2023

Jahresrückblick – Die Top24-Filme von 2024

2024 war ein Jahr der Veränderungen. Es war ein Jahr, das gezeichnet war von einem langen Leidensweg meiner Mutter, die am 12.12. nach schwerer Krankheit von uns gegangen ist. Die Diagnose haben wir im April erfahren – ab diesem Zeitpunkt war alles ein bisschen anders als vorher. Es war aber auch ein Jahr der Glücksmomente, als ich erfahren habe, dass ich zum ersten Mal Vater werde – und das gleich doppelt. Es ist vermutlich nachvollziehbar, dass Kinobesuche und Filme in der zweiten Jahreshälfte 2024 etwas in den Hintergrund traten. Die heute ausgewertete Statistik warf insgesamt 111 Filmsichtungen aus – ziemlich gleichmäßig verteilt auf neue Sichtungen und Wiederholungen (54 zu 57). Der Anteil an Filmen, die von Frauen gedreht wurden, reduzierte sich auf erschreckende 9% – unter den neuen Sichtungen lag der Anteil mit 14% nur geringfügig höher. Daraus ergibt sich also schon einmal ein Vorsatz für 2025. Von den 54 neuen Sichtungen qualifizierten sich schließlich 38 Filme für meine Top-Liste des Jahres. Meine Kriterien dafür sind wie immer: In die Wertung kommen Filme aus 2024 sowie Filme aus dem Vorjahr, sofern ich sie regulär in einem Kino sichtete. Für eine Top30-Liste wie üblich ist die Ausbeute somit zu gering – man stößt dann schon in Niederungen vor, die ich beim besten Gewissen nicht empfehlen kann. Also gehe ich heuer einen anderen Weg. Ich stelle hiermit meine Top24-Liste des Jahres 2024 vor. Damit brauchte es zumindest 6 Kürbisse, um es auf die Liste zu schaffen.

Und hier nun die Top24 von ’24:

Platz 1: Dune: Part Two von Denis Villeneuve – 9,5 Kürbisse
Auch dieses Jahr hat es Denis Villeneuve, wie schon mit seinem ersten Teil, geschafft, meinen persönlichen Top-Film des Jahres abzuliefern. „Dune: Part Two“ schließt qualitativ nahtlos an den ersten Film an, Stimmung und Atmosphäre suchen ihresgleichen und mit Austin Butler bietet der Film einen denkwürdigen Schurken.

Platz 2: Who by Fire von Philippe Lesage – 8,5 Kürbisse
Meine positive Überraschung der diesjährigen Viennale. Ohne große Erwartungen in diesen frankokanadischen Film reingesetzt und von der Atmosphäre 2,5 Stunden lang mitgerissen worden. Ein Film, der einen Nerv bei mir getroffen hat – ähnlich wie „Riddle of Fire“ letztes Jahr.

Platz 3: Civil War von Alex Garland – 8,0 Kürbisse
Ein Film, der weh tut und den man so schnell nicht noch einmal sehen möchte. Gleichzeitig aber auch die unbedingte Empfehlung, sich das mal anzutun, denn Alex Garland taucht tief in die Abgründe der Menschheit ein, und es ist durchaus lehrreich, diesem blanken Horror ins Auge zu blicken.

Platz 4: All of Us Strangers von Andrew Haigh – 8,0 Kürbisse
Knapp am Stockerl vorbeigeschrammt ist „All of Us Strangers“ – ein Beinahe-Kammerspiel mit zwei grandiosen Darstellern, die in ihrem Spiel eine große emotionale Wucht entfalten. Auch kein Film, den man sich an einem Sonntagnachmittag mal gemütlich nebenbei reinzieht, aber großes, weil vor allem sensibles Kino.

Platz 5: The End von Joshua Oppenheimer – 8,0 Kürbisse
Ein Endzeit-Musical in einem Bunker, das die emotionalen und familiären Probleme der letzten überlebenden Familie der Welt in den Fokus rückt. Das, was Joshua Oppenheimer und sein großartiger Cast hier abliefern, muss man sich erst einmal trauen. Ein Film, der wohl entweder perfekt funktioniert oder überhaupt nicht – je nach Rezipient.

