2022

Top Gun: Maverick (2022)

Regie: Joseph Kosinski
Original-Titel: Top Gun: Maverick
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Action, Kriegsfilm
IMDB-Link: Top Gun: Maverick


Der Vorspann läuft, meine Frau dreht sich verwundert zu mir: „Schauen wir noch mal den alten?“ Ich bin selbst verunsichert, doch nein: Da taucht der Name Joseph Kosinski als Regisseur auf, und wir atmen erleichtert auf. Würde man also sagen, dass „Top Gun: Maverick“ eine Verneigung vor dem ersten Film aus 1986 ist, dann wäre das noch eine Untertreibung. Die Musik, die Bilder aus dem Vorspann, selbst Tom Cruises beinahe faltenloses Gesicht – das alles haben wir im ersten Film genauso schon mal gesehen und gehört. Statt seinem Kumpel „Goose“ klimpert nun dessen Sohn „Rooster“ (Miles Teller) auf dem Klavier und singt die gleichen Lieder, statt mit Kelly McGillis hüpft Cruise mit Jennifer Connelly ins Bett, statt F-14 Tomcats fliegen nun F-18 Hornets durch die Gegend, und ein Autoritätsproblem hat Pete „Maverick“ Mitchell immer noch. Alles wie gehabt, und ein bisschen ist das ja auch wie ein Nachhausekommen nach einem sehr langen Urlaub. Alles ist noch am richtigen Platz, vielleicht ein bisschen angestaubt, aber so, wie man es haben möchte. Was bei vielen anderen zweiten Teilen, die im Grunde nur Kopien des jeweiligen ersten Films sind, oft ein großer Nachteil ist, funktioniert bei „Top Gun: Maverick“ jedoch. Die Story ist nämlich wurscht, das war sie im ersten Teil und ist sie auch im zweiten Teil, der im Grunde nur eine Spiegelung des ersten Films ist. Was hier zählt, sind die Schauwerte, die dynamischen Kampfsequenzen in der Luft, das Donnern, wenn die Flugzeuge in Überschallgeschwindigkeit beschleunigt werden. Als Actionfilm funktioniert „Top Gun: Maverick“ extrem gut, die Actionszenen sind sogar noch besser als im ersten Film. Ach, Scheiß drauf, sogar insgesamt ist das Teil besser als der erste Film. Tom Cruise ist entspannter, Connelly noch hübscher als McGillis, und ich behaupte sogar, dass Miles Teller einen besseren Schnurrbart trägt als Anthony Edwards.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Scott Garfield/Scott Garfield – © 2021 Paramount Pictures Corporation. All rights reserved. Quelle http://www.imdb.com)

Skandal! Der Sturz von Wirecard (2022)

Regie: James Erskine
Original-Titel: Skandal! Bringing Down Wirecard
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Skandal! Bringing Down Wirecard


Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Da verdrängt ein junges, aufstrebendes FinTech-Unternehmen namens Wirecard die Deutsche Bank aus dem DAX, dem Deutschen Aktienindex der 40 größten Unternehmen des deutschen Aktienmarktes, und dann kommt so ein neugieriger Journalist aus England und zeigt mit den Fingern auf das Unternehmen: „Aber es hat ja gar keine Kleider an!“ Klar, dass die deutsche Politik da schon mal grantig reagieren kann, wie auch die Führungsebene des bloßgestellten Unternehmens selbst. Aber was ist dran an den Vorwürfen? Ist Wirecard tatsächlich eine windige Organisation, die mit illegalen Mitteln den großen Reibach macht vor den Augen der ganzen Weltbevölkerung? So eine Chuzpe wäre ja kaum jemanden zuzutrauen. Und doch – es verdichten sich die Hinweise, dass hier jemand Luftschlösser gebaut hat, die jederzeit in sich zusammenfallen können. Der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt. James Erskine geht dem Aufstieg und Fall des berüchtigten deutschen Unternehmens nach, lässt Journalisten und Broker zu Wort kommen, denen das alles von Anfang an ziemlich „fishy“ vorkam und zeichnet so eine recht interessante Dokumentation über eines der größten Wirtschaftsverbrechen der jüngeren Vergangenheit. Allerdings hat die Doku ein fundamentales Problem: Zu viele Fragen sind aktuell noch ungeklärt, sodass das Ende unbefriedigend und offen bleibt. Man kann davon ausgehen, dass das finale Kapitel in dieser Geschichte noch nicht geschrieben wurde. Gerade das würde mich aber noch interessieren.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat:Quelle http://www.imdb.com)

