2023

Die Theorie von allem (2023)

Regie: Timm Kröger
Original-Titel: Die Theorie von allem
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Science Fiction, Krimi
IMDB-Link: Die Theorie von allem


Regisseur Timm Kröger wünschte sich vor der Vorführung seines Films „Die Theorie von allem“ ein intelligentes Publikum. Nun, manche Wünsche gehen in Erfüllung, manche aber eben nicht, und ein Kürbis hat nun mal nur den Intellekt eines Gemüses. Aber vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, dass der Kaiser, in diesem Fall Timm Krögers Film, gar keine Kleider anhat. Denn dieser scheint, so jedenfalls aus den laienhaften Augen eines Kürbisses betrachtet, dem Motto „style over substance“ zu folgen. Ein Physikerkongress in den 60er Jahren in den Schweizer Alpen, zu dem ein junger Doktorand mit seinem mürrischen Doktorvater anreist, eine mysteriöse Musikerin, zwei Kinder, die nach einem Absturz im Krankenhaus landen und seltsame Dinge gesehen haben wollen – die Ausgangsbasis wäre eigentlich vielversprechend. Doch hat „Die Theorie von allem“ ein gravierendes Problem: Vor lauter Bemühen, einen Film Noir zu drehen, vergisst Timm Kröger auf die Geschichte. Im Grunde ist „Die Theorie von allem“ eine Aneinanderreihung von Filmzitaten, handwerklich gut gemacht, keine Frage, doch inhaltsleer und uninspiriert. Timm Kröger ist eben kein Alfred Hitchcock, doch gewinnt man den Eindruck, dass er es gerne wäre. Den Darsteller:innen kann man kaum einen Vorwurf machen. Jan Bülow in der Hauptrolle bemüht sich redlich, und Olivia Ross darf eine sehr klassische geheimnisvolle Schöne geben. Vielleicht ist sie einen Tick zu spröde in der Rolle, aber auch sie agiert solide. Hanns Zischler und Gottfried Breitfuss in den Rollen rivalisierender Physiker schrammen zwar nahe an Klischees und Overacting vorbei, fallen aber zumindest nicht negativ auf. Dass der Film – Pardon! – ein ziemlicher Schmarrn ist, liegt am Drehbuch und der drögen Inszenierung, die es fast schon auf bewundernswerte Weise schafft, jegliche Andeutung von Spannung gekonnt zu umschiffen. Wer sich für komplexe, aber stringent umgesetzte Parallelweltengeschichten interessiert, greift lieber zur Serie „Dark“, die gezeigt hat, wie sich ein solches Thema umsetzen lässt: Intelligent, aber den Zuseher dabei nicht aus den Augen verlierend.


3,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

Regie: Elene Naveriani
Original-Titel: Shashvi shashvi maq’vali
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Shashvi shashvi maq’vali


