Drama

Anatomie eines Falls (2023)

Regie: Justine Triet
Original-Titel: Anatomie d’une chute
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Anatomie d’une chute


Eine deutsche Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem sehbeeinträchtigen Sohn in einem Chalet bei Grenoble. Sie gibt ein Interview, bricht dieses allerdings ab, als ihr Mann im Dachboden laut Musik zu spielen beginnt, der Sohn geht mit dem Hund auf einen Spaziergang durch die Winterlandschaft, und als er zurückkehrt, findet er den Leichnam seines Vaters vor dem Haus. Was zunächst wie ein klassischer Whodunit-Krimi beginnt, schlägt schon bald in ein Justiz-/Gerichtsdrama um, doch auch diese Genreeinordnung bietet lediglich einen Rahmen für die eigentliche Geschichte, um die es Justine Triet mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnetem Film. Unter ihrer einfühlsamen und kontrollierten Regie entfaltet sich ein Beziehungsdrama, das grausam vor den Augen und Ohren der im Gerichtssaal Anwesenden seziert wird, von einem hysterischen Staatsanwalt und von der Verteidigung selbst im Versuch, die des Mordes beschuldigte Ehefrau zu rechtfertigen. Im Zentrum: Eine undurchschaubar wirkende Sandra Hüller, die ihrer Figur eine wundervolle Ambivalenz verleiht und gleichzeitig die Sympathien auf ihre Seite zeigt durch eine Wahrhaftigkeit, die immer wieder durchschimmert. Das ist nicht nur Oscar-verdächtig, das ist sogar Oscar-schuldig! Ebenfalls im Fokus von Triet: Der Sohn, der wie ein Spielball von der Justiz benutzt wird, ist er doch der einzige Zeuge in diesem Prozess. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter steht in der Anklagebank, und der 11-jährige Junge entscheidet mit seiner Aussage über das weitere Schicksal seiner Familie. Das ist heftiger Stoff, der von Triet ohne große Gefühlsduselei und gerade deshalb so mächtig wirkend umgesetzt wird. Am Ende kann es keine Gewinner geben, sondern nur ratlos Überlebende, die nun versuchen müssen, ihren Weg weiterzugehen, nachdem ihr Leben grell ausgeleuchtet und kommentiert wurde. Ein unglaublich starker Film, dem man seine gelegentlichen Längen verzeiht, da er dann doch bis zur letzten Szene fesselt und darüber hinaus noch lange beschäftigt.


8,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Here (2023)

Regie: Bas Devos
Original-Titel: Here
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Here


Es braucht eine Weile, bis man in Bas Devos‘ Film „Here“ hineinfindet. Man blickt auf die Baustellen von Hochhäusern, sieht Bauarbeiter in einer Gruppe stehen und ihr Mittagessen verzehren, sieht sie auf dem Heimweg, es passiert nicht viel, und dann ist man in der Wohnung des rumänischen Bauarbeiters Stefan (Stefan Gota), der seinen Kühlschrank ausräumt und aus den Gemüseresten Suppe kocht, da er demnächst über den Sommer in die Heimat fahren möchte. Allerdings streikt sein Auto, sodass er dieses übers Wochenende bei einem befreundeten Mechaniker abstellen muss. Gemeinsam essen sie Suppe, Stefan streift durch Brüssel, durch den Wald, der sich am Rand der Stadt erstreckt, und dort trifft er auf die Botanikerin Shuxiu (Liyo Gong), die Moos studiert. Im Grunde ist damit auch schon der größte Teil des Films erzählt, und ja, das klingt zunächst einmal ziemlich langweilig. Doch geht Bas Devos sehr behutsam mit seinem Film und seinen Figuren um. Vieles schwingt im Subtext mit, vieles bleibt unausgesprochen und wird nicht thematisiert: Das zuweilen harsche Leben von Migranten, das Gefühl der Zerrissenheit zwischen Heimat und neuem Lebenssitz – das alles klammert Devos explizit aus, lässt es aber implizit mitschwingen, in den Blicken der Darsteller:innen, in ihrem oft gezeigten Alleinsein und auch in Stefans Kontaktaufnahme mit seinen Mitmenschen, indem er ihnen Suppe bringt. Es passt sehr gut zum Film und zu Devos‘ Ansatz, dass die Annäherung zwischen Stefan und Shuxiu nicht den üblichen filmischen Mustern folgt und es auch offen bleibt, wohin diese erste Annäherung führen kann und wird. Devos ist nicht daran interessiert, sein Thema auszuerzählen, sondern er fängt Momente ein, und diese Momente stehen auch nicht immer in kausaler Verbindung, und doch geht man als Zuseher diesen Weg mit, da das Leben eben nicht immer kausal ist, wie Regisseur und Hauptdarstellerin im Q&A nach der Vorführung richtigerweise feststellen. „Here“ fühlt sich somit sehr authentisch und echt an und lädt ein, noch lange über die Figuren nachzudenken. Eine besonders wichtige Rolle spielt hierbei auch das Sounddesign, denn Devos gelingt es, mit einer Fokussierung des Sounds auf die Geräusche der Natur das menschliche Dasein in eben diese einzubetten. So werden Stefan und Shuxiu auf ihren Kern, wenn man so will: die Seele, heruntergebrochen, und das ist ein richtig schöner Ansatz für einen Film.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Die Theorie von allem (2023)