Platz 6: Between the Temples von Nathan Silver – 7,5 Kürbisse
Wieder ein Viennale-Film, doch diesmal nach all der Tristesse der vorigen Filme nun mein Feelgood-Film des Jahres, der in seinem Thema an den großartigen Liebesfilm „Harold und Maude“ erinnert, ohne qualitativ aber ganz an ihn heranzukommen. Dennoch ein schöner, sehenswerter Film.

Platz 7: Liebesbriefe aus Nizza von Ivan Calbérac – 7,0 Kürbisse
In einem anderen Jahr wäre diese leichtfüßige französische Komödie wohl im soliden Mittelfeld meiner Top30-Liste gelandet, heuer reicht es sogar für die Top10. Auch eine positive Überraschung, denn mit französischen Komödien habe ich es eigentlich nicht so. „Liebesbriefe aus Nizza“ ist aber überraschend komisch, ohne die Absurditäten zu sehr auf die Spitze zu treiben.

Platz 8: Speak No Evil von James Watkins – 7,0 Kürbisse
Die James McAvoy-Show. In „Speak No Evil“ zieht er alle Register seines Könnens. Der Film selbst ist solide Thriller-Kost mit einer wohltuenden Erdung in der Realität. Verletzungen tun hier auch mal richtig weh, und wenn wer den Schädel eingeschlagen bekommt, steht er nicht fünf Minuten später wieder auf und stürzt sich brüllend auf die unversehrten Helden.

Platz 9: On Becoming a Guinea Fowl von Rungano Nyongi – 7,0 Kürbisse
Endlich die erste Dame auf der Liste. Rungano Nyongi inszeniert die familiären Verwerfungen nach einem Todesfall mit grimmigem Humor und gleichzeitig einer ordentlichen Portion Mitgefühl. Wahrscheinlich wird es schwierig, den Film hierzulande zu finden und zu sehen, aber wenn er euch irgendwo mal unterkommt, ist hiermit eine warme Empfehlung ausgesprochen.

Platz 10: Kleine schmutzige Briefe von Thea Sharrock – 7,0 Kürbisse
Die Sichtung dieser wundervollen britischen Komödie rund um skandalöse Briefe, die eine ehrbare Bürgerin anonym erhält, fällt durchaus einfacher, ist der Film doch schon auf gängigen Streaming-Anbietern erhältlich. Olivia Colman und Jessie Buckley liefern sich einen höchst amüsanten verbalen Schlagabtausch, der mit Tempo inszeniert wurde.

Platz 11: Alien: Romulus von Fede Alvárez – 7,0 Kürbisse

Platz 12: Alles steht Kopf 2 von Kelsey Mann – 7,0 Kürbisse

Platz 13: Furiosa: A Mad Max Saga von George Miller – 7,0 Kürbisse

Platz 14: To the Moon von Greg Berlanti – 7,0 Kürbisse

Platz 15: A Quiet Place: Tag Eins von Michael Sarnoski – 6,5 Kürbisse

Platz 16: May December von Todd Haynes – 6,5 Kürbisse

Platz 17: Andrea lässt sich scheiden von Josef Hader – 6,5 Kürbisse

Platz 18: Queer von Luca Guadagnino – 6,5 Kürbisse

Platz 19: Matt und Mara von Kazik Radwanski – 6,5 Kürbisse

Platz 20: Dreaming Dogs von Elsa Kremser und Levin Peter – 6,5 Kürbisse

Platz 21: Deadpool & Wolverine von Shawn Levy – 6,5 Kürbisse

Platz 22: The Fall Guy von David Leitch – 6,5 Kürbisse

Platz 23: Challengers – Rivalen von Luca Guadagnino – 6,0 Kürbisse

Platz 24: Planet der Affen: New Kingdom von Wes Ball – 6,0 Kürbisse

Viele Blockbuster und Highlights, die wohl in einigen Bestenlisten des Jahres auftauchen, muss ich erst noch nachholen. Filme wie „Konklave“ zum Beispiel wären sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf meiner Top-Liste aufgetaucht. Aber 2025 ist auch noch ein Jahr.

Und was sind eure Filme des Jahres?