Laut Aussage der sehr sympathischen und reflektierten Regisseurin Elene Naveriani ist ihr Film „Amsel im Brombeerstrauch“ quasi das „Avatar“ Georgiens: Über 10.000 Besucher zählte das einfühlsame und stille Drama im Heimatland bereits, und diese gewaltige Resonanz zeigt, dass Naveriani mit der Verfilmung des Bestsellers „Amsel, Amsel, Brombeerstrauch“ von Tamta Melashvili einen Nerv getroffen hat, so wie auch die Schriftstellerin selbst, die für die Vorlage gesorgt hat. Es tut sich etwas in der georgischen Gesellschaft. Denn in „Amsel im Brombeerstrauch“ werden althergebrachte und scheinbar fest einzementierte Rollenbilder in Frage gestellt. Etero, eine 48jährige Frau, lebt allein ihr ruhiges Leben in einem kleinen Dorf. Sie betreibt einen kleinen Laden, und Genuss zieht sie aus Brombeerpflücken und Kuchen. Sie wirkt stoisch und unnahbar, hat aber gleichzeitig eine sehr sinnliche Seite, und so landet sie eines Tages recht unvermutet im Bett mit dem verheirateten Lieferanten Murman. Nachdem der gegangen ist, kommentiert sie dieses überraschende Ereignis mit einem trockenen „Da geht sie dahin, die 48jährige Jungfräulichkeit“. Diese Szene bereitet diese spannende, vielseitige Figur perfekt auf: Etero ist eine Frau, die in keine Schublade passt, die ihren eigenen Weg geht, auch wenn dieser weit abseits ausgetretener Pfade verläuft, und natürlich stößt sie damit auf Widerstand. Die Frauen in ihrem Dorf können ihr Handeln und ihre Einstellung nicht nachvollziehen. Es gibt Gerede. Doch auch dieses prallt an Etero ab, die stark wie ein Felsen wirkt. Und doch kommt es zu einem Moment, in dem auch Etero verletzlich wirkt und sich zeigt, dass alles im Wandel ist, auch das Leben von Etero selbst. Mit Etero haben Melashvili, Naveriani und vor allem auch die überragende Darstellerin Eka Chavleishvili eine Figur geschaffen, die eine starke Resonanz erzeugt und dem weiblichen Empowerment eine ganz eigene Stimme verleiht.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

Regie: Adrian Goiginger
Original-Titel: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Musikfilm
IMDB-Link: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby


Die Wiener und ihr Sinn fürs Morbide. Während der Ambros Woifi den Zentralfriedhof hochleben hat lassen, gräbt Voodoo Jürgens gleich die Toten aus. Dieser Star der jungen neuen Welle des Austropops, dessen Musik noch eine Schicht tiefer unter die Haut geht als die seiner Vorgänger, spielt in Adrian Goigingers neuestem Film den „Rickerl“ Bohacek, einen Beislmusiker und AMS-Stammgast ohne Ambitionen. Klar, er hat einen Manager, der sichtlich an ihm verzweifelt, und vor einiger Zeit stand er schon mal kurz vor der Aufnahme seiner ersten Platte, hat aber im letzten Moment zurückgezogen. Mit seiner Exfreundin Viki (Agnes Hausmann) hat er einen Sohn, Dominik, um den er sich alle zwei Wochenenden rührend kümmert. Aber der Rickerl führt halt ein patschertes Leben. Kaum Geld, immer kurz vor der Delogierung, und die Frau König vom Arbeitsamt verliert auch zunehmend die Nerven. Nur wenn der Rickerl zur Gitarre greift und seine traurig-melancholischen Lieder anstimmt, passiert etwas mit ihm: Da schleicht sich so ein versonnenes Lächeln in sein Gesicht, die Augen geschlossen geht er völlig in seiner Musik auf, und man merkt: Dieser Rickerl sieht mehr als wir anderen. Er schaut genau hin: Auf die Obdachlosen, die Gescheiterten, auf die Alkoholiker im Stammbeisl, auf die Traurigen und die Verlebten. Er klagt nicht an, er erzählt – vom Scheitern und dem Trotzdem-Weitermachen. Und genau darin spiegelt sich auch Goigingers große Stärke in dem Film: Auch Goiginger ist ein Filmemacher, der nicht mit dem Finger auf andere zeigt und urteilt, sondern seinen Figuren einfach die Hand gibt und sie für sich selbst sprechen lässt, wie er es auch in seinem ersten Film Die beste aller Welten gehalten hat. Voodoo Jürgens ist die Idealbesetzung für den Rickerl. Es bleibt offen (und ist von Voodoo Jürgens auch so gewünscht), wie viel Rickerl in Voodoo Jürgens steckt und wie viel Voodoo Jürgens im Privatmenschen David Öllerer, der im Q&A jedenfalls darauf besteht, dass man diese Figuren, diese Identitäten auch voneinander trennt. Doch der Gedanke liegt nah, dass sowohl Rickerl als auch Voodoo Jürgens Facetten zeigen, die der Darsteller in sich trägt, wenngleich auch künstlerisch verfremdet. Ob es nun so ist oder nicht: Dem Film tut es jedenfalls gut, dass die Grenzen manchmal zu verschwimmen scheinen, denn so bleibt die Figur des Rickerl ungemein authentisch und glaubwürdig.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

