Viennale 2024

Viennale 2024: Top10

Die Viennale 2024 ist bewältigt – zwischen Dienstreisen und gesundheitsbedingten Ausfällen, aber immerhin mit einer zweistelligen Filmanzahl. Die geplanten 14 Filme wurden es nicht ganz, am Ende standen aber zehn zu Buche. Wie praktisch, denn daraus lässt sich wunderbar eine Top10-Liste ableiten. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass das Programm unter der Leitung von Eva Sangiorgi mittlerweile eine gute Mischung gefunden hat zwischen Crowdpleasern und Nischenfilmen. Es ist unterm Strich vielleicht einen Tick ernsthafter als unter dem seligen Hans Hurch, der immer wieder leicht anarchische Ausreißer reinprogrammiert hat (und fürs Breitenpublikum nicht zu vergessen den alljährlichen Woody Allen-Film), aber für gute Unterhaltung wurde dennoch gesorgt. Ein kompletter Totalausfall war unter meinen gesichteten zehn Filmen nicht dabei, wenngleich mit dem neuesten Olivier Assayas doch auch eine Enttäuschung. Immerhin vier Filme allerdings konnten sich eine Bewertung von mindestens sieben Kürbissen sichern und gehören dazu zu den uneingeschränkten Empfehlungen dieses Blogs (mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, am Ende des Jahres in meiner üblichen Top30-Liste von 2024 wieder aufzutauchen, mein diesjähriges Viennale-Highlight sogar mit einer guten Chance aufs Stockerl). Hier nun die Liste der zehn gesichteten Filme und ihre Bewertungen:

8,5 Kürbisse
Who by Fire (von Philippe Lesage)

8,0 Kürbisse
The End (von Joshua Oppenheimer)

7,5 Kürbisse
Between the Temples (von Nathan Silver)

7,0 Kürbisse
On Becoming a Guinea Fowl (von Rungano Nyoni)

6,5 Kürbisse
Matt und Mara (von Kazik Radwanski)
Dreaming Dogs (von Elsa Kremser und Levin Peter)
Queer (von Luca Guadagnino)

5,5 Kürbisse
Ghost Cat Anzu (von Yoko Kuno und Nobuhiro Yamashita)

4,5 Kürbisse
Suspended Time (von Olivier Assayas)

4,0 Kürbisse
Something Old, Something New, Something Borrowed (von Hernán Rosselli)

Something Old, Something New, Something Borrowed (2024)

Regie: Hernán Rosselli
Original-Titel: Algo viejo, algo nuevo, algo prestado
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Algo viejo, algo nuevo, algo prestado


Die Wettmafia in Argentinien. Befeindete Clans und Familien haben die Stadt sauber unter sich aufgeteilt, ständig begleitet die Angst vor Razzien und Verhaftungen den Alltag. Und doch ist „Algo viejo, algo nuevo, algo prestado“ von Hernán Rosselli zunächst einmal eine dokumentarisch anmutende Familiengeschichte. Mittels Home Recording Videos wird die Geschichte von Maribel Felpeto und ihrer Familie nachgezeichnet: Wie sich Mutter und Vater kennenlernten und ineinander verliebten, wie Maribel aufwuchs und schließlich der Schock, als der Vater eines Tages aus unerklärlichen Gründen Suizid beging. Maribel ist längst im Familienunternehmen angekommen, das unter der Führung ihrer Mutter floriert. Um Geld dreht sich alles in dieser Familie, darunter leiden selbst zwischenmenschliche Beziehungen, und am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Das Bemerkenswerte an diesem Film ist Rossellis Herangehensweise: Er verwendet unter anderem Heimvideos seiner Hauptdarstellerin und Kollaborateurin Maribel Felpeto und konstruiert um diese herum die Geschichte vom Mafiaclan. Dadurch bekommt der Film einen realistischen Anstrich, wie man ihn nur selten im fiktionalen Kino findet. Doch gleichzeitig nimmt dieser halb-dokumentarische Ansatz unglaublich viel Tempo aus der Geschichte. Denn ganz ehrlich: Wer hat schon wirklich mit Genuss die verwackelten Heimvideos von losen Bekannten oder Verwandten angesehen, wenn die ihre Werke voller Stolz präsentiert haben? Sieht man sich Videos der eigenen Familie an, gibt es immerhin noch einen emotionalen Bezug, da kann man dann gerne über viel zu lange Sequenzen und grobkörnige Bilder hinwegsehen. Dieser emotionale Bezug fehlt hier aber komplett, und so ist die Idee von Rosselli zwar interessant, führt aber nicht zu einem interessanten Film. Ultrarealismus ist halt im Kino nicht immer gefragt, da braucht es Verdichtung und Spannungsaufbau. Beides fehlt hier. Und so können sich dann auch hundert Minuten recht lang anfühlen.