The Good Nurse (2022)

Regie: Tobias Lindholm
Original-Titel: The Good Nurse
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Krimi, Drama
IMDB-Link: The Good Nurse


Treffen sich zwei Oscarpreisträger in einem Netflix-Krimi. Vorhang auf für Jessica Chastain und Eddie Redmayne, erstere von mir aufgrund ihrer Vielseitigkeit sehr geschätzt, zweiterer hatte seine Sternstunde als Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ und trägt die Fantastic Beasts-Reihe mit sympathischer Schüchternheit. Dazu noch Darren Aronofsky als Produzent für ein True Crime-Drama, die Vorzeichen stehen also mal nicht schlecht für „The Good Nurse“. Es geht hierbei um eine mysteriöse Todesserie in der Intensivstation des Krankenhauses, für das die aufopfernde Krankenschwester Amy arbeitet. Immer wieder versterben hier überraschend Patientinnen, sodass das Krankenhaus schließlich auch die Polizei einschaltet. Dies aber sehr widerwillig, und rasch wird klar, dass etwas unter den Teppich gekehrt werden soll. Währenddessen schließt Amy Freundschaft mit dem neuen Kollegen Charlie, der schon in diversen Krankenhäusern tätig war, aber nie Fuß fassen konnte. Es entwickelt sich ein Krimi-Plot, der leider so vorhersagbar ist wie die Wetterlage in fünf Minuten. Spannungsarm wird der Plot heruntergekurbelt, und das, was man dem Film eigentlich positiv zugestehen müsste, nämlich, dass er die wahren Begebenheiten nicht überhöht und Dramatisierungen einbringt, die nicht nötig sind, wird ihm tatsächlich zum Verhängnis: Der Film tröpfelt ohne große Höhepunkte vor sich hin. Dass er nicht zum Rohrkrepierer verkommt, liegt am engagierten Spiel von Jessica Chastain, auch wenn der Rest des Casts blass bleibt (inklusive Eddie Redmayne). Der (für mich) fast interessantere Part des Films, nämlich das seltsame Gebaren des Krankenhaus-Managements bei den polizeilichen Ermittlungen, wird nur am Rande gestreift und funktioniert hier bloß als Hindernis, an dem sich die ermittelnden Polizisten (Noah Emmerich und Nnamdi Asomugha) vorbeiwinden müssen. Gerade darin läge aber die vielleicht ergiebigere Geschichte. Doch die ließe sich wohl nicht erzählen, ohne zu sehr ins Fabulieren zu geraten und wurde wohl deshalb auch ausgeklammert. So bleibt „The Good Nurse“ ein routinierter, aber spannungsarmer Krimi.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von JoJo Whilden/JoJo Whilden / Netflix – © 2022 © Netflix, Quelle http://www.imdb.com)

Tori and Lokita (2022)

Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Original-Titel: Tori et Lokita
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Tori et Lokita


Zum Abschluss meiner persönlichen Viennale gab es noch mal richtiges Wohlfühlkino, wie man es von den Brüdern Dardenne gewohnt ist. Die Jungs sorgen immer für Spaß. „Tori et Lokita“ ist da keine Ausnahme und reiht sich in ihr Gesamtwerk stimmig ein. Erzählt wird von einer sehr engen Beziehung zweier minderjähriger Flüchtlinge, die nach langer und beschwerlicher Reise in Belgien gelandet sind und nun – für die Aufenthaltsgenehmigung – beweisen müssen, dass sie Geschwister sind. Was nicht so einfach ist, da sie sich tatsächlich erst auf dem Boot nach Europa kennengelernt haben. In der Zwischenzeit verticken sie Drogen für einen Pizzabäcker, der sich dadurch ein Nebenbrot verdient. Außerdem müssen sie sich mit der Schlepperbande herumplagen, der sie immer noch Geld schulden. Alles wird von Minute zu Minute prekärer, und so bleibt Lokita bald kein Ausweg mehr, als das Angebot des Pizzabäckers anzunehmen, für ihn zwei Wochen lang als „Gärtnerin“ zu arbeiten, sprich: auf der geheimen Hanfplantage. „Tori et Lokita“ zeigt einmal mehr die schier ausweglose Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft auf. Die Dardenne-Brüder haben einen sehr nüchternen, gleichzeitig aber intimen Blick auf diese Figuren, der die tragischen Schicksale nicht dramaturgisch überhöht, doch gerade deshalb eine Kraft entfaltet, die sich in der Magengrube entlädt. Viennale-Festivalkino par excellence. Wer dann noch fröhlich ist, hat sich echt gute Drogen reingepfiffen.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Stars at Noon (2022)