Godzilla Minus One (2023)

Regie: Takashi Yamazaki
Original-Titel: Gojira Mainasu Wan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Action, Drama, Science Fiction
IMDB-Link: Gojira Mainasu Wan


Was den Österreichern die volkstümliche Schlagermusik ist, ist den Japanern Godzilla: Seit Jahrzehnten bringen gruselige Kreaturen unermessliches Leid über die Bevölkerung und zerstören die Zivilisation, und doch sind sie Teil des kulturellen Erbes. Im nun 37. Godzilla-Film (US-Produktionen wie die verunglückte Gurke von Roland Emmerich eingerechnet) erfindet Takashi Yamazaki, der für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet, das Rad bzw. die Echse nicht neu, bettet aber seine Zerstörungsorgien in interessante menschliche Dramen ein. In erster Linie geht es um den Kamikaze-Pilot Koichi Shikishima (Ryonusuke Kamiki), der gleich doppelt Schuld auf sich geladen hat: Nachdem er in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs desertiert, findet er kurz darauf nicht den Mut, mit der Bordkanone seines Flugzeugs den die auf einer Nebeninsel stationierten Mechaniker angreifenden Godzilla zu attackieren. Ob es was gebracht hätte, sei dahingestellt, aber so wird jedenfalls mit Ausnahme von Shikishima und des Chefmechanikers Tachibana die ganze Gruppe von der Riesenechse mit dem schlechten Wutmanagement ausgelöscht. Zurück in Tokio stellt Shikishima fest, dass seine Eltern in den Bombenruinen gestorben sind. Zudem nistet sich die junge Noriko samt Kind, das nicht ihres ist, bei ihm ein. Doch findet Shikishima keine Ruhe, und als Godzilla einige Jahre später erneut gesichtet wird und sich auf den Weg nach Tokio macht, muss sich Shikishima erneut seinen Ängsten stellen. „Godzilla Minus One“ ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: Zum Einen wäre da eben das fast schon stille Post-Trauma-Bewältigungsdrama rund um Shikishima, auf dem der Fokus in der ersten Hälfte des Films liegt. Zum Anderen ist „Godzilla Minus One“ der erste fremdsprachige Film, der jemals den Oscar für die besten Spezialeffekte einheimsen konnte. Und das durchaus verdient. Zwar bewegt sich Godzilla etwas klobig (das liegt wohl in der Natur der Echse), doch die Inszenierung der Zerstörung wirkt brutal, roh und mitreißend. Ohne ein richtiger Godzilla-Kenner zu sein (neben dem schon genannten Emmerich-Verbrechen kenne ich noch den Ur-Godzilla, die US-Neuinterpretation von Gareth Edwards aus 2014 sowie dessen Nachfolgewerke Godzilla II: King of the Monsters und Godzilla vs. Kong), doch reiht sich „Godzilla Minus One“ hinter dem Gareth Edwards-Film als meine persönliche Nummer 2 unter den Monsterechsenfilmen ein.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Kleine schmutzige Briefe (2023)

Regie: Thea Sharrock
Original-Titel: Wicked Little Letters
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Krimi
IMDB-Link: Wicked Little Letters