4,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Queer (2024)

Regie: Luca Guadagnino
Original-Titel: Queer
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Drama, Roadmovie, Biopic
IMDB-Link: Queer


Da ist er nun, der Überraschungsfilm der Viennale 2024. Wie Eva Sangiorgi in ihrer kurzen Ansprache vor Beginn der Vorführung erklärte, wäre der Film ohnehin als Fixpunkt im Programm gelaufen, hätte man nur rechtzeitig einen Verleih dafür gefunden. Nachdem sich dieser Prozess aber ein wenig hinzog, musste man ausweichen und dem neugierigen Publikum Guadagninos neuestes Werk mit Daniel Craig in der Hauptrolle eben als Überraschungsfilm präsentieren. Auf der einen Seite erscheint diese Vorgehensweise durchaus mutig, denn der Film nach einer literarischen Vorlage von William S. Burroughs gehört sicherlich zu jenen, die die Gemüter spalten. Andererseits: Wann kann man schon einen Guadagnino-Film als Überraschungsfilm präsentieren? Der Italiener ist so etwas wie der große internationale Aufsteiger der letzten zehn Jahre mit Filmen wie Call Me by Your Name oder Suspiria. Er gehört zu jenen Regisseuren, deren Stil man sofort wiedererkennt, da er eine ganz eigene, sinnliche Bildsprache pflegt und auch musikalisch immer wieder spannende Pfade betritt. „Queer“ bildet diesbezüglich keine Ausnahme – im Gegenteil. Der Film ist atmosphärisch enorm dicht. Die Story hingegen – und da sind wir bei dem Aspekt, der wohl die Geister voneinander scheiden wird – bleibt dünn. In seinem autobiographischen Roman erzählt William S. Burroughs von seinem Alter Ego, das in Schwulenbars in Mexico City abhängt und sich unsterblich in einen Jüngeren (Drew Starkey) verliebt, mit dem er sich schließlich auf einen Roadtrip nach Südamerika aufmacht, um dort nach der legendären Yage-Pflanze zu suchen, nach dessen Einnahme man angeblich Gedanken lesen kann. William Lee, mit vollem Einsatz von Daniel Craig gespielt, der die wohl beste und jedenfalls mutigste Leistung seiner Karriere abliefert, ist ein Suchender, doch scheint er manchmal selbst nicht zu wissen, was er sucht. Gefangen zwischen Lust und dem aufrichtigen Wunsch nach Liebe ist er ein Mensch, der niemals anzukommen scheint, ganz gleich, wohin es ihn verschlägt. Prinzipiell sieht man ihm bei seiner Reise ins Nirgendwo auch gerne zu, dafür sorgt allein schon die schon angesprochene dichte Atmosphäre. Und doch hat der Film ein Problem mit dem Pacing. Zieht sich der erste der drei Teile recht zäh hin, wird Teil zwei beinahe nebenbei rasch abgehandelt, ehe der Film in Teil drei, die Suche nach der Yage-Pflanze, ins Groteske driftet. Alle drei Teile fühlen sich auf ihre Weise wie eigene Filme an, die nur schwer zueinanderfinden. So fällt es am Ende auch schwer, eine emotionale Bindung zur Figur des William Lee aufzubauen, auch wenn sich Daniel Craig eben die Seele aus dem Leib spielt. „Queer“ ist ein Kunstwerk, eine ästhetische und intellektuelle Übung, der trotz aller Bemühungen (oder vielleicht auch gerade deshalb) ein wenig die emotionale Mitte fehlt. Ein Wagnis mit ganz klaren Stärken, aber auch Schwächen.


