Drama

The Lost King (2022)

Regie: Stephen Frears
Original-Titel: The Lost King
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Biopic, Drama, Komödie
IMDB-Link: The Lost King


Das Leben schreibt die besten Geschichten. Da gab es mal so einen buckligen König in England, Richard III., der in der entscheidenden Schlacht vom späteren Tudor-König Heinrich dem Vielten (ich komme immer durcheinander mit den gleich heißenden englischen Königen und ihren Nummerierungen) eins auf die Mütze bekam und dessen Leichnam danach angeblich in den Fluss geworfen wurde. Ein ebenfalls nicht unbekannter Schriftsteller mit dem Namen William Shakespeare (glücklicherweise ohne Nummerierung) brachte dann Aufstieg und Fall von König Richard III. in seinem gleichnamigen Stück auf die Bühne, woraufhin die ganze Welt inklusive dem englischen Königshaus dann der Meinung war: Das war ein böser Bursche, ein Usurpator, lange leben die Tudors! Nur eine schottische Hobby-Historikerin mag nicht so recht an die Geschichte des fiesen Herrschers glauben und auch nicht, dass sein Leichnam unauffindbar verloren ging. So steigert sich Philippa Langley (die großartige Sally Hawkins), verfolgt von einer rätselhaften und gar nicht buckligen Erscheinung des verschollenen Königs selbst, in die Mission hinein, die sterblichen Überreste von Richard III. zu finden. Wie gut, dass der Archäologe Richard Buckley (Mark Addy) gerade von seiner Universität Leicester vor die Tür gesetzt wurde und nun Geld verdienen muss. Mit den Moneten, die Philippa auftreibt, kommt man ja eine Weile über die Runden, und wenn die Dame nun Löcher ins leicester’sche Straßennetz graben will, dann sei es halt so. Doch der Rest ist … Geschichte. Stephen Frears konzentriert sich in seiner Verfilmung dieser irren Story, wie Richard III. nach über 500 Jahren dann doch noch ausgebuddelt wurde, weniger auf die Suche selbst, sondern mehr auf Philippa und ihren Kampf gegen die Männerwelt, die sie belächelt, solange sie noch keine Ergebnisse vorzuweisen hat, dann aber ganz schnell ganz vorne steht, wenn die Lorbeeren verteilt werden. Und das ist durchaus ein löblicher Aspekt, der hier beleuchtet wird. Allerdings leidet der Spannungsaufbau der Geschichte darunter, denn mindestens ebenso interessant wäre ein tieferer Einblick in Philippas Recherchen gewesen, die aber mittels ein paar angedeuteter Videocalls mit anderen Historiker:innen und dem Kauf einiger Bücher zu Richards Leben abgetan werden. Und das ist schade. Auch bin ich nicht davon überzeugt, dass Philippas Zwiesprache mit der Erscheinung des Königs einen echten Mehrwert stiften, auch wenn dieser sympathisch von Harry Lloyd dargestellt wird. So schrullig hätte Hawkins als Philippa Langley aber gar nicht sein müssen, das war dann doch ein wenig zu viel des Guten.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Anatomie eines Falls (2023)

Regie: Justine Triet
Original-Titel: Anatomie d’une chute
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Anatomie d’une chute


Eine deutsche Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem sehbeeinträchtigen Sohn in einem Chalet bei Grenoble. Sie gibt ein Interview, bricht dieses allerdings ab, als ihr Mann im Dachboden laut Musik zu spielen beginnt, der Sohn geht mit dem Hund auf einen Spaziergang durch die Winterlandschaft, und als er zurückkehrt, findet er den Leichnam seines Vaters vor dem Haus. Was zunächst wie ein klassischer Whodunit-Krimi beginnt, schlägt schon bald in ein Justiz-/Gerichtsdrama um, doch auch diese Genreeinordnung bietet lediglich einen Rahmen für die eigentliche Geschichte, um die es Justine Triet mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnetem Film. Unter ihrer einfühlsamen und kontrollierten Regie entfaltet sich ein Beziehungsdrama, das grausam vor den Augen und Ohren der im Gerichtssaal Anwesenden seziert wird, von einem hysterischen Staatsanwalt und von der Verteidigung selbst im Versuch, die des Mordes beschuldigte Ehefrau zu rechtfertigen. Im Zentrum: Eine undurchschaubar wirkende Sandra Hüller, die ihrer Figur eine wundervolle Ambivalenz verleiht und gleichzeitig die Sympathien auf ihre Seite zeigt durch eine Wahrhaftigkeit, die immer wieder durchschimmert. Das ist nicht nur Oscar-verdächtig, das ist sogar Oscar-schuldig! Ebenfalls im Fokus von Triet: Der Sohn, der wie ein Spielball von der Justiz benutzt wird, ist er doch der einzige Zeuge in diesem Prozess. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter steht in der Anklagebank, und der 11-jährige Junge entscheidet mit seiner Aussage über das weitere Schicksal seiner Familie. Das ist heftiger Stoff, der von Triet ohne große Gefühlsduselei und gerade deshalb so mächtig wirkend umgesetzt wird. Am Ende kann es keine Gewinner geben, sondern nur ratlos Überlebende, die nun versuchen müssen, ihren Weg weiterzugehen, nachdem ihr Leben grell ausgeleuchtet und kommentiert wurde. Ein unglaublich starker Film, dem man seine gelegentlichen Längen verzeiht, da er dann doch bis zur letzten Szene fesselt und darüber hinaus noch lange beschäftigt.