Es ist empörend: Die in der Gemeinschaft der Kleinstadt Littlehampton so geschätzte Edith (Olivia Colman) erhält reihenweise anonym verfasste Briefe mit den unflätigsten Beschimpfungen. Der Vater (Timothy Spall), unter dessen streng patriarchalischer Obhut die fromme Jungfer lebt, ist sich sicher: Da kann nur die niveau- und geistlose Nachbarin Rose (Jessie Buckley) dahinterstecken! Es ist doch stadtbekannt, dass die verwitwete junge Mutter abends in den Kneipen herumhurt und säuft, das Kind ist auch ganz verzogen, und einen Schwarzen hat sie auch noch als Freund! Da es so nicht weitergehen kann, schreitet nun die Polizei ein und ohne handfeste Beweise, sondern nur auf Basis einer Aussage von Edith wird Rose festgenommen. Doch die junge Polizistin Gladys Moss (Anjana Vasan) traut dem Ganzen nicht. Was, wenn Rose unschuldig ist? Und so beginnt sie, auf eigene Faust zu ermitteln – sehr zum Unbill des Polizeichefs. Was Thea Sharrock mit „Kleine schmutzige Briefe“ auf die Leinwand zaubert, ist höchst amüsantes Wohlfühlkino, das es sich allerdings nicht zu sehr in seiner Komfortzone einrichtet, sondern mit den bissigen Mitteln der Satire ein moralisches Bild zeichnet, das nur vordergründig den Zeitgeist der 20er Jahre einzufangen scheint. Wenn man hinter dieses Bild blickt, nimmt man durchaus aktuelle Bezüge war. Vorverurteilungen aufgrund von Hörensagen kennt man schließlich nur zu gut aus der Welt der (a)sozialen Netzwerke. Und was in Sharrocks Film die kleinen schmutzigen Briefe sind, lässt sich übertragen auf anonyme Hasspostings. So finster diese Parallele auch ist, die man unweigerlich ziehen muss, lässt sich der Film dennoch nicht auf den Boden des großen Dramas hinunterziehen. Er bleibt leichtfüßig und amüsant. Es ist zum Schreien komisch, wenn ein pikierter Anwalt in einem Kleinstadtgerichtssaal der 20er Jahre mit sichtlichem Unbehagen aus den Briefen zitieren muss, die keine Ungehobeltheit und Perversität auslassen, verfickt noch mal. Einzig ein wenig mehr Tiefe hätte man den Nebenfiguren gewünscht. So verbleiben viele entweder auf dem Status der Karikatur (die Männer) oder der Typen (die Frauen). Dieses Manko wird aber immerhin durch Olivia Colmans Darstellung einer vielschichtigen und emotional beinahe unergründlichen Frau, die aufgrund patriarchalischer Fesseln auf kenne nennenswerte Zukunft blicken kann, aber plötzlich dank der Briefe im Mittelpunkt des Interesses steht, ausgemerzt.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Leave the World Behind (2023)

Regie: Sam Esmail
Original-Titel: Leave the World Behind
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Thriller
IMDB-Link: Leave the World Behind


Eine g’stopfte New Yorker Familie (Julia Roberts, Ethan Hawke, Farrah Mackenzie und Charlie Evans) gönnt sich eine Auszeit in einer Villa auf Long Islands, die sie über Airbnb gebucht haben. Als Höhepunkte der ersten Tage kommt es zu einer Wild-Beobachtung im Garten und einer Besichtigung eines Öltankers aus nächster Nähe – das offensichtlich manövrierunfähige Schiff läuft einfach auf dem Strand, an dem die Familie chillt, auf. Als jedoch Internet und Fernsehen ausfallen und mitten in der Nacht ein Unbekannter, der wenig glaubhaft behauptet, das Haus gehöre ihm, samt Tochter (Mahershala Ali und Myha’la Herrold) vor der Tür stehen, wird die Lage doch etwas ungemütlich. In einer Art Schicksalsgemeinschaft unter einem Dach vereint versuchen die beiden von der Zivilisation abgeschnittenen Familien herauszufinden, was da draußen passiert ist bzw. immer noch passiert, während sie sich gegenseitig misstrauisch beäugen. „Leave the World Behind“ funktioniert als Endzeit-Thriller viel mehr über das, was er auslässt, als darüber, was er erzählt. Genauso wie die Hauptfiguren haben auch wir Zuseher ständig Fragezeichen vor der Stirn und versuchen, dem Gesehenen einen Sinn zu verleihen, ohne aber so richtig erfolgreich dabei zu sein. Mag sein, dass diese Herangehensweise bei einigen Teilen des Publikums auf Unverständnis stößt und diese abstößt. Sam Esmail kümmert sich in seiner Verfilmung des Romans von Rumaan Alam nicht um Antworten – es sind die Fragen, die ihn interessieren. Das kann anstrengend sein, und irgendwann muss man dem Publikum auch Hinweise geben und ihm eine Geschichte anbieten. Darauf vergisst Esmail allerdings nicht, sodass „Leave the World Behind“ bei allen Rätseln, die den Film umgeben, am Ende eine runde Sache wird. Fazit: Erfreulich entschleunigtes, atmosphärisch dichtes Endzeitkino, das zwar etwas Geduld erfordert, aber länger nachhallt.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Poor Things (2023)

Regie: Giorgos Lanthimos
Original-Titel: Poor Things
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Poor Things