6,5 Kürbisse

Bildzitat: http://www.imdb.com

Between the Temples (2024)

Regie: Nathan Silver
Original-Titel: Between the Temples
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie
IMDB-Link: Between the Temples


Seit Woody Allen weiß man als Filmliebhaber: Die Hauptstadt des Judentums ist New York, und dort konkret Brooklyn. Da können Tel Aviv und Jerusalem einpacken. Und so lernen wir in Nathan Silvers „Between the Temples“ den von Jason Schwartzman gespielten Ben Gottlieb, Kantor seiner Synagoge und in einer veritablen Lebenskrise. Seine Frau ist verstorben, er hat die Fähigkeit, vor Publikum zu singen verloren, und als Ü-40er lebt er nun wieder bei seiner Mutter und deren Lebensgefährtin. Durch Zufall begegnet er eines Abends nach einer betrunkenen Schlägerei in einer Bar seiner alten Musiklehrerin Carla Kessler (Carol Kane). Die hat ein recht ungewöhnliches Ansinnen: Nachdem sie herausfindet, dass Ben Jugendliche auf ihre Bar-Mizwa vorbereitet, kommt sie zu ihm, um ihre eigene Bar-Mizwa, die sie nie hatte, nachzuholen. Dieses Ansinnen stößt nicht überall auf Gegenliebe, aber wo ein Wille, da ein Weg. „Between the Temples“ erinnert zeitweise sehr an den wunderbaren Film Harold und Maude von Hal Ashby, findet aber eigene Wege und Themen, um nicht in den Verdacht einer Kopie zu geraten. Im Mittelpunkt steht zwar auch die Beziehung zweier Menschen, die entgegen gängiger Konventionen zueinander finden, doch unterscheiden sich die Figuren und ihre Ambitionen sowie Erzähltempo und Humor recht deutlich. Im Gegensatz zu „Harold und Maude“ ist „Between the Temples“ der zärtlichere, feinfühligere Film, da Nathan Silver noch mehr am Innenleben seiner Figuren interessiert ist als Hal Ashby in „Harold und Maude“. Jason Schwartzman und Carol Kane in den Hauptrollen verleihen ihren Figuren eine sanfte Melancholie, die sich in jeder Geste ausdrückt und die Charaktere besser beschreibt, als es Worte könnten. Der bessere Film ist „Between the Temples“ deshalb aber nicht, er ist nur etwas anders. Allerdings erinnert auch dieser Film uns daran, dass das Leben eben manchmal unerwartete Wendungen nimmt, und wenn etwas Gutes passiert, dann sollte man dies auch einfach annehmen, ohne es lange zu hinterfragen.


7,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Matt und Mara (2024)

Regie: Kazik Radwanski
Original-Titel: Matt and Mara
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie, Drama
IMDB-Link: Matt and Mara