Regie: Timm Kröger
Original-Titel: Die Theorie von allem
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Science Fiction, Krimi
IMDB-Link: Die Theorie von allem


Regisseur Timm Kröger wünschte sich vor der Vorführung seines Films „Die Theorie von allem“ ein intelligentes Publikum. Nun, manche Wünsche gehen in Erfüllung, manche aber eben nicht, und ein Kürbis hat nun mal nur den Intellekt eines Gemüses. Aber vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, dass der Kaiser, in diesem Fall Timm Krögers Film, gar keine Kleider anhat. Denn dieser scheint, so jedenfalls aus den laienhaften Augen eines Kürbisses betrachtet, dem Motto „style over substance“ zu folgen. Ein Physikerkongress in den 60er Jahren in den Schweizer Alpen, zu dem ein junger Doktorand mit seinem mürrischen Doktorvater anreist, eine mysteriöse Musikerin, zwei Kinder, die nach einem Absturz im Krankenhaus landen und seltsame Dinge gesehen haben wollen – die Ausgangsbasis wäre eigentlich vielversprechend. Doch hat „Die Theorie von allem“ ein gravierendes Problem: Vor lauter Bemühen, einen Film Noir zu drehen, vergisst Timm Kröger auf die Geschichte. Im Grunde ist „Die Theorie von allem“ eine Aneinanderreihung von Filmzitaten, handwerklich gut gemacht, keine Frage, doch inhaltsleer und uninspiriert. Timm Kröger ist eben kein Alfred Hitchcock, doch gewinnt man den Eindruck, dass er es gerne wäre. Den Darsteller:innen kann man kaum einen Vorwurf machen. Jan Bülow in der Hauptrolle bemüht sich redlich, und Olivia Ross darf eine sehr klassische geheimnisvolle Schöne geben. Vielleicht ist sie einen Tick zu spröde in der Rolle, aber auch sie agiert solide. Hanns Zischler und Gottfried Breitfuss in den Rollen rivalisierender Physiker schrammen zwar nahe an Klischees und Overacting vorbei, fallen aber zumindest nicht negativ auf. Dass der Film – Pardon! – ein ziemlicher Schmarrn ist, liegt am Drehbuch und der drögen Inszenierung, die es fast schon auf bewundernswerte Weise schafft, jegliche Andeutung von Spannung gekonnt zu umschiffen. Wer sich für komplexe, aber stringent umgesetzte Parallelweltengeschichten interessiert, greift lieber zur Serie „Dark“, die gezeigt hat, wie sich ein solches Thema umsetzen lässt: Intelligent, aber den Zuseher dabei nicht aus den Augen verlierend.


3,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Amsel im Brombeerstrauch (2023)

Regie: Elene Naveriani
Original-Titel: Shashvi shashvi maq’vali
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Shashvi shashvi maq’vali