She Came to Me (2023)

Regie: Rebecca Miller
Original-Titel: She Came to Me
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Rom-Com, Liebesfilm
IMDB-Link: She Came to Me


Die eigene Psychotherapeutin zu heiraten, klingt erst einmal nach einer soliden Idee. Doch nutzt das auch nur wenig, wenn man erstens, wie es dem Opernkomponisten Steven (Peter Dinklage) ergeht, eine veritable Schaffenskrise hat, die sich in Panikattacken manifestiert, und zweitens die Angetraute (Anne Hathaway) selbst ordentlich einen an der Waffel hat, wie sich in einem ausgewachsenen Putzfimmel zeigt. So richtig kompliziert wird alles, wenn man dann einen zufälligen One-Night-Stand hat mit einer Stalkerin, die an Romantiksucht leidet, der Stiefsohn die minderjährige Tochter der Putzfrau datet und der Vater eben jener Tochter meint, das Recht auch zu Lasten seiner eigenen Familie durchsetzen zu müssen, nur weil er nicht verputzt, dass der Lover seiner Tochter dunkelhäutig ist. Und schon haben wir ein schönes Durcheinander, in dem Peter Dinklage so traurig schauen kann, wie er will – er wird dennoch hemmungslos vom Schicksal durchgebeutelt. Immerhin führt das zu einigen sehr komischen und absurden Situationen, in denen Rebecca Miller das Genre der Rom-Com genüsslich zelebriert und gleichzeitig zeigt, dass sie ihre eigene Geschichte nicht bierernst nimmt. Das tut dem Film gut, der auf diese Weise recht unterhaltsam ist. Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit darunter. Marisa Tomei als Schlepperkahn-Kapitänin und liebesbesessener Love Interest ist ein gutes Beispiel dafür, dass Glaubwürdigkeit eben nicht das Hauptanliegen von Miller war. Zwar spielt sie ihre Figur einmal mehr mit Verve, aber man kauft ihr diese dennoch nicht ab. Auch Dinklage funktioniert als Star der Komponistenszene nur bedingt. Die Panikattacken und das traurige G’schau passen gut zu ihm, aber die Exzentrik des musikalischen Genies wirkt aufgesetzt. Da hat Cate Blanchett in Tár ganz andere Maßstäbe gesetzt. Und Hathaway, die auch als Produzentin agiert, hat mit ihrer Figur zwar sichtlich Freude, aber deren Charakterbogen ist schon sehr weit hergeholt. Auch scheint Miller nicht ganz im Klaren darüber zu sein, welche Geschichte sie nun eigentlich erzählen möchte: Jene des Komponisten in der Krise, jene des Künstlers und seiner Muse, die Geschichte des jungen Pärchens und der Widrigkeiten, die sie erfahren (und die viel zu beiläufig abgetan werden, wenn man bedenkt, was für sie auf dem Spiel steht), jene der Psychiaterin mit Zwangsneurosen? Alles verschwimmt ein wenig ineinander, und ich wiederhole mich: Es ist gut, dass sich der Film nicht selbst zu ernst nimmt, denn dann würde er unweigerlich komplett den Faden verlieren. So bleiben aber zumindest 1,5 unterhaltsame Stunden, über deren Inhalt man vielleicht nicht allzu groß nachdenken sollte oder auch kann, dessen einzelne Szenen aber für sich recht gut funktionieren. Hier ist eben nur das Ganze nicht größer als seine Teile.