Man kann die Truppe rund um Kazik Radwanski ein künstlerisches Konglomerat nennen oder etwas despektierlicher eine Festival-Gang. Jedenfalls waren sowohl sein Hauptdarsteller Matt Johnson (zB mit Operation Avalanche) als auch seine Hauptdarstellerin Deragh Campbell (mit MS Slavic 7) mit eigenen Filmen auf der Viennale vertreten. All diese Filme sind sehr unterschiedlich in ihrer Tonalität und mit ihren Themen, und doch verbindet diese drei kanadischen Künstler:innen ein gemeinsames Verständnis für zurückgenommenes Storytelling und ein respektvoller Blick auf die Arbeitsweisen der jeweils anderen. In „Matt und Mara“ treffen sich nun zwei Freunde nach langer Zeit wieder. Es ist nicht klar, seit wann und aus welchen Gründen die beiden befreundet sind, aber sie haben eine enge Bindung und sehr viel Chemie miteinander. Beim gemeinsamen Spazieren durch Toronto wird über das Leben und das Schreiben gesprochen (Matt ist mittlerweile ein angesehener Autor, Mara Dozentin für kreatives Schreiben), oder es wird einfach nur herumgeblödet. So ganz greifbar wird die Beziehung der beiden nicht, und es sieht so aus, als wüssten sie selbst gar nicht genau, was sie sind außer eben „Matt und Mara“. Vielsagend ist, dass beispielsweise Maras Ehemann von Matts Existenz gar nichts weiß. Überhaupt lebt der Film sehr stark von Lücken und Auslassungen. Alles bleibt vage, und damit ist am Ende auch alles möglich. Thematisch erinnert Kazik Radwanskis Film stark an Celine Songs Oscar-nominierten Past Lives aus dem vergangenen Jahr, allerdings hat Song den formal strengeren und konzentrierteren Film geliefert. Das spricht nicht unbedingt gegen „Matt und Mara“, denn dessen Stärke liegt in seiner Unbeschwertheit, die vor allem von Matt Johnson erzeugt wird, wohingegen sich die Perspektive des Films auf Deragh Campbells Mara und deren Gefühlschaos richtet. Daraus ergibt sich ein interessanter Kontrast, der dem Film gut tut. „Matt und Mara“ ist vielleicht kein großer Wurf, aber sehenswert und in seinem Thema durchaus nachvollziehbar, denn selten sind Gefühlswelten und Beziehungen so eindeutig definiert, wie uns Hollywood das oft vorzeigen möchte.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Who by Fire (2024)

Regie: Philippe Lesage
Original-Titel: Comme le feu
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama
IMDB-Link: Comme le feu


Es gibt Filme, über deren objektive Qualität man vielleicht streiten kann, die aber beim Zuseher, wenn dieser in der richtigen Stimmung ist, einen Nerv treffen. Der entzückende Märchenfilm Riddle of Fire war letztes Jahr so ein Film für mich, und auch dieses Mal erwischt mich wieder ein Film mit Feuer im Titel. „Comme le feu“ (internationaler Festival-Titel: „Who by Fire“) des frankokanadischen Regisseurs Philippe Lesage ist ein sinnliches Erlebnis, das bereits in der ersten Szene, als es nicht mehr zu sehen gibt als ein Auto, das durch eine kanadische Waldlandschaft fährt, durch die Kraft von Bildern und Musik einen Sog aufbaut, dem ich mich nicht entziehen kann. In diesem Auto sitzt der Drehbuchautor Albert (Paul Ahmarani), der zusammen mit seinem Sohn Max (Antoine Marchand-Gagnon) und seiner Tochter Aliocha (Aurélia Arandi-Longpré) sowie Max’s Schulfreund Jeff (Noah Parker) seinen alten Kollegen, den renommierten Regisseur Blake (Arieh Worthalter) in dessen abgelegener Hütte besucht. Mehrere Tage wollen die alten Freunde in der Unbeschwertheit der Natur verbringen, angeln, jagen, über Filme philosophieren. Jeff hat gleich ein zweifaches Interesse an diesem Urlaubstrip: Zum Einen ist er hoffnungslos (und unerwidert) verknallt in Aliocha, zum Anderen möchte er selbst Filmregisseur werden und freut sich demnach sehr auf die Gelegenheit, von seinem Idol Blake zu lernen. Doch wird die Harmonie bald von Spannungen überlagert, als Albert und Blake alte Animositäten ausgraben. Philippe Lesage zeigt in seinem handlungsarmen, aber subtilen Film vor allem zwischenmenschliche Distanzen und Entfremdungen: Während Albert, der nun für das einst verhasste Fernsehen schreibt, in den Augen Blakes seine Ideale verraten hat, hegt dieser einen Groll auf Albert, da er sich nun dem Dokumentarfilm zugewandt hat und dementsprechend keinen Bedarf mehr für seinen alten Drehbuchautor hat. Beide versuchen sich, in männlichem Gehabe zu übertreffen, um eigene Überlegenheit zu suggerieren. Jeff wiederum versucht die Distanz zu Aliocha zu überbrücken, wobei ihm allerdings die Unbeholfenheit der Jugend einen Strich durch die Rechnung macht. Als noch ein befreundetes Ehepaar für einige Tage dazustößt, hat sich bereits ein gefährlicher Cocktail von Balzgehabe und toxischer Männlichkeit gebildet, der überzulaufen droht. Was „Comme le feu“ so stark macht, ist die Verweigerung einer klaren Zielrichtung. Man kann sich nie sicher sein, was in der nächsten Szene wartet. Da wird schon mal eine absurd komische Szene von einer bedrohlichen Thriller-Szene abgelöst, ehe man versonnen am Feuer sitzt und über das Leben kontempliert. Wie auch im Leben selbst kann man nie wissen, was als nächstes um die Ecke kommt. Das alles betrachten wir aus den Augen von Jeff, wobei die Zuseher sowohl die Rolle seines Komplizen als auch die seines Kritikers einnehmen. Alles ist in Bewegung in diesem Film, Grenzen werden ständig neu verhandelt, Komik und Tragik liegen eng beieinander, und am Ende des Films ist man sich vielleicht keiner umfassenden Veränderung der Charaktere bewusst, hat aber das Gefühl, dass diese zumindest neue Sichten auf das Leben gewonnen haben, das so seltsam verwirrend ist, wenn junge Liebe und alter Hass nebeneinander stehen und sich gegenseitig ausstechen wollen. Philippe Lesage selbst sagte während des Q&As nach dem Film sinngemäß, dass er vor allem an der Komik dieser männlichen Gefühlswelten interessiert sei, und das trifft es als Fazit vielleicht am besten.


