Crossing Europe Linz 2019

Normal (2019)

Regie: Adele Tulli
Original-Titel: Normal
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Normal


Was ist normal? Eine einfache Frage mit einer schwierigen Antwort. Fragt hundert Menschen auf der Straße, was für sie Normalität bedeutet, und ihr werdet hundert verschiedene Antworten und Sichtweisen bekommen. Normal ist für den Einen, dass zwei Menschen, die sich lieben, den Bund der Ehe eingehen können. Normal ist für den Anderen, dass die Ehe nur zwischen Mann und Frau möglich ist. Und für einen Dritten ist ein Zusammenleben ohne ehelichem Bund normal. Um nur ein Beispiel zu nennen. Adele Tulli findet in ihrem dokumentarischen Essay-Film einige sehr einprägsame Beispiele für in unserer Gesellschaft auf breiter Basis wahrgenommene Normalität, die sich bei genauerem Blick aber als Absurdität entlarvt. Wenn beispielsweise in einer Fabrik am Fließband rosa gefärbte Spielzeug-Bügelbretter für Mädchen gefertigt werden während daneben die blau gefärbten Spielzeuge für Burschen verpackt stehen, dann wird jedem, der das sieht, die Absurdität dieser gesellschaftlichen Norm bewusst. Oder wenn Tulli bei einem Junggesellinnenabschied kreischende Mädchen und eine peinliche berührte Braut in spe zeigt, wie sie Kuchen in der Form eines Penisses anschneiden und lasziv verspeisen. Oder bei der Gruppe von Müttern im Park, die mit ihren Kinderwägen Gymnastikübungen aufführen. Oder bei dem Sohn, der von seinem Vater noch martialische Anfeuerungen vor einem Motorrad-Rennen für Kinder mitbekommt. Das alles wirkt lächerlich und absurd und zeigt allzu deutlich die Geschlechterrollen auf, in die sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert hat. All das ist sichtbar im Alltag – nur wird es dort nicht wahrgenommen. Im Gegenteil: Allzu selbstverständlich unterwerfen wir uns diesem Diktus der Normalität, denn wir kennen es nicht anders. Und ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis das glückliche schwule Paar bei der Hochzeit zur Normalität wird. Wohl erst dann, wenn wir uns nicht mehr bewusst sind, dass es ein schwules Paar ist, dass da heiratet, sondern einfach nur zwei Liebende. Adele Tulli ist mit „Normal“ ein unaufgeregter und unspektakulärer Film geglückt, der uns vor einfache und gut bekannte Situationen stellt und uns damit vor Augen führt, wie absurd diese eigentlich sind, wenn man genau hinschaut. Sie schärft damit den Blick, und das tut uns allen gut.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Home Games (2018)

Regie: Alisa Kovalenko
Original-Titel: Domashni Igri
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Domashni Igri


Die 20jährige Alina möchte eine der besten Fußballspielerinnen der Ukraine werden und es bis ins Nationalteam schaffen. Das Talent und den Willen dazu hat sie. Was sie aber auch hat: Eine alkoholkranke Mutter, einen so gut wie immer abwesenden Vater, der keinen Cent von dem Geld, das er verdient, nach Hause bringt, zwei deutlich jüngere Geschwister und eine Großmutter, die zwar mit Ratschlägen, aber nicht mit Taten weiterhelfen kann. Und dann stirbt auch noch die Mutter. Alisa Kovalenko, die Regisseurin von „Home Games“ ist mit ihrer Kamera immer dabei: Auf dem Feld, wenn Alina ihre Wut auf das Leben in Energie im Spiel ummünzt, beim Begräbnis der Mutter, bei der Konfrontation mit dem Vater (dessen Charakter am deutlichsten sichtbar wird, als er sich nach einem Streit mit seiner Tochter aus dem Staub macht, sich dabei aber noch Zeit nimmt, sich an der Tür umzudrehen, in die Kamera zu blicken und der dahinter befindlichen jungen und hübschen Filmemacherin zuzwinkert), vor allem aber bei den Versuchen, die beiden Geschwister aufzuziehen. Die Familie lebt deutlich unter der Armutsgrenze. Hilfe gibt es keine. Der Tod der Mutter, die zumindest einen Teil der Verantwortung getragen hat, führt dazu, dass Alina alle Hände voll hat, den Alltag zu organisieren. Für Fußball bleibt da kaum mehr Platz. Stirbt damit ihr großer Traum und vielleicht die einzige Chance, der Armut zu entfliehen? Alisa Kovalenko hat einen sehr intimen Film gedreht. Das Vertrauen, das ihr Alina und ihre Familie entgegenbringen, ist enorm. Dadurch ist die Regisseurin immer und überall hautnah dran, ist dabei aber unsichtbar. Man könnte dem Film vielleicht zum Vorwurf machen, einen voyeuristischen Blick auf eine Familie in Armut zu werfen. Man könnte aber auch einfach ein respektvolles Porträt einer starken jungen Frau sehen, die zwar versucht, ihren Traum zu leben, gleichzeitig aber Verantwortung übernimmt, als es nötig ist, so schwer das manchmal auch fällt.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Tomka and His Friends (1977)