5,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Puan (2023)

Regie: Maria Alché und Benjamín Naishtat
Original-Titel: Puan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama
IMDB-Link: Puan


Marcelo unterrichtet Philosophie an der Puan genannten Fakultät in Argentinien. Sein Mentor und Studienprogrammleiter Eduardo ist gerade gestorben, beim Laufen einfach tot umgefallen. Es ist unklar, wie es weitergeht mit dem Studienprogramm, mit Marcelos Vorlesungen, mit allem. Der introvertierte Professor ist einer, dem die Dinge passieren. Und wenn’s blöd läuft, passiert es ihm, dass er sich auf der Parkbank auf eine vollgekackte Windel setzt und quasi im gleichen Atemzug zu einer Memorial-Feier zu Ehren des Verstorbenen eingeladen wird. Bei der auch sein alter Studienkollege Rafael auftaucht, ein Aufschneider, der soeben aus Deutschland zurückgekehrt ist, weil er, so munkelt man, mit einer argentinischen Schauspielschönheit liiert ist. Eigentlich ist Rafael ja nur auf Besuch da, wie er selbst sagt, doch als der Posten der Nachfolge für den verstorbenen Eduardo ausgeschrieben wird, scheint es sich Rafael doch gemütlich einrichten zu wollen, und eine alte Rivalität bricht von Neuem auf. Marcelo ist gezwungen, selbst aktiv zu werden und sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Puan“ von Maria Alché und Benjamín Naishtat erzählt von einem Menschen, der nicht weiß, wofür er steht und was seine Ambition ist. Das Regieduo lässt ihn dabei in allerlei obskure und komische Situationen fallen. Marcello Subiotto verleiht dem antriebslosen Verlierertypen eine Präsenz, die Mitgefühl für diese so oft gescheiterte Person weckt. Doch Alché und Naishtat begnügen sich nicht damit, eine Charakterstudie zu entwickeln und diesen Charakter im Laufe der Geschichte wachsen zu lassen, sondern sie bringen auch noch eine politische Ebene unter. Das ist gleichzeitig eine Stärke des Films wie auch seine größte Schwäche. Denn einerseits bringt diese politische Ebene, eine Abrechnung mit einem System, das Bildung austrocknen lässt, eine für europäische Seher spannende zusätzliche Dimension ein, andererseits wird der Fokus dadurch unscharf. So recht scheint der Film nicht zu wissen, in welche Richtung er sich bewegen möchte. Das Ende immerhin bringt die beiden Ebenen dann doch noch zusammen, und der Film findet einen runden Abschluss.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Holdovers (2023)

Regie: Alexander Payne
Original-Titel: The Holdovers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Weihnachtsfilm
IMDB-Link: The Holdovers


Eine Elite-High School für die Kinder von Reich & Schön im Jahr 1970. Ein grantiger, zynischer Geschichtsprofessor, der zum Aufsichtsdienst während der Weihnachtsferien verdonnert wird. Vier arme zurückgelassene Seelen plus die Köchin der Schule, die ihren Sohn vor kurzem in Vietnam verloren hat. Das ist die Mixtur für Alexander Paynes vielleicht bestem Film überhaupt. In „The Holdovers“ erzählt er von Menschen, die sich alleingelassen fühlen, deren Vergangenheit als großer Schatten über ihnen hängt, und die aber nach und nach erkennen, dass sie sich davon nicht definieren müssen. Vor allem, als ein Teil der Jugendlichen dann doch zum Skifahren abgeholt wird, und Lehrer Paul Hunham mit der Köchin Mary Lamb und dem Schüler Angus Tully zurückgelassen wird, entwickelt der Film, der sich im Grunde in drei Teile unterteilen lässt und damit trotz seiner Laufzeit von über 2 Stunden ungemein kurzweilig wirkt, eine herzerwärmende Dynamik, und die eigentliche Reise zur Erkenntnis beginnt. Die Besetzung spielt diese verlorenen Figuren überragend: Paul Giamatti wurde geboren, um diesen zynischen Grantler zu spielen, Da’Vine Joy Randolph verleiht ihrer fast gebrochenen Figur Grazie und Würde, und Newcomer Dominic Sessa lässt hinter der aufsässigen Fassade immer wieder die tiefen Verwundungen seiner Figur durchblitzen. Ich prognostiziere, dass man zumindest Giamatti und Randolph in der kommenden Award-Season wieder öfter zu Gesicht bekommen wird. Oscarverdächtig spielen beide jedenfalls. Und dank Giamattis Figur habe ich nun eine ganze Reihe kreativer Beleidigungen im Repertoire, die darauf warten, in der Praxis zur Anwendung zu kommen. „The Holdovers“ ist ein fast perfekter Film: Er ist technisch hervorragend gemacht mit Bild und Ton, die direkt den 70ern entstammen könnten, er ist saukomisch, sodass ich vor Lachen geweint habe, dabei aber auch unglaublich tragisch, wenn sich die Hintergrundgeschichten dieser Misfits nach und nach entfalten, er ist unterhaltsam, bietet am Ende eine versöhnliche Botschaft und eine tiefere Erkenntnis, und als Weihnachtsfilm geht er auch noch durch. Danke, Mr. Payne, für diesen Film!