8,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Dreaming Dogs (2024)

Regie: Elsa Kremser und Levin Peter
Original-Titel: Dreaming Dogs
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Dreaming Dogs


In Space Dogs sind Elsa Kremser und Levin Peter schon einmal dorthin gegangen, wo es wehtut: Nach Moskau. Genauer gesagt sind sie tief in das Leben von streunenden Straßenhunden eingestiegen. „Dreaming Dogs“ ergänzt diesen ersten Film um eine weitere Perspektive: Wieder sind es streunende Hunde, deren Geschichte erzählt wird, doch wird diese ergänzt um die Interaktion mit der obdachlosen Nadja, die sich selbst als „Oma“ bezeichnet und die Anführerin des kleinen Rudels ist, das Zuflucht gefunden hat auf einem ehemaligen Fabriksgelände. Wie auch in „Space Dogs“ interessieren sich Kremser und Peter allerdings primär für die Hunde. Die Kamera ist immer ganz nah bei diesen und immer auf deren Höhe, was dazu führt, dass die Menschen automatisch in den Hintergrund treten. Gleichzeitig wird auf diese Weise über das Leben der Hunde auch indirekt die Geschichte von Nadja erzählt – jedenfalls ein Teil davon. Das Leid der Menschen spiegelt sich im Überlebenskampf der Hunde und vice versa. Wie auch in „Space Dogs“ lässt sich in „Dreaming Dogs“ einiges ableiten über das Leben derer, die in Russland am Rande der Gesellschaft leben – und damit über die Gesellschaft selbst. „Dreaming Dogs“ führt das Thema also auf eine konsequente Weise fort, wenngleich der Film nicht diese brutale Dringlichkeit von „Space Dogs“ erreicht. Darüber bin ich aber auch fast froh, liegen mir einige Szenen von „Space Dogs“ fünf Jahre später immer noch im Magen. So gesehen bietet „Dreaming Dogs“ nun einen leichter verdaulichen Einstieg in das Thema und die Welt der Streuner, die von allen übersehen werden mit Ausnahme von Nadja sowie den beiden Filmemachern Elsa Kremser und Levin Peter.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Suspended Time (2024)

