Drama

Tagebuch einer Nymphomanin (2008)

Regie: Christian Molina
Original-Titel: Diario de una ninfómana
Erscheinungsjahr: 2008
Genre: Erotik, Drama
IMDB-Link: Diario de una ninfómana


Gute Erotikfilme findet man in etwa so häufig wie vierblättrige Kleeblätter – die mit roten Punkten, die nach Rosen duften. Das spanische Erotikdrama „Tagebuch einer Nymphomanin“ nach dem autobiographischen Buch der Französin Valérie Tasso ist hierbei keine Ausnahme von der Regel. Geraldine Chaplin, prominentestes Gesicht der Produktion, hat das auch recht schnell erkannt – ihre Großmutterfigur ist nach einer Viertelstunde über den Jordan, und Chaplin hat’s überstanden. Davor gibt sie der promiskuitiven Enkeltochter Valérie (Belén Fabra) noch einen schicksalshaften Rat: Lebe dein Leben! Ja, genau, der gute, alte Carpe Diem-Spruch, den 50-jährige Yogalehrerinnen in Holzrahmen eingefasst über dem Küchentisch hängen haben. Wenigstens war das Drehbuch so gnädig und hat Chaplin nicht wortwörtlich diesen lateinischen Allerweltspruch aufsagen lassen. Nun, Valérie ist so naiv, diesen Spruch zu beherzigen, und landet bald im Bett und der Wohnung des Geschäftsmannes Jaime (Leonardo Sbaraglia). Dieser ist gutaussehend, charmant, witzig, ehrlich um Valérie bemüht, und so macht Valérie das, was natürlich jeder vernünftige Mensch macht: Sie zieht binnen Wochen in eine gemeinsame Wohnung mit ihm. Leider fällt dort die Fassade und zum Vorschein kommt ein impulsives, cholerisches, gewalttätiges Arschloch. Großmutter hätte Valérie wohl was hinter die Löffel gegeben, wenn sie selbigen nicht schon abgegeben hätte. Nun, ein paar traumatische Erlebnisse selbst regt sich wieder die Libido bei der jungen Frau, und was macht eine anständige Frau in ihrer Situation? Genau – sie geht in den Puff. Wo sie weitere charmante, gutaussehende Männer kennenlernt, denen jeder Blinde auf fünfhundert Meter Entfernung hinter die Fassade schaut, nur die gute Valérie eben nicht. Etliche Bettszenen und weitere traumatische Erlebnisse später stellt Valérie fest, dass Großmutters Rat „Carpe Diem“ nicht ganz vollständig war – es fehlt noch ein erleuchtendes „Liebe dich selbst!“. Und damit wäre, denke ich, ganz gut umrissen, woran es bei diesem Machwerk krankt: Das Drehbuch stammt direkt aus der Hölle und zeigt auf, dass man den verdammten Streik der Drehbuchautoren, der zuletzt in Hollywood stattfand, ernst nehmen sollte, da sonst vierzehnjährige pubertierende Teenager ihren Job übernehmen und solche Resultate liefern. Ein Trinkspiel mit einem Kurzen für jedes vollumfänglich erfüllte Klischee überlebt kein Mensch bis zur Mitte des Films. Da nutzt es auch nicht, dass sich die Darsteller:innen ordentlich ins Zeug legen – vor allem Belén Fabra zeigt nicht nur vollen Körpereinsatz, sondern auch ansatzweise Talent – wenn das Drehbuch dumm ist, schauen auch sie dumm aus. Immerhin gibt es den Film gratis auf Prime zu sehen, ich hätte sonst mein Geld zurückverlangen müssen.


2,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Woyzeck (1979)

Regie: Werner Herzog
Original-Titel: Woyzeck
Erscheinungsjahr: 1979
Genre: Drama
IMDB-Link: Woyzeck