9,0 Kürbisse

(Foto: Seacia Pavao (c) 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved)

The Old Oak (2023)

Regie: Ken Loach
Original-Titel: The Old Oak
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: The Old Oak


2016. Syrische Flüchtlinge kommen in einem Dorf nahe der ehemaligen nordenglischen Industriestadt Durham an. Dieses hat auch schon weitaus bessere Zeiten gesehen. Die trostlosen Reihenhäuser werden für 8.000 Pfund verscherbelt, was die lokale Bevölkerung, die diese Ziegelblöcke einst um 50.000 Pfund gekauft haben, verärgert. Bis in die 80er Jahre hinein war Durham und seine Umgebung belebt – die örtliche Kohlemine sorgte für Arbeit. Doch diese Zeit ist längst vorbei. Die letzten vier Stammgäste sitzen im Pub „The Old Oak“ und kommentieren die Ankunft der Fremden mit Misstrauen und Vorurteilen. Das Leid der Flüchtlinge trifft auf die Tristesse der Zurückgelassenen. Ken Loachs neuester Film könnte eine Blaupause für tragisches Kino sein, das den Zuseher in eine tiefe Depression rutschen lässt. Doch Ken Loach, dieser große Humanist unserer Zeit, verfolgt einen komplett anderen Ansatz. Mit dem Pubbesitzer TJ Ballantyne schafft er eine mitfühlende Figur, die beiden Welten zusammenführt. Dieser von Dave Turner mit viel Zärtlichkeit gespielte Figur ist ein stoischer Bär, der selbst mehr als genug Leid in seinem Leben erfahren hat und sich kaum über Wasser halten kann. Dennoch ist seine Essenz das Mitgefühl, die Mitmenschlichkeit. Er hat keinen Helferkomplex, doch einen offenen Blick und man spürt sein ehrliches Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein. Als durch einen Übergriff bei Ankunft der Syrer die Fotokamera von Yara (Ebla Mari) beschädigt wird, hilft er der jungen Frau ohne Hintergedanken. Schon bald entwickelt sich eine lose Freundschaft zwischen den beiden. Schließlich trägt Yara zusammen mit einer befreundeten Sozialarbeiterin die Idee an TJ heran, Syrer wie Engländer an einen Tisch zu setzen und kostenlose Mahlzeiten für alle anzubieten. Die ganz große Stärke in Ken Loachs Film ist, dass er nicht nur ausschließlich das Schicksal der Geflüchteten im Auge behält, sondern dieses zusammenführt mit der prekären Situation der Dorfbewohner. Auf diese Weise zeigt er auf: Ein Mensch ist ein Mensch. Unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht sind wir alle den Widrigkeiten und Zufällen des Lebens ausgesetzt, die uns mal mehr, mal weniger treffen. Hinter jeder Tür verbirgt sich eine Geschichte, die es wert ist, dass man sie anhört. Ein schöner, stimmiger und in seiner Kernaussage auch unglaublich positiver Film, den es gerade in Zeiten wie heute wohl mehr denn je braucht.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Lakeside Camping (2023)