8,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Here (2023)

Regie: Bas Devos
Original-Titel: Here
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Here


Es braucht eine Weile, bis man in Bas Devos‘ Film „Here“ hineinfindet. Man blickt auf die Baustellen von Hochhäusern, sieht Bauarbeiter in einer Gruppe stehen und ihr Mittagessen verzehren, sieht sie auf dem Heimweg, es passiert nicht viel, und dann ist man in der Wohnung des rumänischen Bauarbeiters Stefan (Stefan Gota), der seinen Kühlschrank ausräumt und aus den Gemüseresten Suppe kocht, da er demnächst über den Sommer in die Heimat fahren möchte. Allerdings streikt sein Auto, sodass er dieses übers Wochenende bei einem befreundeten Mechaniker abstellen muss. Gemeinsam essen sie Suppe, Stefan streift durch Brüssel, durch den Wald, der sich am Rand der Stadt erstreckt, und dort trifft er auf die Botanikerin Shuxiu (Liyo Gong), die Moos studiert. Im Grunde ist damit auch schon der größte Teil des Films erzählt, und ja, das klingt zunächst einmal ziemlich langweilig. Doch geht Bas Devos sehr behutsam mit seinem Film und seinen Figuren um. Vieles schwingt im Subtext mit, vieles bleibt unausgesprochen und wird nicht thematisiert: Das zuweilen harsche Leben von Migranten, das Gefühl der Zerrissenheit zwischen Heimat und neuem Lebenssitz – das alles klammert Devos explizit aus, lässt es aber implizit mitschwingen, in den Blicken der Darsteller:innen, in ihrem oft gezeigten Alleinsein und auch in Stefans Kontaktaufnahme mit seinen Mitmenschen, indem er ihnen Suppe bringt. Es passt sehr gut zum Film und zu Devos‘ Ansatz, dass die Annäherung zwischen Stefan und Shuxiu nicht den üblichen filmischen Mustern folgt und es auch offen bleibt, wohin diese erste Annäherung führen kann und wird. Devos ist nicht daran interessiert, sein Thema auszuerzählen, sondern er fängt Momente ein, und diese Momente stehen auch nicht immer in kausaler Verbindung, und doch geht man als Zuseher diesen Weg mit, da das Leben eben nicht immer kausal ist, wie Regisseur und Hauptdarstellerin im Q&A nach der Vorführung richtigerweise feststellen. „Here“ fühlt sich somit sehr authentisch und echt an und lädt ein, noch lange über die Figuren nachzudenken. Eine besonders wichtige Rolle spielt hierbei auch das Sounddesign, denn Devos gelingt es, mit einer Fokussierung des Sounds auf die Geräusche der Natur das menschliche Dasein in eben diese einzubetten. So werden Stefan und Shuxiu auf ihren Kern, wenn man so will: die Seele, heruntergebrochen, und das ist ein richtig schöner Ansatz für einen Film.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Die Theorie von allem (2023)

Regie: Timm Kröger
Original-Titel: Die Theorie von allem
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Science Fiction, Krimi
IMDB-Link: Die Theorie von allem