Die Zusammenarbeit von Werner Herzog und Klaus Kinski hat zu großartigen Filmen geführt sowie zu einigen der legendärsten Wutausbrüche, die jemals auf Kamera festgehalten wurden. Ich will es mal so formulieren: Zum Glück für den Weltfrieden hat Kinski den Beruf des Schauspielers ergriffen und nicht jenen des Diplomaten. Aber nun zum Film. „Woyzeck“ ist von den gemeinsamen Filmen von Werner Herzog und Klaus Kinski wohl der schwächste, den ich kenne. Zu genau hält sich Herzog an die Vorlage von Georg Büchner. An sich ist Vorlagentreue eine gute Sache, doch wenn ein Skript einfach Wort für Wort abgearbeitet wird, fehlt am Ende etwas – der kreative Funke, der im optimalen Fall auf das Publikum überspringt. Und genau das macht Herzog in diesem Film: Er nimmt die Geschichte um den etwas einfältigen Soldaten Woyzeck, der von seinem Hauptmann und dem Garnisonsmediziner ausgebeutet wird und mit der hübschen Marie ein uneheliches Kind hat, das sein ganzes Geld verschlingt, etwas zu wörtlich. Jede Szene könnte genau so auch auf einer Theaterbühne gezeigt werden. Auch das ist an sich kein Merkmal mangelnder filmischer Qualität – es gibt Beispiele, bei denen ein solcher Ansatz ganz hervorragend funktioniert. Nehmen wir mal „Dogville“ von Lars von Trier. Aber es braucht dennoch für einen rundum gelungenen Film einen kreativen Akt, den ich bei „Woyzeck“ so nicht sehe. Dabei hat der Film seine Qualitäten: Seien es die überzeugenden Darstellungen von Eva Mattes oder Josef Bierbichler, die trügerisch-idyllische Kleinstadtkulisse, die ökonomische Laufzeit und natürlich Klaus Kinski, diese Urgewalt. Allerdings ist die Verpflichtung von Kinski als Woyzeck ein zweischneidiges Schwert: Denn auch wenn er sich einmal mehr die Seele aus dem Leib spielt, so ist Kinski für die Rolle fast zu groß, zu präsent, zu charismatisch. Jeden Moment rechnet man damit, dass sein simpler Woyzeck einen kinski’esken Wutanfall bekommt und den körperlich mächtigeren Bierbichler auf Fingerhutgröße zusammendampft. Immerhin geht das Ende des Dramas wieder gut zusammen mit seinen berühmten Ausrastern, doch der Weg dahin zieht sich trotz einer ökonomischen Laufzeit von gerade mal 77 Minuten. Wer die Zusammenarbeit von Kinski und Herzog in voller Blüte sehen möchte, greift lieber zu „Nosferatu – Phantom der Nacht“ oder „Aguirre, der Zorn Gottes“.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Le Mans 66 – Gegen jede Chance (2019)

Regie: James Mangold
Original-Titel: Ford v Ferrari
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Sportfilm, Biopic, Action, Drama
IMDB-Link: Ford v Ferrari


Im Kino damals verpasst, nun im Patschenkino nachgeholt und tatsächlich ein wenig bedauert, den damals nicht auf der großen Leinwand gesehen zu haben: „Le Mans 66 – Gegen jede Regel“ (im Original: „Ford v Ferrari“) von James Mangold darf sich wohl als einer der besten Rennsportfilme aller Zeiten bezeichnen. Nie zuvor habe ich in einem Film dermaßen nachempfinden können, was es heißt, solche schnellen Autos bis ans ihr Limit und darüber zu pushen, nicht einmal im von mir hochgeschätzten „Rush“. Der Oscar für den besten Schnitt ist hochverdient! Wenn man den Film allerdings auf diese technischen Aspekte und auf die Adrenalin getränkte Darstellung des Motorsports reduziert, tut man ihm Unrecht. Den zunächst ist „Ford v Ferrari“ eine Außenseitergeschichte. Der Titel impliziert dies bereits, doch es wäre falsch, sich hier auf den ersten Eindruck zu verlassen und darauf zurückzuziehen. Die Ford Motor Company war und ist beileibe kein Außenseiter, auch wenn ihr bis Anfang der 60er Jahre nicht eingefallen ist, in der höchsten Motorsportklasse gegen renommierte Rennsportautoerzeuger wie Ferrari oder Porsche anzutreten. Aber was tut man nicht alles, wenn die Verkaufszahlen sinken? Auftritt Carroll Shelby (Matt Damon), ehemaliger Rennfahrer und Sieger des 24-Stunden-Rennens von Le Mans, der nun Autos verkauft und seine eigenen Rennwägen bastelt. Der soll Ford ein Auto hinstellen, das den als unbesiegbar geltenden Ferraris in Le Mans davonfährt. Doch dazu braucht es nicht nur ein schnelles Auto, sondern auch einen schnellen Fahrer, und der impulsive, nonkonforme Kriegsveteran Ken Miles (Christian Bale) ist ein solcher. Gemeinsam bilden die beiden das ungewöhnliche Dreamteam, das den Giganten der Familienschaukelerzeugung zu Lorbeer führen soll. Und das ist nun die eigentliche Außenseitergeschichte, denn weder Shelby noch Miles passen zu dem strikt hierarchisch geführten Konzern. Der größte Gegner ist nicht Ferrari auf der Strecke. Wie in vielen Biopics nimmt sich das Drehbuch künstlerische Freiheiten, um die Dramatik zu erhöhen, doch verwässern diese Freiheiten im Fall von „Ford v Ferrari“ nicht die Geschichte. Der Fokus bleibt immer auf diesen beiden Motorsportfanatikern und ihrem Kampf um Erfolg – nicht um des Erfolgs willen, sondern weil sie ganz einfach nicht anders können, als ständig aufs Gaspedal zu drücken, mit allen entsprechenden (auch negativen) Folgen. So gesehen ist „Ford v Ferrari“ ein Film über unbeugsamen Willen und die Opfer, die damit einhergehen, und somit überraschend tiefgängig.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Merrick Morton – © 20th Century Fox, Quelle http://www.imdb.com)