Regie: Éléonore Santaignan
Original-Titel: Camping du lac
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Camping du lac


Camping klingt in der Theorie ja wunderbar: Man entspannt in der freien Natur, vorzugsweise an den Ufern eines hübsch gelegenen Sees, man ist eins mit der Umgebung, nichts stresst und am Abend gibt’s Marshmallows am Lagerfeuer und irgendeiner holt die Gitarre heraus und singt Kumbaya. So friedlich, so idyllisch. In der Praxis läuft es aber eher darauf hinaus, dass die Hygiene leidet, es sowieso immer regnet und in der Nacht fressen einen die Mücken. Und fad ist es auch. Jedenfalls das Hygieneproblem hat Éléonore Santaignan, die in ihrem Debütfilm „Camping du lac“ gleich auch die Hauptrolle übernimmt, nicht, denn die aufgrund einer Autopanne am Campingplatz Gestrandete kriegt dort eine komfortable Hütte zugewiesen. Außer ihr sind nicht viele andere Menschen an diesem entlegenen See, von dem es heißt, dass der beste Buddy des Heiligen Corentin, ein Fisch, immer noch seine Kreise durch das Wasser zieht, ohne dass man ihn jemals zu Gesicht bekommen hätte. Quasi die Nessy der Bretagne. Die Dauercamper (allesamt Laiendarsteller:innen), zu denen auch bald Éléonore gehört (wohl die längste Autoreparatur der Filmgeschichte), züchten und schlachten Hühner, singen Countrysongs und fadisieren sich gemeinsam durch den Tag. Auch Éléonore entdeckt bald einen Zeitvertreib für sich: Mittels Richtmikrofon lauscht sie dem Gesang von Vögeln und nebenbei auch den banalen Gesprächen der Nachbarn. Nichts passiert, bis eines Tages dann doch eine Sichtung des mythologischen Fisches vermeldet wird und die Touristenhorden einfallen. In der wohl stärksten Sequenz des Films singt der alte, ausgewanderte Amerikaner einen Song mit seiner Tochter, von der er sich entfremdet hat und die in den USA zurückgeblieben ist, doch mit anderen Touristen angeschwemmt wird. Diese Szene ist emotional stark und geht unter die Haut, schafft es Santaignan doch mit nur einem Lied, ein Fundament für eine fragile Beziehung zu schaffen. Darüber hinaus gelingt es aber Santaignan leider nicht, das Interesse des Publikums zu gewinnen und zu halten. Es passiert einfach nichts, die Hauptfigur ist im Grunde nur eine Erzählerin aus dem Off ohne eigene Persönlichkeit, und auch die anderen Figuren bekommen, mit Ausnahme des Amerikaners, nicht genügend Raum, um interessant zu werden. Wie schon gesagt: Camping ist fad.


4,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Europa (2023)

Regie: Sudabeh Mortezai
Original-Titel: Europa
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Politfilm
IMDB-Link: Europa