Regisseur Timm Kröger wünschte sich vor der Vorführung seines Films „Die Theorie von allem“ ein intelligentes Publikum. Nun, manche Wünsche gehen in Erfüllung, manche aber eben nicht, und ein Kürbis hat nun mal nur den Intellekt eines Gemüses. Aber vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, dass der Kaiser, in diesem Fall Timm Krögers Film, gar keine Kleider anhat. Denn dieser scheint, so jedenfalls aus den laienhaften Augen eines Kürbisses betrachtet, dem Motto „style over substance“ zu folgen. Ein Physikerkongress in den 60er Jahren in den Schweizer Alpen, zu dem ein junger Doktorand mit seinem mürrischen Doktorvater anreist, eine mysteriöse Musikerin, zwei Kinder, die nach einem Absturz im Krankenhaus landen und seltsame Dinge gesehen haben wollen – die Ausgangsbasis wäre eigentlich vielversprechend. Doch hat „Die Theorie von allem“ ein gravierendes Problem: Vor lauter Bemühen, einen Film Noir zu drehen, vergisst Timm Kröger auf die Geschichte. Im Grunde ist „Die Theorie von allem“ eine Aneinanderreihung von Filmzitaten, handwerklich gut gemacht, keine Frage, doch inhaltsleer und uninspiriert. Timm Kröger ist eben kein Alfred Hitchcock, doch gewinnt man den Eindruck, dass er es gerne wäre. Den Darsteller:innen kann man kaum einen Vorwurf machen. Jan Bülow in der Hauptrolle bemüht sich redlich, und Olivia Ross darf eine sehr klassische geheimnisvolle Schöne geben. Vielleicht ist sie einen Tick zu spröde in der Rolle, aber auch sie agiert solide. Hanns Zischler und Gottfried Breitfuss in den Rollen rivalisierender Physiker schrammen zwar nahe an Klischees und Overacting vorbei, fallen aber zumindest nicht negativ auf. Dass der Film – Pardon! – ein ziemlicher Schmarrn ist, liegt am Drehbuch und der drögen Inszenierung, die es fast schon auf bewundernswerte Weise schafft, jegliche Andeutung von Spannung gekonnt zu umschiffen. Wer sich für komplexe, aber stringent umgesetzte Parallelweltengeschichten interessiert, greift lieber zur Serie „Dark“, die gezeigt hat, wie sich ein solches Thema umsetzen lässt: Intelligent, aber den Zuseher dabei nicht aus den Augen verlierend.


3,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

Regie: Elene Naveriani
Original-Titel: Shashvi shashvi maq’vali
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Shashvi shashvi maq’vali


Laut Aussage der sehr sympathischen und reflektierten Regisseurin Elene Naveriani ist ihr Film „Amsel im Brombeerstrauch“ quasi das „Avatar“ Georgiens: Über 10.000 Besucher zählte das einfühlsame und stille Drama im Heimatland bereits, und diese gewaltige Resonanz zeigt, dass Naveriani mit der Verfilmung des Bestsellers „Amsel, Amsel, Brombeerstrauch“ von Tamta Melashvili einen Nerv getroffen hat, so wie auch die Schriftstellerin selbst, die für die Vorlage gesorgt hat. Es tut sich etwas in der georgischen Gesellschaft. Denn in „Amsel im Brombeerstrauch“ werden althergebrachte und scheinbar fest einzementierte Rollenbilder in Frage gestellt. Etero, eine 48jährige Frau, lebt allein ihr ruhiges Leben in einem kleinen Dorf. Sie betreibt einen kleinen Laden, und Genuss zieht sie aus Brombeerpflücken und Kuchen. Sie wirkt stoisch und unnahbar, hat aber gleichzeitig eine sehr sinnliche Seite, und so landet sie eines Tages recht unvermutet im Bett mit dem verheirateten Lieferanten Murman. Nachdem der gegangen ist, kommentiert sie dieses überraschende Ereignis mit einem trockenen „Da geht sie dahin, die 48jährige Jungfräulichkeit“. Diese Szene bereitet diese spannende, vielseitige Figur perfekt auf: Etero ist eine Frau, die in keine Schublade passt, die ihren eigenen Weg geht, auch wenn dieser weit abseits ausgetretener Pfade verläuft, und natürlich stößt sie damit auf Widerstand. Die Frauen in ihrem Dorf können ihr Handeln und ihre Einstellung nicht nachvollziehen. Es gibt Gerede. Doch auch dieses prallt an Etero ab, die stark wie ein Felsen wirkt. Und doch kommt es zu einem Moment, in dem auch Etero verletzlich wirkt und sich zeigt, dass alles im Wandel ist, auch das Leben von Etero selbst. Mit Etero haben Melashvili, Naveriani und vor allem auch die überragende Darstellerin Eka Chavleishvili eine Figur geschaffen, die eine starke Resonanz erzeugt und dem weiblichen Empowerment eine ganz eigene Stimme verleiht.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