Laut Aussage der sehr sympathischen und reflektierten Regisseurin Elene Naveriani ist ihr Film „Amsel im Brombeerstrauch“ quasi das „Avatar“ Georgiens: Über 10.000 Besucher zählte das einfühlsame und stille Drama im Heimatland bereits, und diese gewaltige Resonanz zeigt, dass Naveriani mit der Verfilmung des Bestsellers „Amsel, Amsel, Brombeerstrauch“ von Tamta Melashvili einen Nerv getroffen hat, so wie auch die Schriftstellerin selbst, die für die Vorlage gesorgt hat. Es tut sich etwas in der georgischen Gesellschaft. Denn in „Amsel im Brombeerstrauch“ werden althergebrachte und scheinbar fest einzementierte Rollenbilder in Frage gestellt. Etero, eine 48jährige Frau, lebt allein ihr ruhiges Leben in einem kleinen Dorf. Sie betreibt einen kleinen Laden, und Genuss zieht sie aus Brombeerpflücken und Kuchen. Sie wirkt stoisch und unnahbar, hat aber gleichzeitig eine sehr sinnliche Seite, und so landet sie eines Tages recht unvermutet im Bett mit dem verheirateten Lieferanten Murman. Nachdem der gegangen ist, kommentiert sie dieses überraschende Ereignis mit einem trockenen „Da geht sie dahin, die 48jährige Jungfräulichkeit“. Diese Szene bereitet diese spannende, vielseitige Figur perfekt auf: Etero ist eine Frau, die in keine Schublade passt, die ihren eigenen Weg geht, auch wenn dieser weit abseits ausgetretener Pfade verläuft, und natürlich stößt sie damit auf Widerstand. Die Frauen in ihrem Dorf können ihr Handeln und ihre Einstellung nicht nachvollziehen. Es gibt Gerede. Doch auch dieses prallt an Etero ab, die stark wie ein Felsen wirkt. Und doch kommt es zu einem Moment, in dem auch Etero verletzlich wirkt und sich zeigt, dass alles im Wandel ist, auch das Leben von Etero selbst. Mit Etero haben Melashvili, Naveriani und vor allem auch die überragende Darstellerin Eka Chavleishvili eine Figur geschaffen, die eine starke Resonanz erzeugt und dem weiblichen Empowerment eine ganz eigene Stimme verleiht.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Rickerl – Musik is höchstens a Hobby (2023)

Regie: Adrian Goiginger
Original-Titel: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Musikfilm
IMDB-Link: Rickerl – Musik is höchstens a Hobby


Die Wiener und ihr Sinn fürs Morbide. Während der Ambros Woifi den Zentralfriedhof hochleben hat lassen, gräbt Voodoo Jürgens gleich die Toten aus. Dieser Star der jungen neuen Welle des Austropops, dessen Musik noch eine Schicht tiefer unter die Haut geht als die seiner Vorgänger, spielt in Adrian Goigingers neuestem Film den „Rickerl“ Bohacek, einen Beislmusiker und AMS-Stammgast ohne Ambitionen. Klar, er hat einen Manager, der sichtlich an ihm verzweifelt, und vor einiger Zeit stand er schon mal kurz vor der Aufnahme seiner ersten Platte, hat aber im letzten Moment zurückgezogen. Mit seiner Exfreundin Viki (Agnes Hausmann) hat er einen Sohn, Dominik, um den er sich alle zwei Wochenenden rührend kümmert. Aber der Rickerl führt halt ein patschertes Leben. Kaum Geld, immer kurz vor der Delogierung, und die Frau König vom Arbeitsamt verliert auch zunehmend die Nerven. Nur wenn der Rickerl zur Gitarre greift und seine traurig-melancholischen Lieder anstimmt, passiert etwas mit ihm: Da schleicht sich so ein versonnenes Lächeln in sein Gesicht, die Augen geschlossen geht er völlig in seiner Musik auf, und man merkt: Dieser Rickerl sieht mehr als wir anderen. Er schaut genau hin: Auf die Obdachlosen, die Gescheiterten, auf die Alkoholiker im Stammbeisl, auf die Traurigen und die Verlebten. Er klagt nicht an, er erzählt – vom Scheitern und dem Trotzdem-Weitermachen. Und genau darin spiegelt sich auch Goigingers große Stärke in dem Film: Auch Goiginger ist ein Filmemacher, der nicht mit dem Finger auf andere zeigt und urteilt, sondern seinen Figuren einfach die Hand gibt und sie für sich selbst sprechen lässt, wie er es auch in seinem ersten Film Die beste aller Welten gehalten hat. Voodoo Jürgens ist die Idealbesetzung für den Rickerl. Es bleibt offen (und ist von Voodoo Jürgens auch so gewünscht), wie viel Rickerl in Voodoo Jürgens steckt und wie viel Voodoo Jürgens im Privatmenschen David Öllerer, der im Q&A jedenfalls darauf besteht, dass man diese Figuren, diese Identitäten auch voneinander trennt. Doch der Gedanke liegt nah, dass sowohl Rickerl als auch Voodoo Jürgens Facetten zeigen, die der Darsteller in sich trägt, wenngleich auch künstlerisch verfremdet. Ob es nun so ist oder nicht: Dem Film tut es jedenfalls gut, dass die Grenzen manchmal zu verschwimmen scheinen, denn so bleibt die Figur des Rickerl ungemein authentisch und glaubwürdig.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Comedy of Innocence (2000)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Comédie de l’innocence
Erscheinungsjahr: 2000
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Comédie de l’innocence