Der griechische Regisseur Giorgos Lanthimos sieht die Dinge ein wenig anders als die meisten anderen Menschen, wie sich schon in vielen seiner Filme wie etwa The Lobster oder The Killing of a Sacred Deer gezeigt hat. The Favourite – Intrigen und Irrsinn mit einer Oscar-prämierten Olivia Colman und den ebenfalls nominierten Rachel Weisz und Emma Stone war da schon seine zugänglichste Arbeit der letzten Jahre. Mit Emma Stone hat er sich (zusammen mit Willem Dafoe, Mark Ruffalo und Ramy Youssef und Kathryn Hunter in tragenden Nebenrollen) erneut zusammengetan, um ihr in einer Art feministischer Frankenstein-Adaption, basierend auf dem gleichnamigem Roman von Alasdair Gray, die Möglichkeit zu geben, ihren zweiten Oscar zu gewinnen, den sie für „The Favourite“ noch verpasst hat. Emma Stone und Giorgos Lanthimos – das passt einfach. Und seltener war ein Oscargewinn für die beste Schauspielleistung verdienter als für Stone in „Poor Things“. Sie spielt sich nicht nur die Seele aus dem Leib, sondern eben jene in den Leib der von einem genialen Chirurgen zusammengeflickte Bella Baxter hinein. Die hat nämlich eine irre Vorgeschichte: Nach einem geglückten Suizid-Versuch wird sie von Dr. Godwin Baxter (ein monströs entstellter Willem Dafoe) gefunden, das das Gehirn ihres ungeborenen Kindes in den Leib der Verstorbenen verpflanzt. Zu Beginn lernen wir das Kind im Körper der Frau kennen, doch die Fortschritte, die sie macht, sind gewaltig, und bald beginnt sie, sich von ihrem Schöpfer zu emanzipieren. Sie brennt mit dem windigen Lebemann und Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo, der auch längst überfällig für den Goldjungen ist) durch und entdeckt auf ihrer Reise nicht nur die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern auch die Freuden des Lebens, ihre Sexualität und auch das Leid, das durch die Ungerechtigkeit der Welt verursacht wird. Bella begegnet diesem allerdings nicht mit dem Zynismus ihrer Mitmenschen, sondern mit dem reinen Herzen der Unschuld. Eine denkwürdige Figur! Und als wäre die Geschichte nicht schon interessant genug, verpackt sie Lanthimos noch dazu in einer fantastischen, märchenhaften Kulisse, die einen staunen lässt. „Poor Things“ ist ein Gesamtkunstwerk, das allerdings gerade durch die Verfremdung greifbar wird. Denn vor diesem Hintergrund der Verfremdung tritt das Universelle der Geschichte und ihrer Figuren hervor. So ist Lanthimos‘ bislang experimentellster Film gleichzeitig sein vielleicht auch zugänglichster.


8,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

The Marvels (2023)

Regie: Nia DaCosta
Original-Titel: The Marvels
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Science Fiction, Abenteuerfilm, Action
IMDB-Link: The Marvels


Das MCU, das Marvel Cinematic Universe, hat mittlerweile Ausmaße erreicht, die an Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erinnern, nur dass Proust wahrscheinlich einfacher zu verstehen ist. Denn ein Problem ist nicht mehr von der Hand zu weisen: Kennt man nicht alle Filme, alle Serien und weiß der Kuckuck noch, was alles zum Universum gehört, hat man so gut wie keine Chance, sich in den selbstreferenziellen Werken zurechtzufinden. Eine Erleichterung immerhin ist, dass diese Filme und Serie trotz dieses offensichtlichen Problems immer noch recht einfach gestrickt sind: Bösewicht will Böses tun, die Guten haben lustige Fähigkeiten, die dabei helfen, die Schurken zu besiegen und am Ende ist die Welt, das Universum und der ganze Rest gerettet. Auf dem Weg dahin gibt es Schlägereien und Laserwaffen. Und im Falle des viel gescholtenen „The Marvels“ von Nia DaCosta jede Menge Cat Content, der zur Unterhaltung beiträgt, und eine Bollywood’sche Gesangseinlage, die das nicht tut. Ist die massive Kritik, die immer wieder über das neueste Abenteuer aus der Marvel-Schmiede zu lesen ist, gerechtfertigt? Nun, die ist wohl in vielen Fällen zu harsch. Zwar scheitert auch „The Marvels“ daran, die hohe Messlatte, die die Russo-Brüder mit den Avengers-Filmen oder James Gunn mit der Guardians of the Galaxy-Reihe gelegt haben, auch nur annähernd zu erreichen, doch sind die interstellaren Keilereien der drei toughen Damen, die sich aufgrund einer schicksalshaften physikalischen Verschränkung zusammentun müssen (Brie Larson als Captain Marvel, die sich allmählich mit dem Schicksal angefreundet hat, eben diese spielen zu müssen, Teyonah Parris als Monica Rambeau und Iman Vellani als Fangirl Ms. Marvel, die allen die Show stiehlt) immerhin kurzweilig in Szene gesetzt. Die ökonomische Laufzeit von 105 Minuten erlaubt auch keine Seitenschlenker, die die Story noch unverständlicher machen würden. Für einen gemütlichen Abend im Patschenkino passt das schon.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Marvel Studios/Courtesy of Marvel Studios – © 2023 MARVEL., Quelle: http://www.imdb.com)