Regie: Adrian Goiginger
Original-Titel: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Musikfilm
IMDB-Link: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby


Die Wiener und ihr Sinn fürs Morbide. Während der Ambros Woifi den Zentralfriedhof hochleben hat lassen, gräbt Voodoo Jürgens gleich die Toten aus. Dieser Star der jungen neuen Welle des Austropops, dessen Musik noch eine Schicht tiefer unter die Haut geht als die seiner Vorgänger, spielt in Adrian Goigingers neuestem Film den „Rickerl“ Bohacek, einen Beislmusiker und AMS-Stammgast ohne Ambitionen. Klar, er hat einen Manager, der sichtlich an ihm verzweifelt, und vor einiger Zeit stand er schon mal kurz vor der Aufnahme seiner ersten Platte, hat aber im letzten Moment zurückgezogen. Mit seiner Exfreundin Viki (Agnes Hausmann) hat er einen Sohn, Dominik, um den er sich alle zwei Wochenenden rührend kümmert. Aber der Rickerl führt halt ein patschertes Leben. Kaum Geld, immer kurz vor der Delogierung, und die Frau König vom Arbeitsamt verliert auch zunehmend die Nerven. Nur wenn der Rickerl zur Gitarre greift und seine traurig-melancholischen Lieder anstimmt, passiert etwas mit ihm: Da schleicht sich so ein versonnenes Lächeln in sein Gesicht, die Augen geschlossen geht er völlig in seiner Musik auf, und man merkt: Dieser Rickerl sieht mehr als wir anderen. Er schaut genau hin: Auf die Obdachlosen, die Gescheiterten, auf die Alkoholiker im Stammbeisl, auf die Traurigen und die Verlebten. Er klagt nicht an, er erzählt – vom Scheitern und dem Trotzdem-Weitermachen. Und genau darin spiegelt sich auch Goigingers große Stärke in dem Film: Auch Goiginger ist ein Filmemacher, der nicht mit dem Finger auf andere zeigt und urteilt, sondern seinen Figuren einfach die Hand gibt und sie für sich selbst sprechen lässt, wie er es auch in seinem ersten Film Die beste aller Welten gehalten hat. Voodoo Jürgens ist die Idealbesetzung für den Rickerl. Es bleibt offen (und ist von Voodoo Jürgens auch so gewünscht), wie viel Rickerl in Voodoo Jürgens steckt und wie viel Voodoo Jürgens im Privatmenschen David Öllerer, der im Q&A jedenfalls darauf besteht, dass man diese Figuren, diese Identitäten auch voneinander trennt. Doch der Gedanke liegt nah, dass sowohl Rickerl als auch Voodoo Jürgens Facetten zeigen, die der Darsteller in sich trägt, wenngleich auch künstlerisch verfremdet. Ob es nun so ist oder nicht: Dem Film tut es jedenfalls gut, dass die Grenzen manchmal zu verschwimmen scheinen, denn so bleibt die Figur des Rickerl ungemein authentisch und glaubwürdig.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Comedy of Innocence (2000)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Comédie de l’innocence
Erscheinungsjahr: 2000
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Comédie de l’innocence