Regie: Claire Denis
Original-Titel: Stars at Noon
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Liebesfilm, Krimi, Erotik
IMDB-Link: Stars at Noon


Trish ist eine junge, durchaus aufmüpfige und selbstbestimmte Journalistin, die während ihres Aufenthalts in der Militärdiktatur kritische Texte über das Regime verfasst hat, was die hiesige Obrigkeit nicht so leiwand findet. Kurzerhand hat man ihren Pass konfisziert und ihr sämtliche Dollars, die einzige Währung, mit der man im Land etwas erreichen kann, abgeknöpft. Kurz: Sie steckt in der Scheiße. Auch ihr widerwilliges Panscherl mit einem höheren Tier im Militär bringt sie nicht weiter. Als sie den charismatischen englischen Geschäftsmann Daniel kennenlernt, wittert sie einen Ausweg aus ihrer Situation, doch je mehr sie sich auf ihn einlässt, desto tiefer wird sie in einen Strudel von Gefühlen, Abhängigkeiten und politischen Verwicklungen hineingezogen. Denn verglichen mit Daniels Problemen sind die eigenen kaum der Rede wert. „Stars at Noon“ ist ein sperriger Film. Claire Denis, die den Roman von Denis Johnson von den 80ern in die heutige Pandemiezeit verlegt hat, erzählt die komplizierte und vielschichte Story eher indirekt und durch Aussparungen. Ihr Fokus liegt auf Trish und ihre zunehmende Verunsicherung, die durch die aufkeimenden Gefühle für Daniel verstärkt wird. Margaret Qualley spielt die sich immer mehr selbst verlierende Journalistin mit vollem Einsatz und scheut auch nicht vor der Menge an Nacktszenen zurück, die das Skript verlangt. Wären diese notwendig gewesen? Auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt, doch spiegeln die Liebeszenen zwischen ihr und ihren Partnern die Beziehungen zu den Männern wider: Während sie den Sex mit dem Kommandanten ausdruckslos über sich ergehen lässt, ist das Betthupferl mit dem smarten Engländer voller Leidenschaft – sie ist zunehmend nicht mehr Herrin der Lage. Generell ist „Stars at Noon“ ein äußerst sinnlicher Film, also einer, der mit allen Sinnen spielt: Das schwüle Klima Mittelamerikas, in dem es abwechselnd wie aus Eimern schüttet oder die Sonne herunterbrennt, ist ebenfalls ein zentrales Element des Films. Fast vermeint man die Mischung. aus Schweiß und stickiger Luft riechen zu können. In der Trägheit der Mittagshitze werden auch die Bewegungen träge, die Geschichte kommt zunehmend ins Stocken, Fluchtversuche werden ungeplant und halbherzig ausgeführt. Für den Zuseher mag das zeitweise anstrengend sein, und doch entwickelt „Stars at Noon“ dadurch eine geheimnisvolle Sogwirkung. Alles fließt. Auch wenn die Lage aussichtslos scheint, so steuert die Geschichte dennoch auf ihr logisches Ende hin, es lässt sich einfach nicht verhindern.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Whale (2022)

Regie: Darren Aronofsky
Original-Titel: The Whale
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama
IMDB-Link: The Whale