Killers of the Flower Moon (2023)

Regie: Martin Scorsese
Original-Titel: Killers of the Flower Moon
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi, Western, Historienfilm
IMDB-Link: Killers of the Flower Moon


Die 96. Oscarverleihung ist nun schon wieder Geschichte, und der wohl größte Verlierer des Abends war Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“. Zehnmal nominiert ging er am Ende des Tages ohne einzigem Goldglatzkopf nach Hause. Der Film scheint die Meinungen zu spalten. Sehen die einen ein bildgewaltiges Meisterwerk, können sich die anderen kaum die 3,5 Stunden lang wach halten. Als waschechter Österreicher berufe ich mich mal wieder auf die Neutralität und versuche ganz opportunistisch eine Position in der Mitte zu finden. Auf der Plusseite dieses ambitionierten Werks stehen eine durchaus interessante Geschichte rund um die vielfachen Morde an Stammesmitgliedern der Osage, die durch Ölfunde auf ihrem Land zu Reichtum gelangten (wie so oft gelingt es Scorsese, die dunklen, eher verschwiegenen Kapiteln der amerikanischen Geschichte zu Tage zu bringen und aus ihnen eine Art Zustandsbeschreibung der heutigen Welt abzuleiten) sowie eine sehr eigene und einzigartige, fiebrige Atmosphäre, die durch formvollendete Bilder, aber auch einem genial reduzierten Soundtrack von Robbie Robertson getragen wird. Auch der Cast weiß zu überzeugen, wenngleich Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle des gierigen und etwas naiven Handlangers Ernest Burkhart die Mundwinkel etwas zu weit nach unten hängen und er so fast schon eine Karikatur seines Charakters schafft, und ich Lily Gladstones konzentrierte Darstellung zwar mag, aber nicht als so überragend empfinde wie manch andere Kritiker. Dafür zeigt Robert DeNiro, dass er es immer noch kann, wenn er will, und ausnahmslos alle Nebenrollen sind perfekt gecastet. Aber man muss schon auch über das Thema Ambition reden. Diese ist in jeder Einstellung des Films merkbar – Scorsese wollte hier einmal mehr das große amerikanische Epos schaffen. Und so packt er so gut wie alles in den Film hinein, ohne sich darum zu scheren, ob ihm da Publikum dabei folgen kann oder will. So schleppt sich die erste Stunde des Films recht ereignislos dahin, nur getragen von der interessanten Atmosphäre, und man muss schon Geduld beweisen, bis es mal ein wenig zur Sache geht und der Film Fahrt aufnimmt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, zieht das Tempo aber an und Scorsese spielt all seine Stärken aus. Ein Meisterwerk ist der Film daher aufgrund dieses uneinheitlichen Tempos nicht, aber dennoch gehört er mit Sicherheit zu den stärkeren Beiträgen des vergangenen Kinojahrs, der aber vielleicht im Heimkino sogar noch ein Stück besser aufgehoben ist, da bei 3,5 Stunden die Blase dann doch mal ein wenig zu drücken beginnt.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

All of Us Strangers (2023)

Regie: Andrew Haigh
Original-Titel: All of Us Strangers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: All of Us Strangers