Bottle Shock (2008)

Regie: Randall Miller
Original-Titel: Bottle Shock
Erscheinungsjahr: 2008
Genre: Komödie, Drama, Biopic
IMDB-Link: Bottle Shock


Für Weinfreaks ist die Weinjury von Paris 1976 so etwas wie die erste Herztransplantation durch Dr. Barnard, die Präsidentschaftswahl von Donald Trump oder der Brexit: Etwas nie für möglich Gehaltenes passiert und stellt die Welt auf den Kopf. Bis zu diesem Zeitpunkt galt die Überlegenheit französischer Weine in der Weinwelt als so fest wie das Amen im Gebet. Der in Paris lebende englische Weinkritiker und Händler Steven Spurrier (Alan Rickman), ebenfalls großer Fan französischer Erzeugnisse, findet aber eine kreative Möglichkeit, seinen schlecht laufenden Shop zu promoten, indem er die „Weinjury von Paris“ einberuft: Die renommiertesten Weinkritiker Frankreichs sollen eine Auswahl hochwertiger französischer Weine blind neben kalifornischen Weinen aus Napa Valley verkosten, darunter den Chardonnay von Chateau Montelena, betrieben durch den ehrgeizigen Quereinsteiger Jim Barrett (Bill Pullman) und dessen Hippie-Sohn Bo (Chris Pine). Die Kalifornier, die zwar mit Herzblut bei der Sache sind, aber auf keine lange Weintradition wie Frankreich verweisen können, sind skeptisch: Will man sie vor der Weltöffentlichkeit vorführen? Dass Spurrier durch und durch Brite ist mit allen dazugehörigen Manierismen und Eigenheiten, macht die interkulturelle Annäherung nicht einfacher. Aber man beschließt, der ganzen Sache eine Chance zu geben. Das Ergebnis wird die Fachwelt in ihren Grundfesten erschüttern. „Bottle Shock“ basiert auf wahren Begebenheiten, sowohl Steven Spurrier als auch die Barretts waren bzw. sind real lebende Persönlichkeiten, und die Weinjury von Paris 1976 gab es in dieser Form ebenfalls – mit weitreichenden Folgen für die Weinwelt. Da ich selbst einen guten Tropfen zu schätzen weiß, waren die Voraussetzungen für eine wohlwollende Bewertung des Films schon mal sehr gut. Dazu der legendäre Alan Rickman, der von mir ebenfalls sehr geschätzte Bill Pullman, ein sympathischer Freddy Rodriguez in der Rolle des Weinbaugehilfen Gustavo und Rachael Taylor als Praktikantin, die alle Blicke auf sich zieht. Alle Zutaten für einen guten Film sind da, aber es ist halt auch wie bei der Weinerzeugung selbst: Wenn man es zu formelhaft angeht, springt der magische Funke halt nicht über und das Erzeugnis ist zwar von sauberer Qualität, aber eben austauschbar und nicht mitreißend. So geht es auch „Bottle Shock“ – unterm Strich ein solider Film, aber zu routiniert inszeniert, um zum Publikum eine echte Bindung aufbauen zu können.