Eine Familie feiert den 9. Geburtstag ihres Sohnes Camille. Es gibt Kuchen, der Kleine filmt mit seiner Filmkamera, der Onkel kommt dazu, man scherzt miteinander, anschließend geht Bursche mit der Haushälterin in den Park, die Mutter kommt nach, wenngleich auch arg verspätet, da sie sich mit ihrem Bruder verplaudert hat. Alles gut soweit. Doch plötzlich spricht Camille seine Mutter mit Vornamen an und besteht darauf, dass sie nicht seine Mutter ist. Er heiße Paul und wohne in einer weit entfernten Straße, wohin er nun gerne zurückkehren möchte. Ariane, die Mutter (Rollkragenkönigin Isabelle Huppert), ist verständlicherweise irritiert, doch lässt sie sich auf das Spiel ein und bringt Camille zur Adresse, die ihr der Junge nennt. Und siehe da: Dort wohnt Isabelle (Jeanne Balibar), deren Sohn Paul, der am gleichen Tag wie Camille geboren ist, vor zwei Jahren bei einem Bootsunglück ertrunken ist. Spätestens jetzt hat der geneigte Zuseher Gänsehaut und wähnt sich in einem Horrorfilm. So einfach macht es einem Raúl Ruiz aber nicht, wenngleich er den Thrill der Situation genüsslich auskostet. Seine Filme gehen nicht den geraden Weg, sondern schleichen sich auf Umwegen und über Hintertüren in den Kopf. Und so kommt Isabelle in das Haus von Ariane. Dass ein Gemälde über das Urteil des Salomo im Speisezimmer hängt, bringt – wenig subtil, doch zielführend – dem Geschehen Kontext. Zugegeben, ich habe mir nicht leicht getan mit den ersten beiden Filmen von Raúl Ruiz, die ich gesehen habe. Faszinierend, aber sperrig und schwer zu verstehen. „Comédie de l’innocence“, mein dritter Film des chilenischen Regisseurs, ist nun eindeutig zugänglicher als „Tres tristes tigres“ und „Fado majeur et minor“ und lässt den Funken endlich überspringen. Das Rätselhafte, Surreale bleibt, doch kann man der Geschichte gut folgen, die dann auch zu einer stimmigen Auflösung findet. Von den drei gesichteten Filmen von Raúl Ruiz ist „Comédie de l’innocence“ wohl der am besten geeignete, um einen ersten Blick auf das Schaffen des Regisseurs zu werfen.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Puan (2023)

Regie: Maria Alché und Benjamín Naishtat
Original-Titel: Puan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama
IMDB-Link: Puan


Marcelo unterrichtet Philosophie an der Puan genannten Fakultät in Argentinien. Sein Mentor und Studienprogrammleiter Eduardo ist gerade gestorben, beim Laufen einfach tot umgefallen. Es ist unklar, wie es weitergeht mit dem Studienprogramm, mit Marcelos Vorlesungen, mit allem. Der introvertierte Professor ist einer, dem die Dinge passieren. Und wenn’s blöd läuft, passiert es ihm, dass er sich auf der Parkbank auf eine vollgekackte Windel setzt und quasi im gleichen Atemzug zu einer Memorial-Feier zu Ehren des Verstorbenen eingeladen wird. Bei der auch sein alter Studienkollege Rafael auftaucht, ein Aufschneider, der soeben aus Deutschland zurückgekehrt ist, weil er, so munkelt man, mit einer argentinischen Schauspielschönheit liiert ist. Eigentlich ist Rafael ja nur auf Besuch da, wie er selbst sagt, doch als der Posten der Nachfolge für den verstorbenen Eduardo ausgeschrieben wird, scheint es sich Rafael doch gemütlich einrichten zu wollen, und eine alte Rivalität bricht von Neuem auf. Marcelo ist gezwungen, selbst aktiv zu werden und sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Puan“ von Maria Alché und Benjamín Naishtat erzählt von einem Menschen, der nicht weiß, wofür er steht und was seine Ambition ist. Das Regieduo lässt ihn dabei in allerlei obskure und komische Situationen fallen. Marcello Subiotto verleiht dem antriebslosen Verlierertypen eine Präsenz, die Mitgefühl für diese so oft gescheiterte Person weckt. Doch Alché und Naishtat begnügen sich nicht damit, eine Charakterstudie zu entwickeln und diesen Charakter im Laufe der Geschichte wachsen zu lassen, sondern sie bringen auch noch eine politische Ebene unter. Das ist gleichzeitig eine Stärke des Films wie auch seine größte Schwäche. Denn einerseits bringt diese politische Ebene, eine Abrechnung mit einem System, das Bildung austrocknen lässt, eine für europäische Seher spannende zusätzliche Dimension ein, andererseits wird der Fokus dadurch unscharf. So recht scheint der Film nicht zu wissen, in welche Richtung er sich bewegen möchte. Das Ende immerhin bringt die beiden Ebenen dann doch noch zusammen, und der Film findet einen runden Abschluss.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Fado, Major and Minor (1994)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Fado majeur et mineur
Erscheinungsjahr: 1994
Genre: Drama
IMDB-Link: Fado majeur et mineur


Raúl Ruiz zum Zweiten. Nach seinem Debütfilm Three Sad Tigers springen wir nun ein Vierteljahrhundert weiter und gehen nach Portugal. Pierre, Touristenführer und ehemaliger Vertreter für die Enzyklopädie Britannica, steht plötzlich wie der Ochs‘ vorm Berg und erkennt weder die Stadt, durch die er seine Gäste führt, noch sein eigenes Leben. In seinem Apartment trifft er auf einen rätselhaften jungen Mann und dessen Tochter, der auf Rache aus ist. Aber an wem? Und weshalb? Pierre wird in einen Fiebertraum aus Wollust, Rache und Betrug hineingezogen. Mit der schönen Tänzerin und Prostituierten Ninon vergnügt er sich auf einer versifften Herrentoilette, mit Joachim zieht er durch geheimnisvolle Nachtclubs. Die Ebenen von Realität und Fiktion sowie zeitliche Dimensionen verschwimmen. „Fado majeur et minor“ versucht erst gar nicht, die lose auf einer Erzählung von Fjodor Dostojewski basierende Geschichte zugänglich zu machen. Man tappt als Zuseher genauso im Dunkeln wie Pierre selbst, dem Hauptdarsteller Jean-Luc Bideau übrigens einen der denkwürdigsten Bärte der Filmgeschichte verpasst hat. Doch wenn man sich auf dieses surreale Abenteuer einlässt, entfaltet der Film einen rätselhaften Sog. „Fado majeur et minor“ ist kein Film, dem man sich mit seinem Kopf, seinem Verstand annähern kann, sondern nur mit einem Bauchgefühl, das zunehmend unguter wird, was aber nicht gegen den Film spricht. Man muss eben diese abenteuerliche Reise mitmachen, ohne das Ziel zu hinterfragen, um Genuss aus dem Film zu ziehen. Aber dann punktet er mit surrealer Erotik, erinnerungswürdigen Bildern und charismatischen Darstellerinnen und Darstellern, deren seltsames Handeln lange nachwirkt.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Holdovers (2023)

Regie: Alexander Payne
Original-Titel: The Holdovers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Weihnachtsfilm
IMDB-Link: The Holdovers


Eine Elite-High School für die Kinder von Reich & Schön im Jahr 1970. Ein grantiger, zynischer Geschichtsprofessor, der zum Aufsichtsdienst während der Weihnachtsferien verdonnert wird. Vier arme zurückgelassene Seelen plus die Köchin der Schule, die ihren Sohn vor kurzem in Vietnam verloren hat. Das ist die Mixtur für Alexander Paynes vielleicht bestem Film überhaupt. In „The Holdovers“ erzählt er von Menschen, die sich alleingelassen fühlen, deren Vergangenheit als großer Schatten über ihnen hängt, und die aber nach und nach erkennen, dass sie sich davon nicht definieren müssen. Vor allem, als ein Teil der Jugendlichen dann doch zum Skifahren abgeholt wird, und Lehrer Paul Hunham mit der Köchin Mary Lamb und dem Schüler Angus Tully zurückgelassen wird, entwickelt der Film, der sich im Grunde in drei Teile unterteilen lässt und damit trotz seiner Laufzeit von über 2 Stunden ungemein kurzweilig wirkt, eine herzerwärmende Dynamik, und die eigentliche Reise zur Erkenntnis beginnt. Die Besetzung spielt diese verlorenen Figuren überragend: Paul Giamatti wurde geboren, um diesen zynischen Grantler zu spielen, Da’Vine Joy Randolph verleiht ihrer fast gebrochenen Figur Grazie und Würde, und Newcomer Dominic Sessa lässt hinter der aufsässigen Fassade immer wieder die tiefen Verwundungen seiner Figur durchblitzen. Ich prognostiziere, dass man zumindest Giamatti und Randolph in der kommenden Award-Season wieder öfter zu Gesicht bekommen wird. Oscarverdächtig spielen beide jedenfalls. Und dank Giamattis Figur habe ich nun eine ganze Reihe kreativer Beleidigungen im Repertoire, die darauf warten, in der Praxis zur Anwendung zu kommen. „The Holdovers“ ist ein fast perfekter Film: Er ist technisch hervorragend gemacht mit Bild und Ton, die direkt den 70ern entstammen könnten, er ist saukomisch, sodass ich vor Lachen geweint habe, dabei aber auch unglaublich tragisch, wenn sich die Hintergrundgeschichten dieser Misfits nach und nach entfalten, er ist unterhaltsam, bietet am Ende eine versöhnliche Botschaft und eine tiefere Erkenntnis, und als Weihnachtsfilm geht er auch noch durch. Danke, Mr. Payne, für diesen Film!


9,0 Kürbisse

(Foto: Seacia Pavao (c) 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved)

The Old Oak (2023)

Regie: Ken Loach
Original-Titel: The Old Oak
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: The Old Oak


2016. Syrische Flüchtlinge kommen in einem Dorf nahe der ehemaligen nordenglischen Industriestadt Durham an. Dieses hat auch schon weitaus bessere Zeiten gesehen. Die trostlosen Reihenhäuser werden für 8.000 Pfund verscherbelt, was die lokale Bevölkerung, die diese Ziegelblöcke einst um 50.000 Pfund gekauft haben, verärgert. Bis in die 80er Jahre hinein war Durham und seine Umgebung belebt – die örtliche Kohlemine sorgte für Arbeit. Doch diese Zeit ist längst vorbei. Die letzten vier Stammgäste sitzen im Pub „The Old Oak“ und kommentieren die Ankunft der Fremden mit Misstrauen und Vorurteilen. Das Leid der Flüchtlinge trifft auf die Tristesse der Zurückgelassenen. Ken Loachs neuester Film könnte eine Blaupause für tragisches Kino sein, das den Zuseher in eine tiefe Depression rutschen lässt. Doch Ken Loach, dieser große Humanist unserer Zeit, verfolgt einen komplett anderen Ansatz. Mit dem Pubbesitzer TJ Ballantyne schafft er eine mitfühlende Figur, die beiden Welten zusammenführt. Dieser von Dave Turner mit viel Zärtlichkeit gespielte Figur ist ein stoischer Bär, der selbst mehr als genug Leid in seinem Leben erfahren hat und sich kaum über Wasser halten kann. Dennoch ist seine Essenz das Mitgefühl, die Mitmenschlichkeit. Er hat keinen Helferkomplex, doch einen offenen Blick und man spürt sein ehrliches Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein. Als durch einen Übergriff bei Ankunft der Syrer die Fotokamera von Yara (Ebla Mari) beschädigt wird, hilft er der jungen Frau ohne Hintergedanken. Schon bald entwickelt sich eine lose Freundschaft zwischen den beiden. Schließlich trägt Yara zusammen mit einer befreundeten Sozialarbeiterin die Idee an TJ heran, Syrer wie Engländer an einen Tisch zu setzen und kostenlose Mahlzeiten für alle anzubieten. Die ganz große Stärke in Ken Loachs Film ist, dass er nicht nur ausschließlich das Schicksal der Geflüchteten im Auge behält, sondern dieses zusammenführt mit der prekären Situation der Dorfbewohner. Auf diese Weise zeigt er auf: Ein Mensch ist ein Mensch. Unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht sind wir alle den Widrigkeiten und Zufällen des Lebens ausgesetzt, die uns mal mehr, mal weniger treffen. Hinter jeder Tür verbirgt sich eine Geschichte, die es wert ist, dass man sie anhört. Ein schöner, stimmiger und in seiner Kernaussage auch unglaublich positiver Film, den es gerade in Zeiten wie heute wohl mehr denn je braucht.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)