Standing Ovations in Toronto für Brendan Fraser, der für Aronofskys „The Whale“ den ersten Schauspielpreis seiner Karriere erhalten hat. Hollywood liebt solche Comebacks, und wen würde es wundern, würde Anfang nächsten Jahres die erste Oscar-Nominierung für den sympathischen Kanadier folgen? Die wäre aber auch so etwas von verdient – wie auch für Hong Chau als beste Nebendarstellerin sowie die Maske bzw. das Make-Up-Department. „The Whale“ erzählt die Geschichte des krankhaft übergewichtigen Schreibcoaches Charlie, der nach einem tragischen Verlust den Boden unter den Füßen verloren hat. Seine medizinische Situation ist mehr als angespannt, und Charlie weiß, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt, um den größten Fehler, den er in seinem Leben gemacht hat, geradezurücken. „The Whale“ basiert auf einem Theaterstück von Samuel D. Hunter und spielt demnach ausschließlich (mit Ausnahme einiger kurzer Rückblenden) im Apartment von Charlie, für ihn eine Schutz bietende Höhle. Regelmäßig Besuch bekommt er von seiner besten Freundin Liz (Hong Chau), seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) und einem zufällig an seine Tür klopfenden Missionar (Ty Simpkins). Wir erleben eine Woche, die wohl entscheidende Woche, im Leben von Charlie. Was reichlich unspektakulär klingt, ist dank Aronofskys präziser Regie und dem herausragenden Spiel von Fraser und auch Chau ein einziger Schlag in die Magengrube, wenn man sieht, wie der gutherzige Charlie gegen die Dämonen der Vergangenheit ankämpft und zusätzlich zweihundert Kilo weiterer Dämonen durch die Wohnung schleppt. Es geht um Fehler und Läuterung, um Familienbande und Liebe, es geht auch darum, den Glauben an die Menschen nicht zu verlieren. Vielleicht mag der Film an der einen oder anderen Stelle inszenatorisch stark überhöht sein, aber diese Überhöhung ist ein Stilmittel, das das Ende des Films konsequent vorbereitet. Ein drastischer Film, wie so oft bei Aronofsky einer aus der Kategorie „großartig, kann ich aber kaum ein zweites Mal sehen“. Spannend ist, dass es aktuell noch keine offiziellen Trailer zu finden gibt.


8,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Broker (2022)

Regie: Hirokazu Koreeda
Original-Titel: Beurokeo
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Beurokeo


Hach, die Viennale und ihre Feelgood-Filme. Begonnen hat alles vor 60 Jahren als „Festival des heiteren Films“, und dieser Linie ist man bis heute treu geblieben, was der diesjährige Überraschungsfilm „Broker“ von Hirokazu Koreeda unterstreicht. In dieser leichten koreanischen Komödie geht es um lustige Themen wie Kindsweglegung, Menschenhandel und Mord. Der Saal hat sich gebogen vor Lachen. Das ist genau diese Art von Unterhaltung, die man in politisch düsteren Zeiten wie heute braucht. Aber jetzt mal Spaß beiseite. „Broker“ schlägt in eine ähnliche Kerbe wie Shoplifters – Familienbande, mit der Koreeda vor einigen Jahren die Goldene Palme in Cannes gewinnen konnte. Aus ungewöhnlichen und tragischen Umständen formt sich so etwas wie eine Familie. In diesem Fall besteht die Familie aus zwei „Brokern“, die weggelegte Babys für gutes Geld an kinderlose Paare verkaufen, der leiblichen Mutter selbst, einer Prostituierten, die nach einem Todesfall auf der Flucht ist, einem ausgebüxten Waisen und natürlich dem Baby selbst. Mutter und Broker verfolgen das gleiche Ziel: Den kleinen Woo-sung verkaufen – die Broker des Geldes wegen, die Mutter, damit sie das Kind in guten Händen weiß. Auf ihren Fersen sind aber zwei Polizistinnen, die die Menschenhändler auf frischer Tat ertappen wollen, sowie ein Schläger der lokalen Mafia. Was allerdings mehr als der Krimi bzw. die kriminelle Handlung selbst im Vordergrund steht, ist eben dieses vorsichtige Entstehen einer fragilen Beziehung zwischen allen Beteiligten, wobei hier selbst die beiden Polizistinnen davon berührt werden. Das alles ist mit leichter Hand und viel Sensibilität erzählt – hier zeigt sich die inszenatorische Stärke Koreedas. Weniger gelungen ist der Handlungsrahmen der polizeilichen Ermittlungen, der doch stark aufgesetzt wirkt, auch wenn die Entwicklung darin der Geschichte dient. So erreicht der Film vielleicht nicht ganz die Stringenz von „Shoplifters – Familienbande“, ist aber ein weiterer gelungener Beitrag Koreedas zum Thema Familie und wichtigen ethischen Fragen, die damit verbunden sind.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Kafka for Kids (2022)

Regie: Roee Rosen
Original-Titel: Kafka for Kids
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Musical, Komödie, Experimentalfilm
IMDB-Link: Kafka for Kids


Franz Kafka war schon ein lustiges Kerlchen. Ihm verdanken wir erbauliche und quietschfidele Geschichten wie „Der Prozess“, „Das Schloss“ oder natürlich die vielleicht berühmteste Metamorphose der Literaturgeschichte, „Die Verwandlung“. Man hat sich eigentlich schon all die Jahrzehnte lang gefragt, warum es noch keine illustrierten Kinderbuchausgaben dieser wundervollen Werke gibt. Der israelische Filmemacher Roee Rosen hat sich nun des Problems angenommen und mit „Kafka for Kids“ endlich eine kindgerechte Adaption der „Verwandlung“ auf die Leinwand gebracht, aufgebaut als Pilotepisode für eine neue Kindershow. Ein seriöser Erzähler liest einem dreiundvierzigjährigen Kind aus der Geschichte vor, während im Hintergrund das Mobiliar fröhliche Lieder dazu singt. (Man fühlt sich zeitweise ein wenig an „Die Schöne und das Biest“ erinnert, aber auf eine eher ungute, leicht pädophile Weise.) Farbenfrohe Animationen begleiten Gregor Samsas Verwandlung zum Insekt. Warum man trotz des Titels und dieser Beschreibung allerdings auf keinen Fall Kinder in die Vorstellung mitnehmen soll, wenn man nicht gewillt ist, für die nächsten zwei Jahrzehnte teure Therapiestunden zu bezahlen, erklärt sich meiner Meinung nach aus dem Drogentrip, auf dem Rosen gewesen sein muss, als er „Kafka for Kids“ entsann. Denn das Wort, das den Film am ehesten beschreibt, ist „trippy“. Da singt ein unvermutet auftretender „Bearer of Bad News“ von wachsenden Tumoren, zwischendurch werden Werbeclips für Delikatessen eingespielt, die nahrhaftes Essen möglichst eklig darstellen, komplett unzusammenhängende Songs werden geträllert, die mit der Story nichts zu tun haben, und am Ende darf man sich noch den Vortrag einer Rechtswissenschaftlerin (das dreiundvierzigjährige Kind) anhören, das über Kinderrechte in Israel und Palästina doziert, während sie an den eigenen Achseln schnüffelt und immer wieder abgleitet in Ausdrücke sexuellen Verlangens. Das mag alles eine unheimlich intelligente Metaebene haben, die mir aber verschlossen bleibt. Ja, es geht darum, wann ein Kind ein Kind ist, wo wir da die Grenzen ziehen zwischen Kindheit und Adoleszenz, aber das ist dermaßen wirr erzählt und von ständigen Ablenkungen durchbrochen, dass man den Eindruck gewinnt, der Regisseur hätte einfach nur versucht, einen zweistündigen Egotrip auszuleben. Es gibt mit Sicherheit Publikum für diese Art von Film, aber der Kürbis gehört nicht dazu.


2,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Banshees of Inisherin (2022)

Regie: Martin McDonagh
Original-Titel: The Banshees of Inisherin
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: The Banshees of Inisherin


Das Trio Martin McDonagh, Colin Farrell und Brendan Gleeson hat mit der schwarzen Komödie Brügge sehen … und sterben? für Furore gesorgt. Die drei passen auch wunderbar zusammen: Gleeson spiegelt die McDonagh’sche Lakonie, und Colin Farrell trägt mit seiner Verhuschtheit die Geschichte. Doch funktioniert das auch ein zweites Mal? Die Antwort als Spoiler vorab: Und wie! „The Banshees of Inisherin“ spielt auf der titelgebenden abgeschiedenen Insel vor der irischen Küste zu Beginn der 20er Jahre. Auf dem Festland tobt ein Bürgerkrieg, den niemand hier verstehen kann, und die einzigen Freizeitbeschäftigungen bieten das lokale Pub sowie das Verbreiten von Klatsch im Dorf. Klar bricht da erst einmal eine Welt zusammen, wenn der langjährige beste Freund einen plötzlich meidet, und, noch schlimmer, dann unumwunden zugibt, dass er nichts mehr mit dieser Freundschaft zu tun haben möchte, er langweile sich und habe Besseres vor in seinem Leben, Musikstücke komponieren zum Beispiel. Pádraic, der Abgewiesene, versteht die Welt nicht mehr und versucht, seinen alten Freund Colm von diesem Nonsens abzubringen. Der droht mit drastischen Maßnahmen, würde seine Privatsphäre weiterhin verletzt werden. Und so schaukelt sich die Geschichte allmählich hoch, aber mit einer solchen Lakonie und einem dermaßen trockenen Witz, dass man die Handschrift McDonaghs schon von weitem erkennt. „The Banshees of Inisherin“ ist so vieles gleichzeitig: Lakonische Komödie wie Shakespeare’sches Drama, und dazu auch noch (man muss genau hinblicken, aber dann erkennt man es) eine Allegorie auf den irischen Bürgerkrieg von 1922 bis 1923, als aus Freunden plötzlich verbitterte Feinde wurden. Man könnte in stundenlangen Diskussionen Schicht für Schicht des Films abtragen und würde immer noch neue Facetten entdecken. Verletzter Stolz? Soziale Zwänge? Die Sprachlosigkeit der Männer, die sich stur lieber ihrem Schicksal ergeben, als aufeinander zuzugehen? Die Machtlosigkeit, mit der man manchen Veränderungen gegenübersteht? Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt? Alles da in Martin McDonaghs Meisterwerk. Dennoch hätte das alles auch fürchterlich schief gehen können, hätte er nicht mit Farrell (mit seiner vielleicht besten Schauspielleistung überhaupt) und Gleeson zwei Giganten an seinem Set gehabt, die diesen Facettenreichtum stemmen können. So aber ist der Film ein großer Wurf und eines der Highlights des Jahres.


8,5 Kürbisse

(Foto: Photo by Jonathan Hession. Courtesy of Searchlight Pictures (c) 2022 20th Century Studios. All Rights Reserved. Quelle: http://www.viennale.at)

Close (2022)

Regie: Lukas Dhont
Original-Titel: Close
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Drama
IMDB-Link: Close


Den Belgier Lukas Dhont muss man im Auge behalten. Schon Girl war ein sehr gelungener Beitrag zu Fragen der Geschlechteridentität. In „Close“, seinem neuesten Film, geht er weiteren Fragen nach Identität und sozialer Rolle nach, biegt dann aber überraschend in ein komplett anderes Terrain ab, nämlich dem Umgang mit Verlust, Schuldgefühlen und Trauer. Da schlägt das misanthropische österreichische Herz höher. Feel-Bad-Movies – auch die Belgier haben’s drauf. Allerdings ist „Close“ nicht einfach nur Tristesse pur, sondern ein hochsensibel erzähltes Drama rund um die Freundschaft zweier unzertrennlicher Jungs, die eines Tages in der Schule mit der Frage konfrontiert werden, ob sie denn ein Paar wären. Während der sensible, träumerische Rémi (Gustav de Waele) auf diese Frage einfach schweigt, grenzt sich Léo (Eden Dambrine) sofort von dieser Frage ab und in weiterer Folge von Rémi. Intimität und Nähe nehmen zunehmend ab, es entsteht eine Kluft, die unüberbrückbar scheint. Und so muss man als Zuseher mitansehen, wie alles immer schlimmer und schlimmer wird, bis es zu Ereignissen kommt, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Yay, dafür geht man doch gerne ins Kino. Ein bisschen die Depressionen auffrischen, bevor uns der Winter so richtig in die Glieder fährt. In diesem Sinne ist diese Anmerkung durchaus als Triggerwarnung zu verstehen – wer ein sensibles Gemüt hat, dem wird der Film ordentlich in die Magengrube treten. Es ist dieser pure Realismus, der den Film so schwer verdaulich macht. Hier wird nichts der Story wegen überhöht, die auf der Leinwand gezeigte Geschichte wirkt echt, die Gefühle sind nachvollziehbar, das Leben läuft einfach immer weiter und weiter, man muss funktionieren, man muss leben. Diese Zerrissenheit, die sich aus der Diskrepanz zwischen sozialen Anforderungen und der inneren Gefühlswelt ergibt, zeigt Jungdarsteller Eden Dambrine mit einer Meisterschaft, die sämtlichen erwachsenen Darsteller:innen (und das sind u.a. mit Émilie Dequenne und Léa Drucker in den Mutterrollen keine unbekannten) in den Schatten stellt. „Close“ ist herausragendes realistisches Kino, aber eben mit Vorsicht zu genießen.


8,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)