Ein einsamer, homosexueller Drehbuchautor in einem kalten und verlassenen Appartement-Hochhaus in London. Das Leben zieht an ihm vorbei, die Tage sind gleichförmig und werden vorrangig auf der Couch verbracht, während über den Fernseher alte „Top of the Pops“-Folgen flimmern. Eines Tages klopft der einzige Mitbewohner dieses sterilen Hauses an der Tür: Betrunken, ebenfalls vereinsamt und nach Liebe und Geborgenheit suchend. Adam, der Schriftsteller, ist jedoch zu feige und schließt die Tür zunächst wieder. Doch die Neugier siegt, und bei der nächsten Begegnung lässt er sich auf die Avancen des jungen Harry ein. Was zunächst wie eine queere Liebesgeschichte in Anonymität der Großstadt beginnt, entfaltet sich unter Andrew Haighs sensibler Regie bald zu einer Studie von Vereinsamung, Trauer und Verlust. Denn bei einem Besuch seiner Geburtsstadt macht Adam bald eine unerwartete Begegnung: Er trifft auf seine Eltern, die sich im gleichen Alter wie er selbst befinden. Ein Traum? Eine Geistererscheinung? Eine Parallelwelt? Und kann ihm die aufkeimende Liebe zu Harry Halt geben in einer Situation, die Adam zu verschlingen droht? Langsam, aber keinesfalls langatmig tastet sich Haigh mit seinem grandios aufspielenden Cast vorwärts und entfaltet nach und nach das eigentliche Thema des Films bis hin zu seinem bitteren und aufwühlenden Ende. So großartig „All of Us Strangers“ auch inszeniert ist mit seinen weichen, zärtlichen Kamerabildern, dem klug eingesetzten Sounddesign und dem dichten Drehbuch, das der Geschichte dennoch genügend Raum zum atmen lässt, er würde nicht funktionieren ohne der überragenden Leistung des Casts, allen voran Andrew Scott in der Hauptrolle des Adam. Aber auch Paul Mescal als Harry sowie Claire Foy und Jamie Bell als Eltern tragen ihre Figuren mit größtmöglicher Sensibilität und Menschlichkeit und machen „All of Us Strangers“ zu einem gefühlsbetonten Drama, das mit zwar am Überirdischen anstreift, doch dank eben dieser ambivalenten und komplexen Figuren die Beine fest auf dem Boden behält.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Chris Harris/Chris Harris, Quelle: http://www.imdb.com)

Saltburn (2023)

Regie: Emerald Fennell
Original-Titel: Saltburn
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie, Thriller
IMDB-Link: Saltburn


Schaut man die Oscarnominierungen 2024 durch, fehlt ein Film, der im Vorfeld hoch gehandelt wurde: „Saltburn“ von Emerald Fennell, die mit Promising Young Woman 2020 für Furore sorgte. Und da kommt man dann doch ins Grübeln. War der Academy die bitterschwarze, zynische Thrillerkomödie zu derb, zu eklig vielleicht (es gibt zwei, drei Stellen, die berechtigterweise für Kontroversen sorgen)? Andererseits hat Emerald Fennell ja auch in ihrem Vorgängerfilm bewiesen, dass sie auf Konventionen pfeift und einfach ihr Ding durchzieht. Und so ist auch „Saltburn“ ganz eindeutig ein Fennell-Film: Pulsierend, auf eine eher ungute Weise erotisch, mit tollem Soundtrack ausgestattet, mit Bildern, die wie Gemälde wirken (Kamera: der Oscar-dekorierte Linus Sandgren) und einem erneut groß aufspielendem Cast. In diesem Fall glänzt Barry Keoghan in der Hauptrolle des Oxford-Stipendiaten Oliver Quick (wer nun an Charles Dickens denkt, denkt nicht falsch), der aus einfachen Verhältnissen stammt und sich mit dem reichen Erben Felix Catton (Jacob Elordi) anfreundet. Dieser lädt Oliver ein, den Sommer über bei seiner Familie in Saltburn zu verbringen. Um das Anwesen in der Tonalität von Wolf Haas und seiner berühmten Brenner-Romane zu beschreiben: Schloss: Hilfsausdruck. Die Eltern (Rosamund Pike und Richard E. Grant) sind der neuen Bekanntschaft ihres Filius wohlgesonnen, und der lebt sich auch bald recht gut ein. So gut, dass er eigentlich gar nicht mehr weg möchte. Und schon bald zeigt sich, dass mehr in dem schüchternen Kerl steckt, als man auf den ersten Blick wahrnimmt. „Saltburn“ spielt geschickt mit den Erwartungshaltungen des Publikums, die immer wieder unterlaufen werden. Mal absurd komisch, mal sinnlich, mal bedrückend, mal zutiefst zynisch lässt sich der Film keinem Genre klar zuordnen und geht ganz eigene Wege. Auf den beißenden Humor sollte man sich einlassen können, ebenso wie auf die derben Szenen, die aber allesamt (wenig subtil) ein Sittenbild von Reich & Schön und jenen, die gerne dazugehören wollen, zeichnen. Zwar war „Promising Young Woman“ der konzentriertere und inhaltlich überraschendere Film, aber auch „Saltburn“ liefert gekonnte Unterhaltung und zeigt auf, dass Emerald Fennell ein Name ist, den man sich unbedingt merken muss.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Chiabella James/Chiabella James/Prime Video – © 2022 Amazon Content Services LLC, Quelle: http://www.imdb.com)