Eine Familie feiert den 9. Geburtstag ihres Sohnes Camille. Es gibt Kuchen, der Kleine filmt mit seiner Filmkamera, der Onkel kommt dazu, man scherzt miteinander, anschließend geht Bursche mit der Haushälterin in den Park, die Mutter kommt nach, wenngleich auch arg verspätet, da sie sich mit ihrem Bruder verplaudert hat. Alles gut soweit. Doch plötzlich spricht Camille seine Mutter mit Vornamen an und besteht darauf, dass sie nicht seine Mutter ist. Er heiße Paul und wohne in einer weit entfernten Straße, wohin er nun gerne zurückkehren möchte. Ariane, die Mutter (Rollkragenkönigin Isabelle Huppert), ist verständlicherweise irritiert, doch lässt sie sich auf das Spiel ein und bringt Camille zur Adresse, die ihr der Junge nennt. Und siehe da: Dort wohnt Isabelle (Jeanne Balibar), deren Sohn Paul, der am gleichen Tag wie Camille geboren ist, vor zwei Jahren bei einem Bootsunglück ertrunken ist. Spätestens jetzt hat der geneigte Zuseher Gänsehaut und wähnt sich in einem Horrorfilm. So einfach macht es einem Raúl Ruiz aber nicht, wenngleich er den Thrill der Situation genüsslich auskostet. Seine Filme gehen nicht den geraden Weg, sondern schleichen sich auf Umwegen und über Hintertüren in den Kopf. Und so kommt Isabelle in das Haus von Ariane. Dass ein Gemälde über das Urteil des Salomo im Speisezimmer hängt, bringt – wenig subtil, doch zielführend – dem Geschehen Kontext. Zugegeben, ich habe mir nicht leicht getan mit den ersten beiden Filmen von Raúl Ruiz, die ich gesehen habe. Faszinierend, aber sperrig und schwer zu verstehen. „Comédie de l’innocence“, mein dritter Film des chilenischen Regisseurs, ist nun eindeutig zugänglicher als „Tres tristes tigres“ und „Fado majeur et minor“ und lässt den Funken endlich überspringen. Das Rätselhafte, Surreale bleibt, doch kann man der Geschichte gut folgen, die dann auch zu einer stimmigen Auflösung findet. Von den drei gesichteten Filmen von Raúl Ruiz ist „Comédie de l’innocence“ wohl der am besten geeignete, um einen ersten Blick auf das Schaffen des Regisseurs zu werfen.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Puan (2023)

Regie: Maria Alché und Benjamín Naishtat
Original-Titel: Puan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama
IMDB-Link: Puan


Marcelo unterrichtet Philosophie an der Puan genannten Fakultät in Argentinien. Sein Mentor und Studienprogrammleiter Eduardo ist gerade gestorben, beim Laufen einfach tot umgefallen. Es ist unklar, wie es weitergeht mit dem Studienprogramm, mit Marcelos Vorlesungen, mit allem. Der introvertierte Professor ist einer, dem die Dinge passieren. Und wenn’s blöd läuft, passiert es ihm, dass er sich auf der Parkbank auf eine vollgekackte Windel setzt und quasi im gleichen Atemzug zu einer Memorial-Feier zu Ehren des Verstorbenen eingeladen wird. Bei der auch sein alter Studienkollege Rafael auftaucht, ein Aufschneider, der soeben aus Deutschland zurückgekehrt ist, weil er, so munkelt man, mit einer argentinischen Schauspielschönheit liiert ist. Eigentlich ist Rafael ja nur auf Besuch da, wie er selbst sagt, doch als der Posten der Nachfolge für den verstorbenen Eduardo ausgeschrieben wird, scheint es sich Rafael doch gemütlich einrichten zu wollen, und eine alte Rivalität bricht von Neuem auf. Marcelo ist gezwungen, selbst aktiv zu werden und sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Puan“ von Maria Alché und Benjamín Naishtat erzählt von einem Menschen, der nicht weiß, wofür er steht und was seine Ambition ist. Das Regieduo lässt ihn dabei in allerlei obskure und komische Situationen fallen. Marcello Subiotto verleiht dem antriebslosen Verlierertypen eine Präsenz, die Mitgefühl für diese so oft gescheiterte Person weckt. Doch Alché und Naishtat begnügen sich nicht damit, eine Charakterstudie zu entwickeln und diesen Charakter im Laufe der Geschichte wachsen zu lassen, sondern sie bringen auch noch eine politische Ebene unter. Das ist gleichzeitig eine Stärke des Films wie auch seine größte Schwäche. Denn einerseits bringt diese politische Ebene, eine Abrechnung mit einem System, das Bildung austrocknen lässt, eine für europäische Seher spannende zusätzliche Dimension ein, andererseits wird der Fokus dadurch unscharf. So recht scheint der Film nicht zu wissen, in welche Richtung er sich bewegen möchte. Das Ende immerhin bringt die beiden Ebenen dann doch noch zusammen, und der Film findet einen runden Abschluss.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Fado, Major and Minor (1994)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Fado majeur et mineur
Erscheinungsjahr: 1994
Genre: Drama
IMDB-Link: Fado majeur et mineur