Regie: Olivier Assayas
Original-Titel: Hors du temps
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Hors du temps


Der Ausbruch der COVID-Pandemie war eine Zäsur der jüngeren Menschheitsgeschichte. Doch gefühlt war niemand davon so sehr betroffen wie der Filmemacher Paul Berger (Vincent Macaigne), der mit seiner Freundin sowie seinem Bruder und dessen Freundin (Nine d’Urso, Micha Lescot und Nora Hamzawi) während des Lockdowns im Elternhaus am Land festsitzt und einige interessante neue Neurosen entwickelt – Woody Allen lässt grüßen. Wenn er beispielsweise vom Einkaufen nach Hause kommt (was er ohnehin durch exzessive online-Bestellungen zu vermeiden versucht), zieht er sich bis auf die Unterhose aus und lädt die kontaminierte Wäsche sofort in die Waschmaschine, bevor er sich manisch die Hände wäscht, wie es einem Youtube-Video vorexerziert wird. Sein Bruder Etienne, ein Musikjournalist, nimmt die Corona-Regelungen etwas locker, was zu leicht entzündlichen brüderlichen Konflikten führt. Die meiste Zeit aber verbringt man beim gemeinsamen Abendessen mit einer guten Flasche Wein, auf dem Tennisplatz des nachbarschaftlichen Anwesens, auf dem man früher als Kind schon gespielt hat, und vor allem mit Name-Dropping obskurer Persönlichkeiten aus der Welt von Kunst und Philosophie, die selbst unter gelehrtem Viennale-Publikum für Stirnrunzeln sorgt. Beim einzig verständlichen diesbezüglichen Gag klopft man sich innerlich auf die Schulter, dass man immerhin den Namen Modigliani kennt – sonst wäre dieser Gag nämlich ebenfalls im Schlamm der Unkenntnis der Ungebildeten versunken. „Hors du temps“ von Olivier Assayas, den ich für gewöhnlich sehr schätze, hat zwei grundlegende Probleme, über die man nicht hinwegsehen kann: Erstens: Auch wenn es im Film karikiert werden soll, ist das seelische Leid des sensiblen Paul durch den Lockdown, den er in bester Gesellschaft in einem riesigen parkähnlichen Garten verbringt, einfach nur lächerlich. Zweitens: Selbstreferenzielle Diskurse über das Filmemachen, die Philosophie und die Philosophie des Filmemachens sind halt leider, wenn sie derart penetrant ausgebreitet werden, nur eine ziemliche Hirnwichserei. Zugute halten muss man Assayas, dass er das immerhin mit viel Verve inszeniert, französisch eben. Aber wenn in der Nachbetrachtung der weltumspannenden Pandemie, die unsere Gesellschaft einmal auf den Kopf und wieder zurück gedreht hat, ein solches nichtssagendes Etwas von einem Film herauskommt, so ist das enttäuschend.


4,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Ghost Cat Anzu (2024)

Regie: Yoko Kuno und Nobuhiro Yamashita
Original-Titel: Babeneko anzu-chan
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Animation
IMDB-Link: Babeneko anzu-chan