Regie: Xhanfise Keko
Original-Titel: Tomka dhe shokët e tij
Erscheinungsjahr: 1977
Genre: Drama, Kriegsfilm
IMDB-Link: Tomka dhe shokët e tij


Spannend an Filmfestivals sind auch die Retrospektiven und Tributes, bei denen man Filmemacher und Filmemacherinnen entdecken kann, von denen man noch nie etwas gehört hat und von denen man sonst auch nie etwas gehört hätte. Die albanische Regisseurin Xhanfise Keko gehört zu dieser Kategorie. Ihr Film „Tomka and His Friends“ aus dem Jahr 1977 gilt als ein Meisterwerk des albanischen Films. Erzählt wird darin eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Wehrmacht in der pittoresken Stadt Berut einmarschiert und dort ein Lager errichtet. Der junge Tomka und seine Freunde (darunter der treue Hund Luli, der im Grunde alle Szenen stiehlt, in denen er zu sehen ist) sind davon wenig begeistert. Denn zum Einen verachten sie die Faschisten ohnehin – viele ihrer Angehörigen sind auch im Untergrund bei den Partisanen tätig. Und zum Anderen fällt diesen immer nur im Befehlston herumschreienden Soldaten nichts Besseres ein, als ihr Lager auf dem einzigen Spielplatz der Stadt zu errichten. Also leistet man subversiven Widerstand, indem man vor dem Lager Fußball spielt und auf das rauf und runter gespielte Lied „In der Heimat“ mit lautem Gesang von Partisanenliedern antwortet. Einzig der schwarze Wachhund Gof (der eine entzückend gespielte Sterbeszene hinlegen darf) bereitet den Burschen Kopfzerbrechen. Dann ergibt sich auf einmal die Chance, für die Partisanen tätig zu werden und ihnen zu helfen, die Deutschen zu bekämpfen. „Tomka and His Friends“ ist charmant erzählt, ohne aber die Brisanz seiner Geschichte zu verleugnen. Dennoch blickt der Film mit viel Optimismus (und Patriotismus) auf diese Zeit zurück. Tomka dient dabei prächtig als Identifikationsfigur. Vielleicht mag man diese Art von Filmen als Geschichtsverklärung bezeichnen. Die albanische Filmexpertin Iris Elezi, die dieses Special kuratierte, verschwieg diese Problematik in ihrer Einleitung nicht. Denn natürlich gab es auch in Albanien Kollaborateure, die mit den Nazis zusammenarbeiteten. Natürlich gab es unmenschliche Verbrechen und viele Tote auf beiden Seiten. Aber vielleicht tut es einfach auch mal gut, einem jungen Helden wie Tomka auf der Leinwand zusehen zu dürfen, wie er mit seinen Freunden den Schergen mit Humor und Gewitztheit entgegentritt.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Messer im Herz (2018)

Regie: Yann Gonzalez
Original-Titel: Un couteau dans le coeur
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Thriller
IMDB-Link: Un couteau dans le coeur


