Autor: Filmkürbis

Matt und Mara (2024)

Regie: Kazik Radwanski
Original-Titel: Matt and Mara
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie, Drama
IMDB-Link: Matt and Mara


Man kann die Truppe rund um Kazik Radwanski ein künstlerisches Konglomerat nennen oder etwas despektierlicher eine Festival-Gang. Jedenfalls waren sowohl sein Hauptdarsteller Matt Johnson (zB mit Operation Avalanche) als auch seine Hauptdarstellerin Deragh Campbell (mit MS Slavic 7) mit eigenen Filmen auf der Viennale vertreten. All diese Filme sind sehr unterschiedlich in ihrer Tonalität und mit ihren Themen, und doch verbindet diese drei kanadischen Künstler:innen ein gemeinsames Verständnis für zurückgenommenes Storytelling und ein respektvoller Blick auf die Arbeitsweisen der jeweils anderen. In „Matt und Mara“ treffen sich nun zwei Freunde nach langer Zeit wieder. Es ist nicht klar, seit wann und aus welchen Gründen die beiden befreundet sind, aber sie haben eine enge Bindung und sehr viel Chemie miteinander. Beim gemeinsamen Spazieren durch Toronto wird über das Leben und das Schreiben gesprochen (Matt ist mittlerweile ein angesehener Autor, Mara Dozentin für kreatives Schreiben), oder es wird einfach nur herumgeblödet. So ganz greifbar wird die Beziehung der beiden nicht, und es sieht so aus, als wüssten sie selbst gar nicht genau, was sie sind außer eben „Matt und Mara“. Vielsagend ist, dass beispielsweise Maras Ehemann von Matts Existenz gar nichts weiß. Überhaupt lebt der Film sehr stark von Lücken und Auslassungen. Alles bleibt vage, und damit ist am Ende auch alles möglich. Thematisch erinnert Kazik Radwanskis Film stark an Celine Songs Oscar-nominierten Past Lives aus dem vergangenen Jahr, allerdings hat Song den formal strengeren und konzentrierteren Film geliefert. Das spricht nicht unbedingt gegen „Matt und Mara“, denn dessen Stärke liegt in seiner Unbeschwertheit, die vor allem von Matt Johnson erzeugt wird, wohingegen sich die Perspektive des Films auf Deragh Campbells Mara und deren Gefühlschaos richtet. Daraus ergibt sich ein interessanter Kontrast, der dem Film gut tut. „Matt und Mara“ ist vielleicht kein großer Wurf, aber sehenswert und in seinem Thema durchaus nachvollziehbar, denn selten sind Gefühlswelten und Beziehungen so eindeutig definiert, wie uns Hollywood das oft vorzeigen möchte.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Who by Fire (2024)

Regie: Philippe Lesage
Original-Titel: Comme le feu
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama
IMDB-Link: Comme le feu