Die fiktive Organisation EUROPA verteilt in Albanien großzügig Stipendien an Studierende aus sozial schwächeren Schichten und bietet Dorfbewohnern in entlegenen Gegenden viel Geld für ihr Grundstück, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Willkommen in Sudabeh Mortezais Europa, das die europäische Gemeinschaft heraufbeschwört und unter diesem Mäntelchen neoliberale, kapitalistische Interessen verbirgt. Verkörpert wird dieses doppelte Spiel von der deutschen Managerin Beate Winter (Lilith Stangenberg), die den albanischen Dorfbewohnern ihr Land abknöpfen soll. Sie versucht dies mit viel Zureden, mit freundlich-aufgesetzter Mimik, mit dem einen oder anderen Schluck Raki, den sie aus gutem Willen mit ihren Gesprächspartnern trinkt, doch stoßen hier zwei Welten aufeinander: Eine sehr traditionelle, auf religiösen und familiären Werten fußende, die nur die eigenen Nöte des Überlebens kennt, und die großkapitalistische, in der man meint, mit Geld oder Gewalt oder beidem alles erreichen zu können. Das Machtgefälle ist groß, und doch entspinnt sich zunächst ein zähes Ringen um Land und Boden. „Europa“ ist Kapitalismuskritik und ein zutiefst politischer Film, der sein Anliegen aber im Kleinen verarbeitet und sichtbar macht. Hier wird ein Stellvertreterkrieg geführt. Mortezais Arbeitsweise ist eine gesonderte Erwähnung wert: Auf die renommierte Darstellerin Stangenberg trafen fast ausschließlich Laiendarsteller:innen aus der Region, die nicht einmal das Drehbuch zu lesen bekamen, sondern in den Szenen improvisierten. Diese Kluft aus der Arbeitsweise heraus überträgt sich auf die Figuren, wobei es Stangenberg gelingt, ihrer starren Figur, die so sichtbar eine Rolle spielt, in der sie sich auch immer wieder mal unwohl fühlt, eine Brüchigkeit zu verleihen, die das Spiel mit den Rollen umso deutlicher hervortreten lässt. In diesem Sinne betrachtet „Europa“ auch die Zwänge, die in führenden Positionen großer Unternehmen oder Organisationen existieren. Ein spröder, aber ungemein genau beobachteter und stringent erzählter Film.


6,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Club Zero (2023)

Regie: Jessica Hausner
Original-Titel: Club Zero
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Satire
IMDB-Link: Club Zero


So, der Kürbis eures Vertrauens haut jetzt mal ein Statement heraus, an dem ihr euch reiben könnt: Die Fachkritik in Cannes kennt sich nicht aus. Die mochte nämlich Jessica Hausners neusten Film „Club Zero“, der immerhin in den offiziellen Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes eingeladen wurde, so überhaupt nicht. Ich sage ja nicht, dass der Film den Wettbewerb hätte gewinnen sollen, aber die miesen Kritiken scheinen, so deucht es mir nach einigem Überlegen, einen wesentlichen Aspekt des Films zu missverstehen. Es geht darin nämlich gar nicht um einen Diskurs über Essstörungen von Jugendlichen, es geht nicht um eine realistische Bearbeitung dieses schwierigen Themas, sondern „Club Zero“ ist vielmehr eine bitterböse, schwarzhumorige Satire über Manipulation, Gruppenzwang, Leichtgläubigkeit und Obrigkeitshörigkeit, wobei die Obrigkeit nicht unbedingt im Gewand einer staatlichen Autorität gekleidet sein muss, sondern viele Erscheinungsbilder haben kann – es können auch Werte, die man mal wo aufgeschnappt hat, sein. Und wenn man das alles weiterdenkt, landet man bei dem Wort „Zeitgeist“, den Hausner mit ihrem Film kritisch und grimmig betrachtet. Sie nutzt die Geschichte einer etwas esoterisch angehauchten Lehrerin für Ernährung (Mia Wasikowska) an einer Elite-Schule, die den Schülerinnen und Schülern achtsames Essen beibringen möchte und das in immer extremere Gefilde führt, für einen formalistisch streng durchkomponierten Meta-Film über Dogmatismus und dessen Auswüchse. In diesem Film bleibt einem nicht nur das Essen, sondern auch das Lachen im Hals stecken. Und apropos Essen: Wer einen schwachen Magen hat, sollte vielleicht mit Vorsicht an „Club Zero“ herangehen und sich mit einem dieser unauffälligen Papiertütchen, die immer noch in Flugzeugen verteilt werden, für den Kinobesuch ausstatten. Zum Schutz der Kapuze des Vordermanns warat’s.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)