„Messer im Herz“ von Yann Gonzalez ist eine mutige und farbenfrohe Angelegenheit. Denn der Film vereint das Genre des Giallo (in dem in den 70ern vorzugsweise junge, leicht bekleidete Mädchen von irren Serienmördern so farbenprächtig abgemurkst wurden, dass man eigentlich eine neue Bezeichnung für das strahlende Rot des Kunstblutes, das verwendet wurde, erfinden müsste) mit dem des Schwulenpornos. Hier sind es nun sinnliche junge Männer (manche davon mit beeindruckendem 70er-Jahre-Pornoschnauzer), die um ihr Leben bangen müssen. Diese Männer spielen allesamt in Annes (Vanessa Paradis) neuester Produktion mit. Anne hatte eine Beziehung zu ihrer Cutterin Lois (Kate Moran), die aber in die Binsen gegangen ist. Anne möchte nun das große Meisterwerk der drittklassigen Schwulenpornos drehen und damit Lois so beeindrucken, dass sie wieder zurückkehrt zu ihr. Blöd nur, dass ihr da der irre Serienmörder dazwischenkommt, der ihre Darsteller meuchelt. Da muss es eine biografische Verbindung geben, also beginnt Anne zu ermitteln. „Messer im Herz“ ist ein kompromissloser Film – völlig überdreht, stellenweise sehr komisch und bunt wie ein Papagei im Fasching. Man merkt an, wie viel Spaß es dem Regisseur bereitet hat, diesen Film zu drehen. Und er möchte – wie üblich beim Giallo – gar keine tiefgreifenden Botschaften vermitteln. Gonzalez möchte mit seinem Film nur zwei Dinge: Gut unterhalten und Vanessa Paradis abfeiern, die als Femme Fatale Anne eine gute Figur macht und heroisch gegen ihre miese Perücke anspielt. Ist das alles relevant? Nein. Ist das gut erzählt? Grundsätzlich schon, allerdings ist die Story selbst so konstruiert und unglaubwürdig, wie es sich für einen Giallo gehört (was ja durchaus ein Grund ist, warum ich mit dem Genre an sich nicht so viel anfangen kann). Aber macht das alles Spaß? Ja, das auf jeden Fall.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

The Announcement (2018)

Regie: Mahmut Fazıl Coşkun
Original-Titel: Anons
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Politfilm, Drama, Komödie, Satire
IMDB-Link: Anons


Istanbul 1963. Vier Militäroffiziere versuchen, die Radiostation von Radio Istanbul in ihre Gewalt zu bringen, um einen Staatsstreich zu verkünden. Dabei stoßen sie auf unerwartete Probleme wie beispielsweise einen Fahrer, der die Gelegenheit nutzen möchte, seine Brötchen in der Nacht auszuliefern, da die Lieferung eh am Weg zu Radio Istanbul liegt. Oder einen Manager der Radiostation, der leider keine Ahnung von Technik hat, weshalb er den Senderaum nicht bedienen kann. Da muss erst der Techniker her, nur der ist gerade unterwegs. Stoisch nehmen die Putschenden jede neue Komplikation zur Kenntnis. Dagegen wirken Figuren von Kaurismäki wie geschwätzige Tratschtanten. Und ja, das ist teils auch sehr amüsant anzusehen. Allerdings übertreibt es Mahmut Fazıl Coşkun in meinen Augen mit der Lakonie. Denn man erfährt so gut wie nichts über diese Hanseln, die da eine Revolution anführen wollen. Nichts Persönliches, keine politischen Beweggründe, gar nichts. Erstaunlich ist, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht, insofern wäre es für einen Laien, was die türkische Geschichte der 60er Jahre betrifft, durchaus interessant gewesen, zu erfahren, warum es überhaupt zu diesem versuchten Staatsstreich gekommen ist. Aber diesen Gefallen tut uns Coşkun nicht. Seine Figuren bleiben sperrig und distanziert. Und damit verfolge ich auch das Geschehen distanziert – und am Ende ist es mir egal, ob diese Würstel ihr Ziel erreichen oder nicht. Auch ist diese extrem reduzierte Erzählweise, in der sich die Figuren nur in statischen Kamera-Tableaus bewegen, auf Dauer recht ermüdend. So ist der Film zwar gelegentlich unterhaltsam, insgesamt aber eher eine anstrengende Sache. Ein Kaurismäki kann das besser.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

https://www.youtube.com/watch?v=1hPWgdcA0bU

Oray (2019)

Regie: Mehmet Akif Büyükatalay
Original-Titel: Oray
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: Oray