Es gibt Filme, über deren objektive Qualität man vielleicht streiten kann, die aber beim Zuseher, wenn dieser in der richtigen Stimmung ist, einen Nerv treffen. Der entzückende Märchenfilm Riddle of Fire war letztes Jahr so ein Film für mich, und auch dieses Mal erwischt mich wieder ein Film mit Feuer im Titel. „Comme le feu“ (internationaler Festival-Titel: „Who by Fire“) des frankokanadischen Regisseurs Philippe Lesage ist ein sinnliches Erlebnis, das bereits in der ersten Szene, als es nicht mehr zu sehen gibt als ein Auto, das durch eine kanadische Waldlandschaft fährt, durch die Kraft von Bildern und Musik einen Sog aufbaut, dem ich mich nicht entziehen kann. In diesem Auto sitzt der Drehbuchautor Albert (Paul Ahmarani), der zusammen mit seinem Sohn Max (Antoine Marchand-Gagnon) und seiner Tochter Aliocha (Aurélia Arandi-Longpré) sowie Max’s Schulfreund Jeff (Noah Parker) seinen alten Kollegen, den renommierten Regisseur Blake (Arieh Worthalter) in dessen abgelegener Hütte besucht. Mehrere Tage wollen die alten Freunde in der Unbeschwertheit der Natur verbringen, angeln, jagen, über Filme philosophieren. Jeff hat gleich ein zweifaches Interesse an diesem Urlaubstrip: Zum Einen ist er hoffnungslos (und unerwidert) verknallt in Aliocha, zum Anderen möchte er selbst Filmregisseur werden und freut sich demnach sehr auf die Gelegenheit, von seinem Idol Blake zu lernen. Doch wird die Harmonie bald von Spannungen überlagert, als Albert und Blake alte Animositäten ausgraben. Philippe Lesage zeigt in seinem handlungsarmen, aber subtilen Film vor allem zwischenmenschliche Distanzen und Entfremdungen: Während Albert, der nun für das einst verhasste Fernsehen schreibt, in den Augen Blakes seine Ideale verraten hat, hegt dieser einen Groll auf Albert, da er sich nun dem Dokumentarfilm zugewandt hat und dementsprechend keinen Bedarf mehr für seinen alten Drehbuchautor hat. Beide versuchen sich, in männlichem Gehabe zu übertreffen, um eigene Überlegenheit zu suggerieren. Jeff wiederum versucht die Distanz zu Aliocha zu überbrücken, wobei ihm allerdings die Unbeholfenheit der Jugend einen Strich durch die Rechnung macht. Als noch ein befreundetes Ehepaar für einige Tage dazustößt, hat sich bereits ein gefährlicher Cocktail von Balzgehabe und toxischer Männlichkeit gebildet, der überzulaufen droht. Was „Comme le feu“ so stark macht, ist die Verweigerung einer klaren Zielrichtung. Man kann sich nie sicher sein, was in der nächsten Szene wartet. Da wird schon mal eine absurd komische Szene von einer bedrohlichen Thriller-Szene abgelöst, ehe man versonnen am Feuer sitzt und über das Leben kontempliert. Wie auch im Leben selbst kann man nie wissen, was als nächstes um die Ecke kommt. Das alles betrachten wir aus den Augen von Jeff, wobei die Zuseher sowohl die Rolle seines Komplizen als auch die seines Kritikers einnehmen. Alles ist in Bewegung in diesem Film, Grenzen werden ständig neu verhandelt, Komik und Tragik liegen eng beieinander, und am Ende des Films ist man sich vielleicht keiner umfassenden Veränderung der Charaktere bewusst, hat aber das Gefühl, dass diese zumindest neue Sichten auf das Leben gewonnen haben, das so seltsam verwirrend ist, wenn junge Liebe und alter Hass nebeneinander stehen und sich gegenseitig ausstechen wollen. Philippe Lesage selbst sagte während des Q&As nach dem Film sinngemäß, dass er vor allem an der Komik dieser männlichen Gefühlswelten interessiert sei, und das trifft es als Fazit vielleicht am besten.


8,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Dreaming Dogs (2024)

Regie: Elsa Kremser und Levin Peter
Original-Titel: Dreaming Dogs
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Dreaming Dogs