5,0 Kürbisse

(Bildzitat: © 2008 Twentieth Century Fox, Quelle http://www.imdb.com)

Her (2013)

Regie: Spike Jonze
Original-Titel: Her
Erscheinungsjahr: 2013
Genre: Drama, Liebesfilm, Science Fiction
IMDB-Link: Her


2013: Spike Jonze bringt einen visionären Science Fiction-Liebesfilm auf die Leinwand, in dem sich ein einsamer Schreiber von persönlich gestalteten Grußkarten und Briefen in ein Betriebssystem verliebt. Gut, es hat die Stimme von Scarlett Johansson, aber trotzdem kann ich mich an meine Verblüffung erinnern, als ich den Film zum ersten Mal im Kino sah. 2023: Statte ChatGPT mit Johanssons Stimme aus, und der Film ist Realität. Spooky. Was wohl Jonze selbst heutzutage über seinen Film denkt? Ich möchte ihm nicht einmal unterstellen, dass es seine Grundintention war, einen möglichst prophetischen Blick in die Zukunft zu werfen, denn ihm geht es in „Her“ sichtlich um andere Dinge: um das Gefühl der Verlorenheit, das uns alle manchmal überfällt, und um den Wunsch, mit jemanden eine emotionale Verbindung einzugehen, und sei es auch nur eine künstliche Intelligenz. Gleichzeitig aber verhandelt der Film auf weiteren Ebenen genau die Problematik, vor der wir heute stehen: Was, wenn sich diese von uns geschaffene Intelligenz weiterentwickelt? Welche Folgen hat das für uns? Hier ist Spike Jonze weniger pessimistisch, als ich es im Moment bin (man spürt vielleicht ein klein wenig, dass diesmal Charlie Kaufman, mit dem Jonze eine lange und denkwürdige kreative Zusammenarbeit verbindet, nicht involviert war), aber dennoch lässt er diese Frage nicht außer Acht. Dass „Her“ auch abseits seiner klugen Erzählung ein kleines Wunderwerk ist, liegt primär am sensationellen Cast. Joaquin Phoenix gehört zu den Meistern seiner Generation – er kann schlicht alles spielen, ob ein vom Leben gebrochener Psychopath wie in Joker, ein von Inzest- und Machtfantasien gebrochener Psychopath wie in Gladiator, oder eben jenen Theodore Twomley, von seiner früheren Beziehung gebrochen, aber alles andere als ein Psychopath, vielmehr eine unglaublich gutherzige, wenn auch verletzte Seele. Der Mann ist ein schauspielerisches Chamäleon. Daneben Scarlett Johansson, die nur deshalb um eine Golden Globe-Nominierung gebracht wurde, weil sie keine einzige Sekunde im Film zu sehen ist. Aber was sie mit ihrer Stimme anstellt, ist aller Ehren wert. Die hervorragende Amy Adams in einer kleinen, aber wichtigen Nebenrolle bringt schließlich so etwas wie eine Erdung in die Geschichte ein. „Her“ ist ein herausragender Film, der in allen Teilen meisterhaft und gleichzeitig auch mehr als die Summe seiner Teile ist.


9,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Warner Bros. Picture – © 2013 – Untitled Rick Howard Company LLC, Quelle http://www.imdb.com)

Bombshell – Das Ende des Schweigens (2019)

Regie: Jay Roach
Original-Titel: Bombshell
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama, Biopic
IMDB-Link: Bombshell


Der wohl denkwürdigste Spruch in Jay Roachs „Bombshell – Das Ende des Schweigens“ lautet sinngemäß: „Es ist eine Fox-Nachricht, wenn es entweder deine Großmutter verängstigt oder bei deinem Großvater Ärger erregt“. Fox-News ist so etwas wie die amerikanische Bild-Zeitung im Fernsehen, nur konservativer. Dass sich der einflussreiche und cholerische CEO Roger Ailes (John Lithgow) gerne mal an hübschen Moderatorinnen vergreift als Gegenleistung für deren berufliches Fortkommen, kann man also getrost als perfekte Schlagzeile für Fox-News betrachten. Nur, dass die Frauen intern die Mauer machen – zu groß ist die Angst vor dem weitreichenden Einfluss des Ekels. Auch Megyn Reilly (eine dank Oscar-gekrönter Maske fast unkenntliche Charlize Theron), Aushängeschild des erzkonservativen Senders, möchte zunächst ihrer gefeuerten Kollegin Gretchen Carlson (Nicole Kidman) nicht beispringen. Attacken seitens des Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der sich von Reillys kritischen Fragen zu seinem sexistischen Verhalten angegriffen fühlt, sind ihr erst einmal genug Action im Job, zumal plötzlich auch windige Fotografen auf ihrer Veranda stehen und versuchen, ihr Privatleben in die Öffentlichkeit zu zerren. Doch steter Tropfen höhlt den Stein, und allmählich wagen sich auch andere belästigte Frauen nach vorne. Das Imperium von Roger Ailes scheint angreifbar zu werden. „Bombshell“ ist ein weiterer Film, der die MeToo-Bewegung thematisiert und aufzeigt, wie oft Grenzen überschritten werden und wie das System die Grenzüberschreiter deckt. Das Thema allein muss man dem Film schon mal hoch anrechnen. Und auch schauspielerisch wird der Film von absoluten Größen der Branche getragen. Selbst Nebenrollen sind mit Kapazundern wie Margot Robbie, Malcolm McDowell, Allison Janney oder Richard Kind besetzt. Allerdings hat der Film ein Problem mit dem Pacing. Die Geschichte wird recht wirr erzählt, Zusammenhänge muss sich der Zuseher selbst erarbeiten, und es gibt wenige entscheidende Momente, die den Plot wirklich voranbringen. Vielmehr tröpfelt dieser vor sich hin, passend wiederum zu den realen Ereignissen, die auch nur langsam in Fahrt gekommen sind. Eine straffere Inszenierung hätte dem Film aber insgesamt gutgetan.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

The Long Goodbye (2020)

Regie: Aneil Karia
Original-Titel: The Long Goodbye
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama
IMDB-Link: The Long Goodbye


Riz Ahmed ist ein vielseitiger und interessanter Künstler, der bei mir bislang unter dem Radar geflogen ist. Doch spätestens mit seiner Oscar-Nominierung für „The Sound of Metal“ 2020 (den ich schändlicherweise immer noch nicht gesehen habe) und dem Gewinn 2022 gemeinsam mit Aneil Karia für den Kurzfilm „The Long Goodbye“ ist er nicht mehr zu übersehen. Dieses 11-minütige Drama ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mit ökonomischen Mitteln eine facettenreiche Geschichte erzählt, die unter die Haut geht. Zunächst wird erst einmal fünf Minuten lang in einer fröhlichen Familie in England mit Migrationshintergrund herumgeblödelt, doch dann bricht unvermittelt eine Tragödie über die friedliche Szene herein, und am Ende sitzt man traurig und wütend, jedenfalls emotional aufgepeitscht, vor dem Bildschirm und versucht irgendwie, diesen Schlag in die Magengrube zu verdauen. In 11 Minuten wird hier mehr über Rassismus, Ausgrenzung und unfairer Behandlung von Minderheiten in unserer westlichen Gesellschaft erzählt, als es so mancher Zweistünder zustandebringt. Die drastischen Mittel, die Karia und Ahmed dafür wählen, dienen der emotionalen Aufladung und erfüllen somit ihren Zweck. Natürlich hätte man das Thema auch in einen subtiler vorgehenden Langfilm packen können, doch die Botschaft sitzt und von daher kann man konstatieren: Alles richtig gemacht. Den kompletten Kurzfilm gibt es übrigens auf Youtube zu sehen, siehe Verlinkung unten. Diese 11 Minuten sind gut investiert.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Asteroid City (2023)

Regie: Wes Anderson
Original-Titel: Asteroid City
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Komödie, Science Fiction
IMDB-Link: Asteroid City