Raúl Ruiz zum Zweiten. Nach seinem Debütfilm Three Sad Tigers springen wir nun ein Vierteljahrhundert weiter und gehen nach Portugal. Pierre, Touristenführer und ehemaliger Vertreter für die Enzyklopädie Britannica, steht plötzlich wie der Ochs‘ vorm Berg und erkennt weder die Stadt, durch die er seine Gäste führt, noch sein eigenes Leben. In seinem Apartment trifft er auf einen rätselhaften jungen Mann und dessen Tochter, der auf Rache aus ist. Aber an wem? Und weshalb? Pierre wird in einen Fiebertraum aus Wollust, Rache und Betrug hineingezogen. Mit der schönen Tänzerin und Prostituierten Ninon vergnügt er sich auf einer versifften Herrentoilette, mit Joachim zieht er durch geheimnisvolle Nachtclubs. Die Ebenen von Realität und Fiktion sowie zeitliche Dimensionen verschwimmen. „Fado majeur et minor“ versucht erst gar nicht, die lose auf einer Erzählung von Fjodor Dostojewski basierende Geschichte zugänglich zu machen. Man tappt als Zuseher genauso im Dunkeln wie Pierre selbst, dem Hauptdarsteller Jean-Luc Bideau übrigens einen der denkwürdigsten Bärte der Filmgeschichte verpasst hat. Doch wenn man sich auf dieses surreale Abenteuer einlässt, entfaltet der Film einen rätselhaften Sog. „Fado majeur et minor“ ist kein Film, dem man sich mit seinem Kopf, seinem Verstand annähern kann, sondern nur mit einem Bauchgefühl, das zunehmend unguter wird, was aber nicht gegen den Film spricht. Man muss eben diese abenteuerliche Reise mitmachen, ohne das Ziel zu hinterfragen, um Genuss aus dem Film zu ziehen. Aber dann punktet er mit surrealer Erotik, erinnerungswürdigen Bildern und charismatischen Darstellerinnen und Darstellern, deren seltsames Handeln lange nachwirkt.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Holdovers (2023)

Regie: Alexander Payne
Original-Titel: The Holdovers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Weihnachtsfilm
IMDB-Link: The Holdovers


Eine Elite-High School für die Kinder von Reich & Schön im Jahr 1970. Ein grantiger, zynischer Geschichtsprofessor, der zum Aufsichtsdienst während der Weihnachtsferien verdonnert wird. Vier arme zurückgelassene Seelen plus die Köchin der Schule, die ihren Sohn vor kurzem in Vietnam verloren hat. Das ist die Mixtur für Alexander Paynes vielleicht bestem Film überhaupt. In „The Holdovers“ erzählt er von Menschen, die sich alleingelassen fühlen, deren Vergangenheit als großer Schatten über ihnen hängt, und die aber nach und nach erkennen, dass sie sich davon nicht definieren müssen. Vor allem, als ein Teil der Jugendlichen dann doch zum Skifahren abgeholt wird, und Lehrer Paul Hunham mit der Köchin Mary Lamb und dem Schüler Angus Tully zurückgelassen wird, entwickelt der Film, der sich im Grunde in drei Teile unterteilen lässt und damit trotz seiner Laufzeit von über 2 Stunden ungemein kurzweilig wirkt, eine herzerwärmende Dynamik, und die eigentliche Reise zur Erkenntnis beginnt. Die Besetzung spielt diese verlorenen Figuren überragend: Paul Giamatti wurde geboren, um diesen zynischen Grantler zu spielen, Da’Vine Joy Randolph verleiht ihrer fast gebrochenen Figur Grazie und Würde, und Newcomer Dominic Sessa lässt hinter der aufsässigen Fassade immer wieder die tiefen Verwundungen seiner Figur durchblitzen. Ich prognostiziere, dass man zumindest Giamatti und Randolph in der kommenden Award-Season wieder öfter zu Gesicht bekommen wird. Oscarverdächtig spielen beide jedenfalls. Und dank Giamattis Figur habe ich nun eine ganze Reihe kreativer Beleidigungen im Repertoire, die darauf warten, in der Praxis zur Anwendung zu kommen. „The Holdovers“ ist ein fast perfekter Film: Er ist technisch hervorragend gemacht mit Bild und Ton, die direkt den 70ern entstammen könnten, er ist saukomisch, sodass ich vor Lachen geweint habe, dabei aber auch unglaublich tragisch, wenn sich die Hintergrundgeschichten dieser Misfits nach und nach entfalten, er ist unterhaltsam, bietet am Ende eine versöhnliche Botschaft und eine tiefere Erkenntnis, und als Weihnachtsfilm geht er auch noch durch. Danke, Mr. Payne, für diesen Film!


9,0 Kürbisse

(Foto: Seacia Pavao (c) 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved)