louis, der Katholik, bei ihr bleibt, wird dieser schon bald mit einem Zwiespalt konfrontiert, der ihn ihm tobt. Als gläubiger Christ schätzt er nichts höher als das Sakrament der Ehe, und sein Plan ist es auch, sich bald zu verheiraten – am besten in die hübsche Françoise, die er in der Kirche gesehen, die er sich aber noch nicht anzusprechen getraut hat – doch Maud, verführerisch, belesen und auch ein wenig vom Leben desillusioniert, fordert ihn heraus, sich diesem Konflikt zu stellen. „Meine Nacht bei Maud“ war der größte Kinoerfolg von Éric Rohmer, und man kann auch nachvollziehen, was diesen Erfolg gebracht hat. Denn zum einen ist der Film unglaublich gut gespielt, mit Jean-Louis Trintignant und Françoise Fabian, die sich wie in einem intensiven Tennismatch die Bälle zuschießen und zwischen denen es spürbar knistert. Auch Antoine Videz und Marie-Christine Barrault in Nebenrollen spielen sehr überzeugend. Schöne Menschen sind sie zudem alle. Zum anderen verarbeitet der Film, wenn auch in kühl vorgetragenen, sehr abstrakten Diskussionen, den gut nachvollziehbaren Konflikt zwischen Rollen, die uns zugetragen wurden (in diesem Fall jene des gläubigen Kirchgängers), und dem tief liegenden Begehren. Die Moral ist das, was dazwischen liegt. Dass Jean-Louis ausgerechnet Mathematiker ist und sich so die Welt fast formelhaft zurechtlegen möchte, letztlich aber daran scheitert, ist ein hübsches Detail. Kein einfacher Film, sondern einer, bei dem man konzentriert dabeibleiben muss, doch lohnt es sich, diesem intellektuellem Pingpong zuzuhören, regt es doch weitere Gedanken an, ohne allerdings intellektuell komplett zu überfordern. Zurecht einer der 1001 Filme, die man gesehen haben sollte, ehe das Leben vorbei ist.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.tobis.de)

In guten Händen (2011)

Regie: Tanya Wexler
Original-Titel: Hysteria
Erscheinungsjahr: 2011
Genre: Komödie, Biopic, Liebesfilm, Historienfilm
IMDB-Link: Hysteria


Man kann getrost davon ausgehen, dass die Erfindung des Vibrators nicht exakt so stattgefunden hat wie es Tanya Wexler in ihrem sympathischen Film „In guten Händen“ beschreibt. Zum Einen war der Erfinder des beliebten Spielzeugs der Damenwelt, Joseph Mortimer Granville, zum Zeitpunkt seiner Errungenschaft bereits 50 Jahre alt, und selbst wenn man annimmt, dass Hugh Dancy ähnliche Gene wie Paul Rudd oder Keanu Reeves besitzt, kauft man ihm einen 50jährigen Arzt nicht ab. Zum Anderen sind wohl sämtliche Figuren rund um Granville herum frei erfunden. Aber das ist eben das Vorrecht des Kinos: Man darf sich die historische Realität eben gerne mal zurechtbiegen, sofern es der Unterhaltung dient. Frag nach bei Quentin Tarantino. Insofern nehmen wir die Geschichte eben gerne so, wie sie kommt: Leichtfüßig, charmant, stellenweise sehr komisch und mit einem gut aufgelegten Cast, in dem jede/r seine bzw. ihre Momente hat: Neben Hugh Dancy in der Hauptrolle (der geboren wurde, um in Historienfilmen zu spielen, und wann kommt endlich mal jemand auf die Idee, und lässt ihn und Hugh Jackman Brüder spielen?) geigen Jonathan Pryce, Felicity Jones, Rupert Everett und natürlich die großartige Maggie Gyllenhaal auf, die den Film mit jeder Szene an sich reißt und deren emanzipierte Frauenrechtlerin Charlotte Dalrymple die mit Abstand die interessanteste Figur in diesem Ensemble ist. Überhaupt: So absurd die Behandlung weiblicher „Hysterie“ im 19. Jahrhundert auch anmutet, verlässt sich Wexler nicht allein auf daraus gewonnen Situationskomik, sondern zeigt eine Sympathie für Charlotte und ihr Anliegen. Das tut dem Film gut, ohne dass er aber deshalb plötzlich andere Töne anschlägt. „In guten Händen“ will einfach grundsympathische und leichtgewichtige Unterhaltung sein, vielleicht historisch nicht 100% akkurat, aber mit dem Herz am rechten Fleck.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)