Alles ist möglich in japanischen Animationsfilmen. Auch menschengroße Katzen, die auf Mopeds fahren, Handys benutzen und nebenberuflich als Masseure arbeiten. Das ist Anzu, der als normale Katze auf die Welt gekommen ist, dann aber das Wachsen und das Altern nicht eingestellt hat und nun als 37jährige Geisterkatze im Tempel des Großvaters der 11jährigen Karin lebt. Diese verschlägt es mit ihrem Vater dorthin. Der steckt gerade mal wieder in Geldnöten. Seit dem Tod von Karins Mutter vor zwei Jahren ist sein Leben auf die schiefe Bahn geraten, und die kluge und aufgeweckte Karin hat darunter besonders zu leiden. Als sich der Vater auf den Weg macht, um seine Schulden zu begleichen, beauftragt der Großvater Anzu, auf Karin aufzupassen. Die hat vor allem einen Wunsch: Sie möchte den Todestag ihrer Mutter an deren Grab in Tokyo begehen. Doch der Ausflug nach Tokyo nimmt eine unerwartete Wendung, als sich der Gott der Armut einschaltet und es dem Mädchen und seinem felinen Weggefährten ermöglicht, ins Reich der Toten zu reisen, um die Mutter zu besuchen. Die Themen in „Ghost Cat Anzu“ liegen offen dar: Verlust, Trauer, die Notwendigkeit, mit traumatischen Ereignissen umzugehen und dennoch seinen Weg zu finden. Die sprechende Geisterkatze Anzu sorgt dabei für gelegentliche komödiantische Auflockerung, auch wenn der Film trotz seines fantasievollen Settings und der kindergerechten Aufbereitung nur schwer für eine Komödie zu halten ist. Das Problem ist, dass der Film selbst nicht so richtig weiß, was er eigentlich ist und was er erzählen möchte. Die Story mäandert ein wenig herum, begibt sich dann auf Actionpfade, wenn der Besuch von Karin im Reich der Toten nicht unentdeckt bleibt, und kommt dann am Ende zu einer überhasteten Conclusio, bei der nicht alle Zuseher:innen mitgehen werden. Ich wüsste halt gerne, wer die Zielgruppe von diesem Film gewesen wäre. Das kleine Kind, das im Kinosaal die turbulenten Ereignisse auf der Leinwand zur Unterhaltung aller kommentiert hat (auch aufgrund der Tatsache, dass es weder Japanisch noch die englischen Untertitel verstehen konnte), war es wohl genauso wenig wie der Kürbis eures Vertrauens, der zwei Reihen weiter vorne gesessen ist. Und das, obwohl wir beide den ausgeprägten Cat Content zu schätzen wussten.


5,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

The End (2024)

Regie: Joshua Oppenheimer
Original-Titel: The End
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Musical, Drama
IMDB-Link: The End


Das Ende kommt am Anfang. Gleich mein zweiter Viennale-Film in diesem Jahr mit dem vielversprechenden Titel „The End“ erweist sich als frühes Highlight dieses Festivals. Regisseur Joshua Oppenheimer ist bislang nur mit Dokumentation („The Act of Killing“) aufgefallen. Sein neuestes Projekt ist ein filmisches Wagnis, das alle Konventionen sprengt: Tilda Swinton, George MacKay und Michael Shannon spielen eine reiche Familie, die sich nach der Apokalypse zusammen mit ihrem Butler, einer Haushälterin und einem Arzt in einen Bunker zurückgezogen hat und dort heile Welt spielt. Sie sind die letzten Überlebenden der Menschheit, die es geschafft hat, sich selbst über den Jordan zu schießen – bis eines Tages eine junge Frau (Moses Ingram) vor ihrer Tür liegt. Nach anfänglicher Irritation nimmt die Familie die junge Frau auf, doch mit dem Eindringen einer fremden Person und deren tragischer Geschichte in ihre kleine Welt beginnen Fassaden zu bröckeln und lange Verdrängtes bahnt sich an die Oberfläche. In dieser Hinsicht lassen sich Parallelen zum ersten Viennale-Film On Becoming a Guinea Fowl entdecken, doch wer in „The End“ auf eine Katharsis wartet, wartet vergebens. Der Witz an der ganzen Sache ist, dass Joshua Oppenheimer die Geschichte von Lug und Selbstbetrug als leichtfüßiges Musical inszeniert, in dem die Protagonistinnen und Protagonisten ihr Seelenleid in Form lieblicher, wenn auch nicht eingängiger Songs zum Besten geben. Diesen Spagat zwischen Endzeitdrama in einem Bunker und Musical muss man erst einmal schaffen. Das Wagnis hätte böse ausgehen können, und die ersten (schiefen) Töne von George MacKay lassen dies vermuten, doch hat der Wahnsinn hier Methode. Wenn der Schmerz zu tief sitzt, um besprochen zu werden, dann singt ihn heraus! Großartig!


8,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale