1001 Filme

Sie küssten und sie schlugen ihn (1959)

Regie: François Truffaut
Original-Titel: Les Quatre Cents Coups
Erscheinungsjahr: 1959
Genre: Drama
IMDB-Link: Les Quatre Cents Coups


Es ist nicht ganz einfach, Filme, die ganze Strömungen oder Genres (mit)begründet haben, viele Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen einer Bewertung zu unterziehen. Vieles von dem, was damals bahnbrechend und neu war, wurde zum Standard und später von anderen Filmen vielleicht sogar besser umgesetzt. Und so ist „Sie küssten und sie schlugen ihn“, jener Film, der nicht nur Truffauts Karriere begründete, sondern gleich die gesamte Strömung der französischen Nouvelle Vague, filmhistorisch höchst interessant, aber aus heutiger Sicht eben manchmal auch etwas sperrig. Der Film folgt dem 14jährigen Antoine Doinel, der zwischen innerfamiliären Spannungen (eine kaltherzige, abweisende Mutter, ein überforderter, in der Erziehung richtungsloser Vater), schulischem Leistungsdruck und dem Gefühl, an einem Scheidepunkt seines Lebens zu stehen und aus gewohnten Bahnen ausbrechen zu müssen, aufgerieben wird. Truffaut zeigt auf, welche Faktoren aus dem unmittelbaren Umfeld dazu führen (können), dass man als junger Mensch die Richtung verliert und eventuell in Bahnen gerät, die sich später als falsch herausstellen. „Sie küssten und sie schlugen ihn“ ist ein Coming-of-Age-Film, allerdings ein nicht unbedingt optimistischer. Der Versuch der Selbstbefreiung zeigt immer wieder ungewünschte Konsequenzen, und ob der junge Antoine den Sprung in ein freies, glückliches Erwachsenenleben schafft, wird sich erst nach dem Abspann weisen. Auf diese Weise ist der Film sehr ehrlich und authentisch. Gleichzeitig ist er nicht frei von Schwächen. Er hat seine langweiligen Momente und seine Redundanzen, für die man ein bisschen Sitzfleisch benötigt. Das eindringliche Ende entschädigt aber dafür.


7,0
von 10 Kürbissen

Die Taschendiebin (2016)

Regie: Park Chan-wook
Original-Titel: Ah-ga-ssi
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Erotik, Krimi, Liebesfilm
IMDB-Link: Ah-ga-ssi


Der südkoreanische Regisseur Park Chan-wook zählt spätestens seit seiner „Vengeance-Trilogie“ mit „Oldboy“ als zentralem Kernstück zu den interessantesten Regisseuren der Gegenwart. Nach seinem letzten Film „Stoker“, ein Ausflug ins englischsprachige Kino, kehrt Park mit „Die Taschendiebin“ wieder nach Asien zurück. Er erzählt die Geschichte eines Dienstmädchens im von Japan besetzten Südkorea und von ihrer neuen Aufgabe im Haus der jungen japanischen Erbin, die wohl schon bald ihren Onkel ehelichen muss, wäre da nicht der junge, dominante Zeichenlehrer. So weit, so gewöhnlich. Aber: Schon früh wird klar, dass ganz andere Ziele verfolgt werden, der Reichtum der Erbin nämlich, um deren Gewinn ein ausgeklügeltes Komplott gesponnen wird. Was dann allerdings die schönen Pläne zu durchkreuzen droht (oder ist es etwa auch Teil des Plans?): Die Liebe. Und zwar aufkeimende Zuneigung zwischen Dienstherrin und Dienstmädchen. Aber was ist davon echt, was gespielt? Wer verführt wen? Wer verfolgt dabei noch ganz andere Absichten? „Die Taschendiebin“ ist ein erotisches, opulentes, dekadentes, kaleidoskopartiges Krimi- und Liebesspiel. Je nach Perspektive, die der Zuseher einnimmt, verändert sich die ganze Handlung des Films. Dabei ist der Film in seiner Grundtonalität stets sehr sinnlich. Die Sexszenen sind sehr explizit inszeniert – ein Kritikpunkt, der in weniger wohlwollenden Kritiken immer wieder genannt wird. Nun kann man aber (muss man aber nicht) die ganze Geschichte auch als weibliche Befreiung von einer männlich dominierten, patriarchalischen Sexualität sehen – die weiblichen Geschlechtsakte stehen in ihrer sinnlichen Wollüstigkeit dieser harten, männlichen Sexualität entgegen. Durchaus ein starkes Zeichen und klares Statement. Wer sich an ausgedehnten erotischen Spielereien stört, für den ist „Die Taschendiebin“ vielleicht nicht der ideale Film. Wer sich den Film gerade wegen dieser Spielereien ansehen möchte, sollte vielleicht auch lieber die Finger davon lassen, denn „Die Taschendiebin“ bleibt in erster Linie eine Befreiungsgeschichte mit Krimihandlung und ist definitiv kein Softporno. Wer sich aber für einen Film begeistern kann, der die Sinne und den Verstand gleichermaßen anspricht, sollte hier durchaus den einen oder anderen Blick riskieren, denn sowohl von den Bildern, der Musik und der Ausstattung her als auch, was die Handlung und wie diese erzählt wird betrifft, ist „Die Taschendiebin“ ein weiteres Meisterwerk in Park Chan-wooks Filmografie.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Koch Media)

Harold und Maude (1971)

Regie: Hal Ashby
Original-Titel: Harold and Maude
Erscheinungsjahr: 1971
Genre: Komödie, Liebesfilm
IMDB-Link: Harold and Maude


Harold ist ein unglaublicher reicher junger Mann (Bud Cort), der unter der Fuchtel seiner Mutter steht und vom Tod besessen ist. Bei einem Begräbnis, seiner etwas morbiden liebsten Freizeitbeschäftigung, lernt er die 79jährige Maude (Ruth Gordon, unfassbar gut) kennen, die fortan wie ein Wirbelwind durch sein bislang tristes Leben fegt. Deren unkonventionelle Art, das Leben mit offenen Armen zu umarmen, lässt auch Harold einige Dinge anders sehen. Daraus entspinnt sich eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der Filmgeschichte.  Was „Harold und Maude“ so besonders macht, ist der vorurteilsfreie Blick. Man spürt: Beide Figuren haben ihre Geschichten in der Vergangenheit, die sie zu den Menschen gemacht haben, die sie sind, aber diese Entwicklung, die sie genommen haben, muss sich nicht rechtfertigen, wird nicht erklärt oder aufgerollt oder bewertet – der Film stellt die beiden einfach hin und sagt: „Sehet! Zwei Menschen. Und es ist mir als Film völlig egal, ob ihr Zuseher aufgrund gesellschaftlicher Konventionen der Meinung seid, dass die nicht so recht zusammenpassen wollen.  Lasst sie einfach Mensch sein. Lasst sie lachen und tanzen.“ Ein sehr zarter, lebensbejahender Film, musikalisch untermalt mit Songs von Cat Stevens. Zurecht ein Kultfilm. „I love you.“ – „Oh, that’s beautiful! Go and love some more!“


8,5
von 10 Kürbissen

Get Out (2017)

Regie: Jordan Peele
Original-Titel: Get Out
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Horror, Thriller, Satire
IMDB-Link: Get Out


Das Regiedebüt von Jordan Peele ist derzeit in aller Munde und überaus erfolgreich. „Get Out“ ist der derzeit zweiterfolgreichste Rated-R-Horrorfilm der Geschichte (hinter „Der Exorzist“). Auch die Kritiker lieben den Film. Dementsprechend groß waren meine eigenen Erwartungen. Und „Get Out“ hat diese nicht enttäuscht. Was als Horrorfilm vermarktet wird, sich wie ein Psychothriller mit Horrorelementen und teils satirischen Anstrichen anfühlt, erweist sich als kluges und unglaublich spannendes und unterhaltsames Statement zum Alltagsrassismus in den USA. Chris, ein junger, wohlerzogener und schwarzer Fotokünstler, begleitet seine weiße Freundin zu deren Eltern in ein abgelegenes Landhaus. Er wird freundlich von den Eltern aufgenommen, nur der Bruder ist passiv aggressiv, und die beiden schwarzen Bediensteten verhalten sich merkwürdig und feindselig. Irgendetwas stimmt hier nicht so wirklich. Oder bildet er sich alles nur ein?

Jordan Peele zeigt auf, wie unterschwellig Rassismus auch stattfinden kann, selbst in liberalen Kreisen. Auch wenn Chris von der Familie freundlich aufgenommen wird, so ist seine andersfarbige Haut dennoch immer wieder (teils ungewollt) ein Thema. Es findet eine deutliche Abgrenzung statt zwischen Chris und der Familie, und die Versuche, Brücken zu schlagen, zeigen erst die Gräben auf. Auf seine Art ist „Get Out“ neben dem diesjährigen Oscar-Gewinner „Moonlight“ ein zweiter wichtiger Film zur afroamerikanischen Minderheit und deren (Alltags-)Problemen. Während allerdings „Moonlight“ bewusst schwere Kost ist, kommt „Get Out“ in einem sehr unterhaltsamen und satirischen Horrorsujet daher und vermittelt damit seine Botschaften unterschwelliger. Der Film macht Spaß – und regt danach zum Nachdenken an. Unterm Strich bleibt „Get Out“ immer noch ein recht klassischer Horrorthriller und ist damit in einem Genre angesiedelt, das mich nur selten begeistert, und er ist, was seine oberflächliche Handlung betrifft, auch sehr vorhersehbar, aber durch diese zusätzliche Ebene der Rassismus-Thematik sticht der Film in seinem Genre deutlich und positiv hervor. Ich halte es für durchaus möglich, dass wir uns vor der nächsten Oscar-Verleihung wieder über diesen Film unterhalten werden.


7,5
von 10 Kürbissen

Frühling für Hitler (1968)

Regie: Mel Brooks
Original-Titel: The Producers
Erscheinungsjahr: 1968
Genre: Komödie, Musikfilm / Musical, Satire
IMDB-Link: The Producers


Der ehemals so erfolgreiche Broadway-Produzent Max Bialystock (Zero Mostel, herrlich überdreht) hat ein Problem: Er ist nicht mehr erfolgreich. Im Gegenteil – um sich irgendwie über Wasser zu halten, bandelt er mit alten Witwen an, um ihnen ein paar Dollars für fiktive Theaterproduktionen abzuluchsen. Auftritt des Buchhalters Leo Bloom (Gene Wilder, hysterisch und Oscar-nominiert). Der überkorrekte und völlig neurotische Angsthase spinnt ein theoretisches, buchhalterisches Konstrukt, das Bialystock aufhorchen lässt: Wenn es einem gelänge, einen geplanten Flop zu produzieren, könnte man damit eine Menge Geld machen. Und zwar ist der Plan ganz simpel: Man bringt eine hohe Summe von Sponsoren auf, verwendet nur einen Bruchteil davon für die Produktion des Stücks und kassiert den Rest selbst ein. Je weiter man weg ist von der Gewinnzone, desto höher ist der Betrag, der den Produzenten bleibt, da die Sponsoren nur mitknabbern, wenn das Stück Geld abwirft. Diese Idee greift Bialystock sofort auf. Es gilt also, das schlechteste Broadway-Stück aller Zeiten zu produzieren. Und was wäre dafür vielversprechender, als das Theaterstück „Frühling für Hitler“ des Alt-Nazis Franz Liebkind (Kenneth Mars, nie ohne Stahlhelm) zu nehmen, der damit dem Führer Gerechtigkeit widerfahren lassen möchte, und darauf den schlechtesten Regisseur aller Zeiten anzusetzen, der daraus eine Revue-Musical-Nummer macht? Ein todsicherer Plan …

Allein schon wegen der Musicalnummer am Ende weiß man, warum „The Producers“ regelmäßig zu den besten Komödien der Filmgeschichte gezählt wird. Mel Brooks, selbst Jude, zieht den Erzfeind Hitler dermaßen konsequent ins Lächerliche, dass einem beim Ansehen auch heute noch die Spucke wegbleibt. Wenn die SS im Stechschritt eine Hakenkreuz-Formation tanzt, dann wird klar: Mel Brooks hatte wirklich Eier. „The Producers“ ist eine hinreißend hysterische, völlig durchgeknallte und wirklich vor nichts und niemanden Halt machende, bitterböse Satire auf die Geldgier, auf das Hitler-Regime, auf windige Broadway-Produktionen und die seltsamen Blüten des Kapitalismus. Das Nummernschild des Schlachtschiffs in „Spaceballs“, einer weiteren grandiosen Mel Brooks-Komödie, fällt einem in diesem Zusammenhang ein: „We break for nobody!“

Allein die Tonalität des Films ist gewöhnungsbedürftig. Hier wird geschrien, gefuchtelt, getanzt, gebrüllt, geschwitzt und hysterisch gelacht. Da ist kein leiser Ton dabei, alles ist bis zum Exzess überdreht. Das war mir persönlich an manchen Stellen sogar ein bisschen too much, aber saukomisch ist und bleibt der Film dennoch.


7,5
von 10 Kürbissen

Moonlight (2016)

Regie: Barry Jenkings
Original-Titel: Moonlight
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: Moonlight


„Moonlight“ – Oscar für den besten Film. Was sagen die Leute in der Viktoria-Kantine dazu? Gut? Schlecht? (Kleiner Insider für Aficionados des österreichischen Fußballs.) Dass „Moonlight“ in einem dramatischen Finish nach einem noch nie dagewesenen Oscar-Fauxpas dem großen Favoriten „La La Land“ noch den Preis für den besten Film des Jahres buchstäblich vor der Nase weggeschnappt hat, war die wohl größte Überraschung einer ansonsten überraschungsfreien Oscarnacht. Und ich muss sagen – auch wenn „La La Land“ insgesamt noch mehr mein Film war – unverdient war das nicht. Denn Barry Jenkins erzählt eine ganz eigene, wichtige, kaum erzählte Geschichte von einer Welt, die mir zwar fremd ist, aber die existiert, und die durch diesen Film eine Stimme bekommt. Es geht um das Aufwachsen eines afroamerikanischen Jungen aus prekären Verhältnissen in Miami (die Mutter, grandios gespielt von Naomie Harris, ist cracksüchtig und arm), und als wäre das Leben damit nicht schon schwierig genug für ihn aufgrund der Umstände, die ihn umgeben, kommt als zusätzlicher Stein im Rucksack seine Homosexualität dazu, die in einer Welt, in der die Schwächsten gnadenlos gefressen werden, verborgen bleiben muss und später durch den jungen Erwachsenen durch zur Schau gestellte Härte überdeckt wird. Der Film erzählt von der Suche nach Liebe und Zuneigung in einem Umfeld, in dem genau das als Schwäche gilt. Ausgerechnet durch den Drogenhändler Juan (verdienter Oscar für Mahershala Ali) erfährt der Junge so etwas wie das Gefühl von Familie, von Zugehörigkeit, sodass sein weiterer Weg kein trostloser ist, zwar begleitet von Niederlagen, aber es ist ein Leben, das dabei herauskommt, mit Höhen und Tiefen, aber ein Leben.

„Moonlight“ ist vielschichtig, sensibel erzählt, herausragend gespielt und handwerklich toll gemacht (vom Schnitt über die Musik bis zur Kameraarbeit von James Laxton, der seinem Protagonisten immer folgt, immer nah dran ist, und ihm so eine sehr körperliche Präsenz verleiht) – und damit ein würdiger Gewinner in meinen Augen. Dass er für mich persönlich dennoch ein klein bisschen hinter anderen Filmen zurückblieb, die für den besten Film in Frage kamen (wie eben „La La Land“, „Arrival“ oder auch „Manchester by the Sea“), liegt daran, dass er mich emotional nicht so stark erreichte wie eben manch anderer Film. Ja, das Drama ist wuchtig und ungemein interessant, da man eben die Geschichte, die darin erzählt wird, noch nicht wirklich kennt, und so nimmt einen der Film über die ganze Laufzeit hinweg gefangen, aber der ist eben auch ein Stück weit weg von meiner eigenen Lebensrealität.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Thimfilm)

La La Land (2016)

Regie: Damien Chazelle
Original-Titel: La La Land
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Musikfilm / Musical
IMDB-Link: La La Land


Diese Rezension wurde verfasst im Rahmen der Viennale 2016.

Das Beste kommt zum Schluss. Ein sehr guter Viennale-Jahrgang wird beendet mit einer quietschvergnügten und knallbunten Explosion. „La La Land“ von Damien Chazelle, der mich schon mit seinem Erstling „Whiplash“ begeistert hat, ist so ganz anders als das sinistere Psychospiel, weist aber die gleichen Tugenden auf (das hohe Tempo, die großartigen Bilder, das gewitzte Spiel mit Licht und Schatten) und macht so ziemlich alles richtig. Ryan Gosling macht eine wunderbare Wandlung vom bemitleidenswerten Fiesling zum absoluten Sympathieträger durch, und Emma Stone ist überragend. Smells like Oscars, jedenfalls für Emma Stone. Die Story ist zwar recht konventionell und weitestgehend überraschungsfrei (mein einziger größerer Kritikpunkt), aber das bunte und laute Abenteuer macht einfach Spaß. Nach den vielen stillen und subtilen Filmen der letzten Tage kam dieser Knall zum Abschluss gerade recht. „La La Land“ ist ganz klar kein Film, der sich an seine Zuseher heranschleicht, sondern er kommt mit Pauken und Trompeten, nein, einer ganzen Blasmusikkapelle. Kitsch? Ja, klar – und wie! Mich hat es mitgerissen, ich bin hingerissen.

Nachtrag:

„La La Land“ hat auch beim zweiten Ansehen großartig funktioniert – jedenfalls für mich. Ich verstehe, warum dieser Film polarisiert, warum ihn viele als belanglos halten. Er behandelt kein wichtiges politisches oder soziales Thema, sondern ist einfach nur eine Liebesgeschichte mit Musik und Tanz. Aber hey – sind es nicht die banalen Dinge wie Musik und Tanz und ist es nicht das große, allumfassende Gefühl der Liebe, was uns Menschen schließlich ausmacht? „La La Land“ wird bei den Oscars durchmarschieren, und das passt schon so.


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Constantin)

Manchester by the Sea (2016)

Regie: Kenneth Lonergan
Original-Titel: Manchester by the Sea
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: Manchester by the Sea


Das fürs sechs Oscars (allesamt in Hauptkategorien) nominierte Drama „Manchester by the Sea“ erzählt eine Geschichte von Verlusten, von Depressionen, von den ganz großen Niederlagen im Leben und dem Versuch, trotzdem irgendwie weiterzumachen. Das ist harter Stoff, der es dem Publikum nicht einfach macht. Gut möglich, dass man getriggert wird von Kenneth Lonergans Film, wenn man selbst schon Erfahrungen mit solchen oder ähnlichen Situationen gemacht hat, wie sie im Film gezeigt werden. Aber wenn man sich darauf einlässt, erhält man die vielleicht ehrlichste und schonungsloseste Erzählung über die oben genannten Themen seit langem – sowie eine grandiose Darstellerriege, angeführt vom alles überragenden Casey Affleck. Eigentlich sollte er sich den Oscar nur noch abholen müssen, wären da nicht unschöne Missbrauchsvorwürfe, die in der jüngeren Vergangenheit wieder hochgeploppt sind. Rein von der darstellerischen Leistung her aber ist Caseys Affleck Darstellung des vom Leben gebrochenen Einzelgängers Lee Chandler, der aufgrund des frühen Todes seines Bruders nun plötzlich das Sorgerecht für dessen Sohn Patrick (Lucas Hedges) übertragen bekommt, eine Offenbarung. Eine extrem kontrollierte und nuancierte Darstellung, die durch die kleinen Bewegungen und Gesten spricht und damit den ganzen Schmerz, den Lee Chandler in sich trägt, immer wieder sichtbar macht, ohne aber durch den Holzhammer auf das Publikum einwirken zu müssen. Zudem ist „Manchester by the Sea“ großartig geschrieben mit klugen, lebensnahen Dialogen. Ich rieche zumindest einen Oscar für Kenneth Lonergan für das beste Drehbuch, wenn er schon in den Kategorien für den besten Film und die beste Regie leer ausgehen wird.


8,0
von 10 Kürbissen

Hell or High Water (2016)

Regie: David Mackenzie
Original-Titel: Hell or High Water
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Krimi, Western
IMDB-Link: Hell or High Water


Der Süden der USA ist knochentrockenes Land. Die Landschaft ist trocken, die Menschen haben tiefere Falten als der Grand Canyon, Sitten und Leben sind rau. In diesem Setting spielt der Krimi / Neo-Western von David Mackenzie. Zwei Brüder (Ben Foster und Chris Pine) rauben Banken aus, um ihr Land zu retten, ein Polizist kurz vor dem Ruhestand (Jeff Bridges, für diese Rolle erneut oscarnominiert) folgt ihnen. Das alles ist nicht wirklich neu – es werden berechtigte Erinnerungen an beispielsweise „No Country for Old Men“ wach, der aber sicherlich der radikalere Film war. Dennoch ist „Hell or High Water“ dank ausgezeichneter Schauspieler, einer starken Kamera-Arbeit und einem guten Drehbuch, das langsam, aber mit sicherem Gespür für Timing die Schrauben festzieht, ein guter Film. Die Stärke von „Hell or High Water“ ist tatsächlich, dass er sich Zeit nimmt, um die Figuren auszuarbeiten. Wer schnelle Action sucht, ist hier definitiv falsch. Wenn die Gewalt allerdings ausbricht, dann unvermittelt und brachial, dann stellt sie eine echte Zäsur dar. Insgesamt ist „Hell or High Water“ kein Genre definierendes Meisterwerk, und er hat auch ein paar Längen, aber dass man diesen Film als Best Picture für den Oscar nominiert hat, kann ich jedenfalls nachvollziehen. Er ist einfach verdammt gut gemachtes, sehr solides und staubtrockenes amerikanisches Erzählkino. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt. Übrigens: Für die musikalische Hintergrundbeschallung zeichnen Nick Cave und sein alter Weggenosse Warren Ellis verantwortlich. Der großartige Soundtrack passt zum Film wie die Faust aufs Auge.


7,0
von 10 Kürbissen

Jackie – Die First Lady (2016)

Regie: Pablo Larraín
Original-Titel: Jackie
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Biopic, Historienfilm, Politfilm
IMDB-Link: Jackie


Alle Zutaten für einen Filmkürbis-Lieblingsfilm sind angerichtet: Natalie Portman, Jugend-Crush und immer noch hochgeschätzte Schauspielerin, spielt Jackie, die Ehefrau bzw. Witwe von JFK in einem Film von Pablo Larraín, der mich vor kurzem erst mit „Neruda“ begeistert hat. Der Trailer verspricht menschliche Abgründe, tolle Dialoge und große Schauspielkunst. Aber hält er diese Versprechen auch? Leider nur zum Teil. „Jackie“ ist großartig gespielt, keine Frage. Ob nun Natalie Portman mit einer Leistung, für die sie ihren zweiten Oscar bekommen müsste (wäre da nicht Emma Stone im Weg), oder Peter Sarsgaard als Bobby Kennedy, der selige John Hurt als zweifelnder, gedankenvoller Priester oder Billy Crudup als charismatischer Journalist – jede Rolle ist toll besetzt und gespielt. Und ja, die Dialoge sind (zumeist) intelligent und abgründig. Aber etwas Entscheidendes fehlt dem Film, um so richtig zu zünden: Und das ist bedauerlicherweise die Tiefe der Figuren. Man sieht eine verzweifelte Jackie, eine tapfere Jackie, eine ratlose Jackie, der Film kreist um sie und ihre Gefühlsausbrüche und auch die Versuche, eben jene zu kontrollieren, aber trotzdem bleibt Larraín mit seinem Film an der Oberfläche. Die Geschichte, die „Jackie“ erzählt, handelt von Verlust (vom privaten Verlust eines geliebten Menschen wie auch von einem Verlust von Anerkennung, von Bedeutung, von Lebenssinn), behandelt aber dieses Thema dermaßen zentral und ausführlich, dass kein Raum bleibt für die Figuren, andere Facetten von sich zu zeigen. Der Film wird somit bedrückend und wirkt teilweise langatmig. Absolut kein schlechter Film, aber nach dem Ansehen hatte ich das Gefühl, dass der Film mehr eine theoretische Abhandlung über Trauer ist als ein Stück Leben, das im Gleichklang mit seinen Protagonisten atmet. „Jackie“ ist gut gemachtes, aber trotz der Intimität seines Porträts ein wenig distanziertes Kino.


6,0
von 10 Kürbissen