Im letzten Sommer (2023)

Regie: Catherine Breillat
Original-Titel: L’été dernier
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Erotik
IMDB-Link: L’été dernier


Catherine Breillat steht unter Verdacht, gerne mal filmisch mit Grenzüberschreitungen zu provozieren. Da darf dann auch mal ein *hüstel* gestandener Porno-Darsteller sein gewaltiges Gemächt herzeigen, wie beispielsweise in „Romance XXX“. In ihrem neuesten Film bedient die französische Altmeisterin des provokativen Kinos ein Genre, das für gewöhnlich freizügigen Internetseiten vorbehalten ist: Stiefmutter verführt Stiefsohn. (Jetzt wäre mir mit „Steifsohn“ gerade fast ein Tippfehler unterlaufen, den ich so hätte stehen lassen können.) Wobei: So eindeutig ist die Antwort auf die Frage, wer wen verführt, nicht zu geben. Gut, die scharfe Mama hätte eigentlich wenig Grund, den aufsässigen Gockel, der, weil schwieriges Kind, von seiner leiblichen Mutter zu seinem Vater abgeschoben wird, zum Betthupferl zu machen. Sie ist beruflich erfolgreich, hat zwei entzückende adoptierte Töchter mit ihrem Göttergatten, der zwar vielleicht schon etwas in die Jahre gekommen und leiblich auseinandergegangen ist (und, unter uns gesagt, ein Alkoholproblem hat, wenn er zu jedem Abendessen, das ihm die Gattin hinstellt, ein, zwei Glaserl Whiskey trinken muss), aber es läuft eigentlich ganz gut in ihrem Leben. Das alles auf Spiel zu setzen für ein Tête-à-Tête mit dieser Schmalzlocke von Stiefsohn: Hat sie nicht alle? Aber irgendwas hat dieser Bengel halt schon an sich, der offen rebelliert und eigentlich gar nicht dazugehören will in diese Patchwork-Familie. Warum sich der so an Muttern ranmacht, wird auch nicht ganz klar. Am ehesten kann man sein Verhalten unter jugendlichen Leichtsinn und eben Rebellion verbuchen. Aber es passiert nun mal das, was passiert, und hinterher schauen alle bedröppelt aus: Muttern, weil sie Schuldgefühle hat (Nonanet!), Söhnchen, weil er Gefühle entwickelt (oder zumindest äußert), die nicht erwidert werden. Und schon bahnt sich die große Familientragödie am Horizont an. Was Junior lernen muss: Eine Frau, die alles hat, kann auch alles verlieren und wird sich mit Zähnen und Klauen gegen eben dies zur Wehr setzen. „Im letzten Sommer“ ist natürlich auf Provokation aus. Aber darunter liegt eine Ebene, die den Film, für mich jedenfalls, sehr interessant macht: Nämlich der Umgang mit der Schuld- und Schuldgefühlfrage. Breillat zeichnet das Porträt einer Frau, die andere für ihre Fehler zahlen lässt. Dabei ist sie, hervorragend gespielt von Léa Drucker, gar keine Antagonistin, kein kaltherziges Ekel, sondern eben einfach jemand, der einen gewissen Status und Annehmlichkeiten erworben hat und diese um keinen Preis der Welt aufgeben möchte. Und in gewisser Weise gibt Breillat damit auch einen Kommentar zum Zustand unserer Gesellschaft ab, ob so intendiert oder nicht.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: http://www.imdb.com)