In Space Dogs sind Elsa Kremser und Levin Peter schon einmal dorthin gegangen, wo es wehtut: Nach Moskau. Genauer gesagt sind sie tief in das Leben von streunenden Straßenhunden eingestiegen. „Dreaming Dogs“ ergänzt diesen ersten Film um eine weitere Perspektive: Wieder sind es streunende Hunde, deren Geschichte erzählt wird, doch wird diese ergänzt um die Interaktion mit der obdachlosen Nadja, die sich selbst als „Oma“ bezeichnet und die Anführerin des kleinen Rudels ist, das Zuflucht gefunden hat auf einem ehemaligen Fabriksgelände. Wie auch in „Space Dogs“ interessieren sich Kremser und Peter allerdings primär für die Hunde. Die Kamera ist immer ganz nah bei diesen und immer auf deren Höhe, was dazu führt, dass die Menschen automatisch in den Hintergrund treten. Gleichzeitig wird auf diese Weise über das Leben der Hunde auch indirekt die Geschichte von Nadja erzählt – jedenfalls ein Teil davon. Das Leid der Menschen spiegelt sich im Überlebenskampf der Hunde und vice versa. Wie auch in „Space Dogs“ lässt sich in „Dreaming Dogs“ einiges ableiten über das Leben derer, die in Russland am Rande der Gesellschaft leben – und damit über die Gesellschaft selbst. „Dreaming Dogs“ führt das Thema also auf eine konsequente Weise fort, wenngleich der Film nicht diese brutale Dringlichkeit von „Space Dogs“ erreicht. Darüber bin ich aber auch fast froh, liegen mir einige Szenen von „Space Dogs“ fünf Jahre später immer noch im Magen. So gesehen bietet „Dreaming Dogs“ nun einen leichter verdaulichen Einstieg in das Thema und die Welt der Streuner, die von allen übersehen werden mit Ausnahme von Nadja sowie den beiden Filmemachern Elsa Kremser und Levin Peter.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Suspended Time (2024)

Regie: Olivier Assayas
Original-Titel: Hors du temps
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Hors du temps


Der Ausbruch der COVID-Pandemie war eine Zäsur der jüngeren Menschheitsgeschichte. Doch gefühlt war niemand davon so sehr betroffen wie der Filmemacher Paul Berger (Vincent Macaigne), der mit seiner Freundin sowie seinem Bruder und dessen Freundin (Nine d’Urso, Micha Lescot und Nora Hamzawi) während des Lockdowns im Elternhaus am Land festsitzt und einige interessante neue Neurosen entwickelt – Woody Allen lässt grüßen. Wenn er beispielsweise vom Einkaufen nach Hause kommt (was er ohnehin durch exzessive online-Bestellungen zu vermeiden versucht), zieht er sich bis auf die Unterhose aus und lädt die kontaminierte Wäsche sofort in die Waschmaschine, bevor er sich manisch die Hände wäscht, wie es einem Youtube-Video vorexerziert wird. Sein Bruder Etienne, ein Musikjournalist, nimmt die Corona-Regelungen etwas locker, was zu leicht entzündlichen brüderlichen Konflikten führt. Die meiste Zeit aber verbringt man beim gemeinsamen Abendessen mit einer guten Flasche Wein, auf dem Tennisplatz des nachbarschaftlichen Anwesens, auf dem man früher als Kind schon gespielt hat, und vor allem mit Name-Dropping obskurer Persönlichkeiten aus der Welt von Kunst und Philosophie, die selbst unter gelehrtem Viennale-Publikum für Stirnrunzeln sorgt. Beim einzig verständlichen diesbezüglichen Gag klopft man sich innerlich auf die Schulter, dass man immerhin den Namen Modigliani kennt – sonst wäre dieser Gag nämlich ebenfalls im Schlamm der Unkenntnis der Ungebildeten versunken. „Hors du temps“ von Olivier Assayas, den ich für gewöhnlich sehr schätze, hat zwei grundlegende Probleme, über die man nicht hinwegsehen kann: Erstens: Auch wenn es im Film karikiert werden soll, ist das seelische Leid des sensiblen Paul durch den Lockdown, den er in bester Gesellschaft in einem riesigen parkähnlichen Garten verbringt, einfach nur lächerlich. Zweitens: Selbstreferenzielle Diskurse über das Filmemachen, die Philosophie und die Philosophie des Filmemachens sind halt leider, wenn sie derart penetrant ausgebreitet werden, nur eine ziemliche Hirnwichserei. Zugute halten muss man Assayas, dass er das immerhin mit viel Verve inszeniert, französisch eben. Aber wenn in der Nachbetrachtung der weltumspannenden Pandemie, die unsere Gesellschaft einmal auf den Kopf und wieder zurück gedreht hat, ein solches nichtssagendes Etwas von einem Film herauskommt, so ist das enttäuschend.


4,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Ghost Cat Anzu (2024)

Regie: Yoko Kuno und Nobuhiro Yamashita
Original-Titel: Babeneko anzu-chan
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Animation
IMDB-Link: Babeneko anzu-chan


Alles ist möglich in japanischen Animationsfilmen. Auch menschengroße Katzen, die auf Mopeds fahren, Handys benutzen und nebenberuflich als Masseure arbeiten. Das ist Anzu, der als normale Katze auf die Welt gekommen ist, dann aber das Wachsen und das Altern nicht eingestellt hat und nun als 37jährige Geisterkatze im Tempel des Großvaters der 11jährigen Karin lebt. Diese verschlägt es mit ihrem Vater dorthin. Der steckt gerade mal wieder in Geldnöten. Seit dem Tod von Karins Mutter vor zwei Jahren ist sein Leben auf die schiefe Bahn geraten, und die kluge und aufgeweckte Karin hat darunter besonders zu leiden. Als sich der Vater auf den Weg macht, um seine Schulden zu begleichen, beauftragt der Großvater Anzu, auf Karin aufzupassen. Die hat vor allem einen Wunsch: Sie möchte den Todestag ihrer Mutter an deren Grab in Tokyo begehen. Doch der Ausflug nach Tokyo nimmt eine unerwartete Wendung, als sich der Gott der Armut einschaltet und es dem Mädchen und seinem felinen Weggefährten ermöglicht, ins Reich der Toten zu reisen, um die Mutter zu besuchen. Die Themen in „Ghost Cat Anzu“ liegen offen dar: Verlust, Trauer, die Notwendigkeit, mit traumatischen Ereignissen umzugehen und dennoch seinen Weg zu finden. Die sprechende Geisterkatze Anzu sorgt dabei für gelegentliche komödiantische Auflockerung, auch wenn der Film trotz seines fantasievollen Settings und der kindergerechten Aufbereitung nur schwer für eine Komödie zu halten ist. Das Problem ist, dass der Film selbst nicht so richtig weiß, was er eigentlich ist und was er erzählen möchte. Die Story mäandert ein wenig herum, begibt sich dann auf Actionpfade, wenn der Besuch von Karin im Reich der Toten nicht unentdeckt bleibt, und kommt dann am Ende zu einer überhasteten Conclusio, bei der nicht alle Zuseher:innen mitgehen werden. Ich wüsste halt gerne, wer die Zielgruppe von diesem Film gewesen wäre. Das kleine Kind, das im Kinosaal die turbulenten Ereignisse auf der Leinwand zur Unterhaltung aller kommentiert hat (auch aufgrund der Tatsache, dass es weder Japanisch noch die englischen Untertitel verstehen konnte), war es wohl genauso wenig wie der Kürbis eures Vertrauens, der zwei Reihen weiter vorne gesessen ist. Und das, obwohl wir beide den ausgeprägten Cat Content zu schätzen wussten.


5,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

The End (2024)

Regie: Joshua Oppenheimer
Original-Titel: The End
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Musical, Drama
IMDB-Link: The End


Das Ende kommt am Anfang. Gleich mein zweiter Viennale-Film in diesem Jahr mit dem vielversprechenden Titel „The End“ erweist sich als frühes Highlight dieses Festivals. Regisseur Joshua Oppenheimer ist bislang nur mit Dokumentation („The Act of Killing“) aufgefallen. Sein neuestes Projekt ist ein filmisches Wagnis, das alle Konventionen sprengt: Tilda Swinton, George MacKay und Michael Shannon spielen eine reiche Familie, die sich nach der Apokalypse zusammen mit ihrem Butler, einer Haushälterin und einem Arzt in einen Bunker zurückgezogen hat und dort heile Welt spielt. Sie sind die letzten Überlebenden der Menschheit, die es geschafft hat, sich selbst über den Jordan zu schießen – bis eines Tages eine junge Frau (Moses Ingram) vor ihrer Tür liegt. Nach anfänglicher Irritation nimmt die Familie die junge Frau auf, doch mit dem Eindringen einer fremden Person und deren tragischer Geschichte in ihre kleine Welt beginnen Fassaden zu bröckeln und lange Verdrängtes bahnt sich an die Oberfläche. In dieser Hinsicht lassen sich Parallelen zum ersten Viennale-Film On Becoming a Guinea Fowl entdecken, doch wer in „The End“ auf eine Katharsis wartet, wartet vergebens. Der Witz an der ganzen Sache ist, dass Joshua Oppenheimer die Geschichte von Lug und Selbstbetrug als leichtfüßiges Musical inszeniert, in dem die Protagonistinnen und Protagonisten ihr Seelenleid in Form lieblicher, wenn auch nicht eingängiger Songs zum Besten geben. Diesen Spagat zwischen Endzeitdrama in einem Bunker und Musical muss man erst einmal schaffen. Das Wagnis hätte böse ausgehen können, und die ersten (schiefen) Töne von George MacKay lassen dies vermuten, doch hat der Wahnsinn hier Methode. Wenn der Schmerz zu tief sitzt, um besprochen zu werden, dann singt ihn heraus! Großartig!


8,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

On Becoming a Guinea Fowl (2024)

Regie: Rungano Nyoni
Original-Titel: On Becoming a Guinea Fowl
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: On Becoming A Guinea Fowl


Perlhühner, auf Englisch Guinea Fowls, sind äußerst nützliche Tiere in der Steppe. Wenn sie Raubtiere anmarschieren sehen, geben sie mit lautem Gekreische dem Rest der Tierwelt Bescheid, dass diese doch lieber das Weite suchen soll. Genau eine solche Warnung hätte auch Shula (Susan Chardy) gut gebrauchen können, als sie seltsam gewandet von einer Party nach Hause fahrend in den frühen Morgenstunden ihren Onkel tot auf der Straße liegen sieht. Denn nun gebietet es die Tradition, dass die gesamte Verwandtschaft in Truppenstärke in ihr Haus einfällt, um den Toten angemessen zu betrauern. Die alten Herren halten ein Schwätzchen im Garten und bestellen bei Shula Essen, als wären sie in einem Restaurant, doch das Sagen haben eh die Matriarchen, die sich ausgiebig darüber entsetzen können, dass Shula beispielsweise ein Bad genommen hat – so etwas gehört sich schließlich nicht, wenn man trauert. Und überhaupt: Wo sind die dicken Tränen, wo das herzzerreißende Geschrei? Shula hält nicht viel von diesem Unsinn, war sie Onkel Fred ohnehin nie so richtig zugetan. Warum das so ist, entfaltet sich erst langsam in Rungano Nyonis Tragikomödie, die einerseits das falsche Getue auf Beerdigungen aufs Korn nimmt (und auch wenn manche Riten ungewöhnlich erscheinen, so kommt einem Vieles dennoch von eigenen Familienzusammenkünften ähnlicher Art recht vertraut vor), und andererseits aber eine Geschichte von Verdrängung und tief liegenden Verwundungen erzählt. Man muss sich aber ein wenig hineinarbeiten in dieses Setting und die zurückhaltende und indirekte Erzählweise. Der Film macht es einem trotz gelegentlich absurd-komischer Situationen nicht einfach, entfaltet dafür gegen Ende hin eine Wucht und Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Wenn am Ende die Familien über die Besitztümer des Verstorbenen streiten, wobei eine Seite die andere aufgrund von höherer sozialer Stellung und Reichtum die andere runterputzen und erniedrigen kann, fallen Fassaden zusammen und das Niedrigste im Menschen tritt hervor. Wenn dann der Schrei des Perlhuhns ertönt, hat das eine fast kathartische Wirkung.


7,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Auftakt zur Viennale 2024

Alle Jahre wieder. Bevor wir so richtig besinnlich in die Voradventzeit starten (in den Supermärkten nähern sich die ersten Schokonikoläuse und Lebkuchen aus dem Sommer schließlich schon ihrem Mindesthaltbarkeitsdatum), ist wie üblich die Viennale zu bewältigen und damit eine eklektische Auswahl aus dem überwältigenden Filmprogramm zu treffen. Dieses Jahr stellte sich mein Programm allerdings fast wie von selbst zusammen, was einfach an begrenzten zeitlichen Ressourcen liegt. Die Zielsetzung, bei der Anzahl der gesichteten Filme zumindest deutlich zweistellig zu werden, besteht aber nach wie vor. Aufgrund der Presse-Akkreditierung, die mir das Team der Viennale dankenswerterweise wieder gewährt hat, ist das persönliche Filmprogramm in einem steten Fluss und immer nur auf die nächsten zwei Tage fest planbar, aber der Auftakt steht schon mal: Heute geht es los mit „On Becoming a Guinea Fowl“ von Rungano Nyoni und „The End“ von Joshua Oppenheimer, morgen folgen der japanische Animationsfilm „Ghost Cat Anzu“, „Hors du Temps“ von Olivier Assayas und die Doku „Dreaming Dogs“ von Elsa Kremser und Peter Levin. In zwei Tagen von Afrika über die USA nach Japan und via Frankreich zurück nach Österreich: Das geht halt auch nur auf Film-Festivals. Die Filmkritiken zu den gesichteten Filmen lest ihr wie üblich zeitnah hier.

Alles steht Kopf 2 (2024)

Regie: Kelsey Mann
Original-Titel: Inside Out 2
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Animation
IMDB-Link: Inside Out 2


Alles steht Kopf aus dem Jahr 2015 gehört zu den unbestrittenen Pixar-Meisterwerken. Mit viel Herz und Hirn wurden abstrakte Gefühle personifiziert und damit die emotionale Entwicklung eines jungen Mädchens fassbar gemacht. Freude, Traurigkeit, Ekel, Wut und Angst waren die Hauptprotagonisten in Riley Andersons Kopf, und am Ende stand die Erkenntnis, dass es alle Gefühle braucht, um als emotional stabiler Mensch durchs Leben zu kommen. Es überrascht nicht, dass dieser Kassenschlager nun fast ein Jahrzehnt später eine Fortsetzung bekommt, hat sich diese doch schon in der letzten Szene des ersten Films angekündigt. Und so treten nun neue Gefühle zusätzlich zu den bereits bekannten auf: Zweifel, Neid, Langeweile, Scham – Riley wird nun ein Teenager. Und man weiß: Während der Pubertät spielt es sich hormonell und gefühlsmäßig ab. Da wird nun wirklich alles auf den Kopf gestellt, und kein Stein der Persönlichkeit bleibt auf dem anderen. Diesen Aspekt fängt die Fortsetzung von „Alles steht Kopf“ mit viel Feingefühl und Hintersinn ein. Die Geschichte der jungen Riley wird stimmig weitererzählt, ihre Gefühlswelt wird vielfältiger und komplexer, und die personifizierten Gefühle in ihrem Kopf, vor allem wieder die Freude, die eigentlich immer am Ruder sein möchte und immer noch nicht gelernt hat, dass sie nicht alles bestimmen kann, haben alle Hände voll zu tun, sich da einigermaßen zu sortieren und Riley nicht völlig abstumpfen zu lassen. In dieser Hinsicht ist „Alles steht Kopf 2“ ein würdiger Nachfolger des ersten Films. Was ihn aber dennoch etwas abfallen lässt, ist zum Einen die Tatsache, dass nichts Neues erzählt wird, sondern die aus Teil 1 bekannte Geschichte einfach nur weitererzählt (und teilweise auch wiederholt) wird, und zum Anderen der deutlich zurückhaltende Humor. Es fehlen – anders als im ersten Film – die herzhaften Lacher. So fühlt sich „Alles steht Kopf 2“ zwar einen Tick erwachsener an (was ja auch zum Thema des Films passt), die leichtfüßigere und damit auch breitflächigere Unterhaltung bot aber Teil 1. Ein guter Film ist der zweite Teil dennoch, auch wenn er nicht ganz die Brillanz der besten Pixar-Meisterwerke und damit auch nicht jene des ersten Films erreicht.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Pixar/PIXAR – © 2024 Disney/Pixar. All Rights Reserved, Quelle: http://www.imdb.com)

Megalopolis (2024)

Regie: Francis Ford Coppola
Original-Titel: Megalopolis
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Science Fiction, Drama
IMDB-Link: Megalopolis


Der legendäre Francis Ford Coppola hat seine besten Arbeiten abgeliefert, wenn er tief in das Herz der Finsternis geblickt hat – sei es in der Pate-Trilogie oder in Apocalypse Now. Diese Meisterwerke überdauern unbestritten Generationen von Filmliebhaber:innen und sind heute noch so relevant wie damals. als sie erschienen sind. Als großes filmisches Vermächtnis schenkt uns Coppola nun mit seinem wohl letzten Film die Utopie einer Stadt, die sich wie Phoenix aus der Asche zu erheben scheint. New Rome, eine Variation von New York (die Anspielungen auf das alte Rom finden sich nicht nur im Namen der Stadt, sondern in allen Details des Films bis hin zum Haarschnitt), ist schier untrennbar in zwei Klassen unterteilt: Die Reichen und Mächtigen schmeißen Partys, die an Orgien erinnern, der Pöbel existiert in den Ruinen der finstersten Gassen. Es droht – analog zum antiken Weltreich – der komplette Zerfall, und Bürgermeister Cicero (Giancarlo Esposito) ist in einem desillusionierten Pragmatismus gefangen, bei dem einzig der Machterhalt im Vordergrund steht. Ihm gegenüber steht das visionäre Genie Cesar Catalina (Adam Driver), ein Architekt mit einer ganz eigenen, traumhaften Vorstellung der Zukunft der Stadt. Mit dieser stößt er vor allem bei Cicero auf Widerstand, denn das Volk brauche nach seinen Vorstellungen keine Träume, sondern reale Lösungen für reale Probleme. Um diesen Konflikt von Vision versus Pragmatismus (mitten drin, die von Nathalie Emmanuel gespielte Tochter des Bürgermeisters, die eine Liebesbeziehung mit dessen Rivalen Cesar eingeht) dreht sich „Megalopolis“, und eines sei vorweg genommen: Es ist von Anfang an klar, welcher Seite Coppola selbst zugeneigt ist. Der Mann, der so tief in die dunkelsten Ecken der menschlichen Seele geblickt hat, macht der Menschheit mit seinem letzten Film den Vorschlag, miteinander zu träumen und gemeinsam eine bessere Welt zu erschaffen. Das ist schön, das ist lobenswert, allein, es hätte einen besseren Film für diese Botschaft gebraucht. In einer überladenen und wenig überzeugenden Hochglanz-CGI-Welt vergisst Coppola, dass Schauwerte allein nicht ausreichen, um eine gute Geschichte zu erzählen. Denn wenn man die Story nüchtern zusammendampft, ist die Suppe schon recht dünn. Und auch Konflikten geht Coppola eher aus dem Weg, als dass er sie auserzählt. So tröpfelt das Geschehen vor sich her, es gibt Leerstellen zu überwinden, die wie ein weißes Papier anmuten, auf denen etwas Bemerkenswertes hätte entstehen können. Man muss vor Coppola den Hut ziehen, der quasi sein ganzes Privatvermögen in dieses letzte filmische Vermächtnis gesteckt hat und den Mut eingegangen ist, seinen eigenen Weg beharrlich zu gehen, doch leider gelingt es ihm nicht wirklich, die Zuseher auf diesem Weg mitzunehmen. So bleibt „Megalopolis“ eine große Absichtserklärung.


4,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Lionsgate/Courtesy of Lionsgate – © 2024 Lionsgate, Quelle: http://www.imdb.com)