Shit happens. Da kann es schon mal passieren, dass man im Streit mit der geliebten Ehefrau ein falsches Wort sagt. Man kennt das ja. Aber doppelt blöd, wenn man Muslim ist, streng nach den Gesetzen des Islam lebt und dann das Wort „talaq“ ausspricht. Das ist so etwas wie der Joker beim Schluss machen. Denn das heißt: Drei Monate Beziehungspause, du musst von deiner Frau getrennt leben und danach wird entschieden, ob man sich final scheiden lässt. Burcu, Orays Frau, ist modern und weltoffen, hat mit dem Islam jetzt nicht so viel am Hut wie Oray und findet das naturgemäß nicht so witzig, dass ihr Ehemann, so reuig wie er auch ist, nach einem Streit die Koffer packt und von der Kleinstadt Hagen nach Köln zieht. Aber wenn Allah das so will, was soll man da auch groß machen? Oray hat früher öfter schon mal Mist gebaut. Dabei war in der Regel das Eigentum anderer Leute involviert. Im Gefängnis hatte er dann seine Epiphanie. Seitdem ist er streng gläubig und versucht, seine inneren Dämonen mit Hilfe des Islams im Zaum zu halten. Für ihn geht es (scheinbar) um mehr als um seine Ehe: Es geht ihm um den Frieden seiner Seele. Also ab nach Köln. Dort wird erst mal in einer türkisch-deutschen Studenten-WG gepennt, dann findet er mit Hilfe der türkischen Community eine eigene Wohnung. Was diese Gemeinschaft vereint, ist die Hingabe zum Islam. Man trifft sich zum gemeinsamen Beten, Kaffeetrinken und FIFA Soccer-Spielen. Es sind allesamt junge Männer im Alter von 20 bis 30, die sich in dieser Gemeinschaft versammeln. Alle sind ein bisschen orientierungslos, und der Islam hilft ihnen dabei, Halt zu finden und an ihrer eigenen Identität zu basteln. Radikal sind sie nicht, aber als westlicher Zuseher wundert man sich manchmal schon ein wenig über diese Kritiklosigkeit, mit der Regeln wie jene des „talaq“ angenommen und gelebt werden. Und dann denkt man plötzlich an das Läuten von Kirchenglocken am Sonntag um 9 Uhr in der Früh, an die Beichte, nach der alles wieder gut ist, an das Kruzifix, das man noch aus der eigenen Schulklasse kannte – und ja, irgendwie ist das unterm Strich alles immer dasselbe, nur die äußere Form unterscheidet sich. So ist „Oray“ des Deutschtürken Mehmet Akif Büyükatalay ein Film, über den man sehr viel über Religiosität, Spiritualität und die konkreten Auswirkungen dieser Konzepte auf das Leben auf einer sehr allgemeinen Ebene nachsinnen kann. Und nebenbei erfährt man viel über die türkische Gemeinschaft in Deutschland (was sich sicherlich auf Österreich und andere Länder übertragen lässt). Allerdings braucht man für den Film etwas Geduld, denn gelegentlich plätschert die Handlung ein wenig vor sich hin. Und er spart die Sicht der Frau fast komplett aus. Was wirklich schade ist und Abzüge in der B-Note bringt.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Laika (2017)

Regie: Aurel Klimt
Original-Titel: Lajka
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Animation, Musical
IMDB-Link: Lajka


Aurel Klimts „Laika“ ist der Film, auf den ich mich im Vorfeld des Crossing Europe Festivals am meisten gefreut habe: Ein Stop-Motion-Musicalfilm über die Hündin Laika, das erste Lebewesen im Weltall. Traurigerweise ist die reale Laika wenige Stunden nach dem Start der Rakete, die sie ins Weltall geschossen hat, verstorben – vermutlich aufgrund des Stresses. Aurel Klimt erzählt die Geschichte ein wenig anders. Denn in seinem Film wird Laika durch ein schwarzes Loch in eine fremde Galaxie gesogen, wo sie auf einem fantastisch anmutenden Planeten neue Freunde trifft – und sich alten Widersachern stellen muss. Aurel Klimt ist mit diesem Film ein kleines Wunderwerk gelungen. Ich habe ja ein Herz für Stop-Motion-Animationsfilme. Die sind so eine gewaltige Fitzelarbeit, und nur wenige Filmemacher tun sich das wirklich an. Im Ergebnis sieht man das Herzblut, das da hineingesteckt wurde, jedoch immer, ob nun in Wes Anderson großartigen Tier-Abenteuern oder bei Charlie Kaufmans „Anomalisa“, um nur zwei Regisseure zu nennen, die auf diesem Gebiet Meisterwerke geschaffen haben. Aurel Klimt muss sich dahinter aber nicht im geringsten verstecken. So bunt, so ideenreich, so herzerfrischend anders und mit so viel lakonischem Humor erzählt ist sein „Laika“, dass jede Minute Freude macht. Ich wünschte nur, ich wäre nicht in der Spätvorstellung um 23 Uhr gesessen, denn ausgeschlafen und fit hätte ich den Film noch mehr genießen können. Aber das wird hoffentlich noch nachgeholt. In der Zwischenzeit singe ich den Titelsong vor mich hin und schunkele dazu mit: „Lai lai lai lai lai Laika, lai lai Laika!“


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

The Days to Come (2019)

Regie: Carlos Marques-Marcet
Original-Titel: Els dies que vindran
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Liebesfilm
IMDB-Link: Els dies que vindran


Dass ein Film davon erzählt, wie sich eine Schwangerschaft auf die Beziehung auswirkt und die werdenden Eltern dazu zwingt, sich damit auseinanderzusetzen, wer sie sind und was sie im Leben wollen, ist nicht unbedingt ein neues Thema. In dieser Konsequenz umgesetzt wie in Carlos Marques-Marcets „The Days to Come“ hat man es aber vielleicht noch nie. Als Kinopublikum ist man bei der Schwangerschaft und gleich bei zwei Geburten wirklich dabei. Hierin besitzt der Film dokumentarische Qualitäten. Carlos Marques-Marcet heuerte für „The Days to Come“ kurzerhand ein befreundetes Pärchen an, das tatsächlich ein Kind erwartete. Wie viel von den realen Konflikten in das Drehbuch schließlich einfloss, bleibt wohl ein Geheimnis, aber eines ist klar: Authentischer kann an einen Spielfilm eigentlich gar nicht drehen. Dass der Film aber dennoch einem klaren roten Faden folgt und dramaturgisch interessant aufgebaut ist, verdankt er wiederum der Strukturierung durch Carlos Marques-Marcet, der dann am Ende doch die Zügel fest in der Hand hielt. Das Resultat ist eine banale Geschichte, wie man sie dutzendfach im eigenen Umfeld erleben kann im Laufe des Lebens, die aber dank der gut aufspielenden Hauptdarsteller und eben des ungeschönten Blicks, den Carlos Marques-Marcet auf die Beziehung wirft, von Anfang bis Ende spannend bleibt. Die Frage ist weniger, ob das Paar die Probleme, die sich auftun, lösen kann, sondern wie, und wie viel davon einfach geschieht, weil sich die Perspektiven im Leben ändern und man durch die Elternschaft gewissermaßen neu adjustiert wird, was den persönlichen Fokus betrifft. In dieser Hinsicht ist „The Days to Come“ absolut gelungen. Dass vielleicht der eine oder andere dramaturgische Höhepunkt fehlt, ist für den Anspruch der Authentizität bewusst in Kauf genommen worden. Aber auch so ist „The Days to Come“ ein sehr sehenswerter Film geworden.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Das melancholische Mädchen (2019)

Regie: Susanne Heinrich
Original-Titel: Das melancholische Mädchen
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Experimentalfilm, Komödie, Episodenfilm
IMDB-Link: Das melancholische Mädchen


Es gibt Dinge, die einfach nicht zusammenpassen. Vegetarier und Schlachthäuser zum Beispiel. Oder Marillenlikör und Schweinsbraten. FPÖ-Politiker und die Menschenrechtskonvention. Mario Barth und Humor. Wiener und Tiroler. Und: Der Filmkürbis und nach Brecht’schen Stilmitteln verfremdete Essayfilme. Das musste ich bereits mit den Filmen von Helma Sanders-Brahms feststellen, die im Übrigen in Susanne Heinrichs Spielfilmdebüt „Das melancholische Mädchen“ auch erwähnt wird. Darin stolpert ein junges, melancholisches Mädchen (Marie Rathscheck mit wirklich wunderbar traurigen Augen) durch verschiedene Episoden, die allesamt vereint, dass das Mädchen auf der Suche nach einem Bett für eine Nacht ist und dabei mit ihren männlichen Gesprächs- (und teilweise) Bett-Gefährten kritische Gedanken über Feminismus und Neoliberalismus austauscht. Bekannte Sätze wie „Der Körper einer Frau ist ein Kriegsgebiet“ fallen. Vorgetragen wird alles stark verfremdet, ausdruckslos und abgehakt. Susanne Heinrich war es wichtig, wie sie im anschließenden (sehr interessanten) Q&A beschrieb, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler auf alles vergessen sollten, was man üblicherweise an Schauspielschulen so lernt. Sie sollten jede Verbindung zu ihren Figuren kappen und stattdessen die Sätze nach Brecht’schem Vorbild rezitieren. So weit, so gut. Ich mag es ja prinzipiell, wenn man beim Film die klare Sprache und Intention der Regisseurin erkennt. Nur mag ich abstrakte Brecht’sche Deklamation von intellektuellen Problemstellungen, die damit „in your face“ geschmissen werden und sich auf diese Weise dem Publikum gegenüber erhöhen, noch weniger als ich eine klare, identifizierbare Filmsprache mag. Das ist nun blöd für den Film und die Bewertung. Aber ehrlich. Für alle Helma Sanders-Brahms-Fans wird dieser Film ein Genuss sein, da kann ich auf jeden Fall eine Empfehlung aussprechen. Wer aber Wert auf konventionelles Storytelling legt (was Susanne Heinrich für sich und ihre Filme ablehnt – was ja auch wiederum voll okay ist) und wer gelegentlich bei einer Komödie auch mal lachen möchte, sitzt hier im falschen Film.


2,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Bait (2019)

Regie: Mark Jenkin
Original-Titel: Bait
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: Bait


Man merkt Mark Jenkin an, dass er aus einem Fischerdorf kommt. So rau wie die See ist auch sein Film „Bait“, der auf 16mm in körnigem Schwarz-Weiß gedreht und von Jenkin per Hand entwickelt wurde. Der Ton wurde zur Gänze synchronisiert, was Jenkin erlaubte, ein interessantes Sounddesign zu entwickeln, in dem Stille eine ebenso große Rolle spielt wie der Sound selbst. Auch (repetitive) Close-Ups sind ein Stilmittel, zu dem Jenkin gerne greift. Zugegeben, es dauert eine Weile, bis man sich zurechtfindet in diesem Film. Denn zunächst ist man erst mal von der Machart fasziniert und damit ein wenig abgelenkt vom Inhalt. Die Geschichte selbst nimmt sich auch Zeit. Erzählt wird von Fischer Martin (Edward Rowe) und dessen Bruder Steven (Giles King), die in einem kleinen Dorf an der Küste Cornwalls kommen. Nach dem Tod des Vaters hat Steven den Kutter übernommen und fährt damit nun reiche Touristen die Küste entlang. Martin versucht, sein Leben noch wie früher als Fischer zu leben, nur was ist schon ein Fischer ohne Boot? Dazu kommen Konflikte mit den Dauergästen, die den Sommer in Cornwall verbringen und sich selbst als die eigentliche Community des Dorfes fühlen. Man spürt: Dieser Martin ist eine Figur, die viele Emotionen mit sich herumträgt, diese aber nicht zeigen kann oder will. Wie auch im Meer spielt sich das Relevante unter der Oberfläche ab. Mark Jenkins archaische Art, Filme zu drehen, passt hervorragend zu diesem griesgrämigen Fischer, der irgendwie den Kontakt zu allem verloren hat: zu seiner Familie, seiner Vergangenheit, seinem Lebenssinn, und dennoch stur weitermacht, einfach, weil es keine Alternative dazu gibt. „Bait“ ist damit ein fast schon existentialistisches Drama, das mit Mitteln der Entfremdung den Blick auf das Wesen des Menschen lenkt.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

https://www.youtube.com/watch?v=H5EqBKXhnB8