Es gibt ja zwei Arten von Menschen: Jene, die im Sommer bei über 30 Grad bevorzugt im Freien herumturnen (vorzugsweise natürlich im Freibad), und es gibt herbstliche Gewächse wie Kürbisse beispielsweise, die sich bei solchen Temperaturen lieber in einen dunklen, klimatisierten Kinosaal verkriechen, da sich der Aggregatszustand draußen rasend schnell von fest in flüssig ändert. Das Wüstensetting von Wes Anderson neustem Film „Asteroid City“ passt immerhin zu den Außentemperaturen, auch wenn man fairerweise dazu erwähnen muss, dass just an jenem Nachmittag, an dem es den Kürbis samt Kürbisin ins Kino verschlagen hat, ein frühlingshafter Regen über die Stadt niederging. Apropos Regen: Von einem „Besetzungsregen“ kann man durchaus sprechen, wenn man auf die Liste der Beteiligten schaut. Wes Anderson hat den Punkt in seiner Karriere erreicht, an dem er a) für jeden Film mehr Anfragen von renommierten Darsteller:innen reinbekommt, die mit ihm zusammenarbeiten wollen, als er sinnvollerweise ins Drehbuch schreiben kann, und b) einen Zustand der kompletten Selbstreferenz erreicht hat, was aber wurscht ist, weil a). Wenn beispielsweise eine Margot Robbie als Neuzugang im Anderson’schen Universum gerade mal auf einem Foto und ca. eine Minute am Ende zu sehen ist, dann ist es fast schon egal, ob man etwas zu erzählen hat oder nicht. Wobei ich Wes Anderson nicht absprechen möchte, gute Geschichten erzählen zu können. Ich bin ja ein großer Fan seiner Arbeit, doch muss ich auch zugeben, dass die Casts immer größer, die Sets immer geometrischer und die Nebenstränge immer zahlreicher werden, und das geht zulasten der Story. In „Asteroid City“ treffen sich unterschiedliche Charaktere in den 50ern bei einem Meteroidenkrater, um der Verleihung eines Wissenschaftspreises an Jugendliche beizuwohnen, als sie unverhofft Zeugen eines außergewöhnlichen ersten Kontakts mit Außerirdischen werden. (Sehr schön an dieser Stelle ist die akustische Verbeugung vor Tim Burtons Trash-Meisterwerk Mars Attacks! – Wes Anderson kann also auch andere zitieren als sich selbst.) Gleichzeitig wird aber als zweiter Strang die Entstehung dieser Geschichte des Erstkontakts erzählt – in Form von Vorbereitungen auf ein Theaterstück. Ob diese Verschachtelung der Ebenen nun einfach nur dazu gedacht ist, auch alle Schauspieler:innen wirklich unterbringen zu können (Edward Norton als Dramatiker, Bryan Cranston als Erzähler, Adrien Brody als Regisseur, Hong Chau in einer Minirolle als dessen Exfrau, Jeff Goldblum in einer noch kleineren Minirolle als Alien-Darsteller), sei mal dahingestellt. Eine zweite These ist natürlich, dass Wes Anderson mit dieser Ebene selbst Einblick in seinen kreativen Schaffensprozess gewähren wollte, der so wahnwitzig und anders ist, dass kein Anderer jemals so arbeiten kann, ohne des Plagiats beschuldigt zu werden. Wie auch immer: Allein diese bunten, durchkomponierten Tableaus und die witzigen Details machen einen Wes Anderson-Film immer zum Ereignis, und in „Asteroid City“ treibt er diese auf die Spitze. Wenn man das mag: Nur rein ins Kino, auch wenn man vielleicht eher dem Typus „Freibad-Aficionado“ angehört. Wenn man mit Wes Anderson und seinem ganz eigenen Stil allerdings nichts anfangen kann, sollte man um diesen Film lieber einen großen Bogen machen, denn mehr Wes Anderson als hier geht eigentlich nicht. (Wobei mir auffällt, dass ich mir das mittlerweile bei jedem neuen Wes Anderson-Film denke, und dann setzt er dem Ganzen doch noch mal eine neue Krone auf.)


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Pop. 87 Productions//Courtesy of Pop. 87 Productions – © 2022 Pop. 87 Productions LLC, Quelle http://www.imdb.com)

Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben (2023)

Regie: Robert Schwentke
Original-Titel: Seneca: On the Creation of Earthquakes
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Satire, Historienfilm, Biopic, Experimentalfilm
IMDB-Link: Seneca: On the Creation of Earthquakes


Wie passend, dass im Radio nach der Heimfahrt vom Kinobesuch „Bad Moon Rising“ von Creedence Clearwater Revival gespielt wurde. Der Text des Songs bietet eine wunderbare Zusammenfassung von Robert Schwentkes gewagtem Historien-Experimentalfilm, vor allem die Stelle „Hope you got your things together. Hope you are quite prepared to die“. Denn dieses Schicksal erwartet Seneca, Senator Roms, Lehrer Neros und allseits beliebter Gastgeber von Reich und Schön, die sich seine Lebensweisheiten reinziehen, bevor sie zu omnipräsenten Kalendersprüchen wurden. Denn Seneca ist in Ungnade gefallen, und der Bote Roms, der an seiner Haustür anklopft, stellt ihn vor die Wahl: Am nächsten Morgen kommt er wieder, um Senecas Leiche einzusammeln, oder aber er setzt Neros Wunsch persönlich um, was dann allerdings, wie er andeutet, einen grauslichen und langwierigen Leidensweg bedeuten würde. „Hope you got your things together. Hope you are quite prepared to die.“ Auch einen wortwörtlichen bad moon gibt es zuvor, denn Seneca hat für sein extravagantes Partyvolk vorab noch ein Theaterstück zum Besten gegeben, um ihnen ihre Dekadenz vor Augen zu führen, wobei er nicht vor drastischen Mitteln zurückschreckt, und genau am Höhepunkt dieser Inszenierung schiebt sich der Mond wie ein böses Omen vor die Sonne und verdunkelt die Welt. Doch ist Seneca ein Erleuchteter oder nicht vielmehr ein Heuchler, ein Hypokrit, wie im Buche steht? Selbst unermesslich reich geworden predigt er über Tugend, Anstand und Gnade, und sich nicht zum Sklaven des Reichtums zu machen, sondern Herr darüber zu sein. John Malkovich in der Titelrolle spielt diese zweideutige Gestalt, die vor dem reichen Publikum auf dicke Hose macht, doch im Grunde nur ein aufgeblasener, eitler Gockel ist, mit einer Präsenz, die es unmöglich macht, den Blick von der Leinwand zu wenden. Allerdings eine Warnung: Wer einen klassischen Historienfilm erwartet, ist hier falsch. Denn „Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben“ ist vielmehr eine auf Film gebannte Theaterinszenierung, in die immer wieder, wie als fernes Echo, die moderne Welt hineinhuscht – sei es durch Sonnenbrillen, Graffiti von Panzern oder der eindrücklichen Schlussszene, als Senecas Körper von einem Bagger verscharrt wird. Jede dieser Szenen bietet unterschiedliche Lesarten an, und es liegt am Zuseher selbst, was er daraus macht. Als gebürtiger Salzburger komme ich nicht umhin, Parallelen zu Hugo von Hofmannsthals Stück „Jedermann“ zu ziehen, in dem es ebenfalls über das Sterben des reichen Mannes geht. Am Ende sind wir allein und auf unsere intimsten Ängste und Instinkte zurückgeworfen, ganz gleich, wer man im Leben war. Um noch einen Songtext zu zitieren – hier nun die Erste Allgemeine Verunsicherung: „Der Tod ist ein gerechter Mann, ob’st oarm bist oder reich. ‚G’sturbn is g’sturbn‘, sagt der Wurm. Als Leich‘ is jeder gleich.“


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Lilli Kuschel, Quelle http://www.imdb.com)

Air: Der große Wurf (2023)

Regie: Ben Affleck
Original-Titel: Air
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Sportfilm, Biopic, Drama
IMDB-Link: Air


Zugegeben, ich habe einen kleinen Bogen um Ben Afflecks neuen Film gemacht. Wie spannend kann die Geschichte rund um die Entwicklung eines Sportschuhs sein? Und wird daraus nicht einfach nur ein Werbefilm für Nike? Tatsächlich ist der Stoff aber bei Affleck in guten Händen. Zusammen mit seinem alten Spezi Matt Damon in der Hauptrolle des Basketball-Gurus Sonny Vaccaro gelingt es ihm, daraus eine Geschichte von einem unkonventionellen Underdog zu machen, der den angestaubten Platzhirschen (in diesem Fall Converse und Adidas) mit Chuzpe die Stirn bietet. 1984 ist Nike nur die Nummer 3 unter den Basketballschuh-Herstellern. Die Aussicht auf Stars als lukrative Testimonials für das eigene Schuhwerk ist gering. Man begnügt sich mit den Krümeln, die Converse und Adidas übrig lassen. Genannter Sonny Vaccaro will genau das ändern. Er sieht in dem Rookie Michael Jordan das vielleicht größte Talent aller Zeiten und darin die große Chance für Nike. Alleiniges Problem: Michael Jordan will nicht mit Nike reden und trägt lieber Adidas. Der größte Clou von „Air: Der große Wurf“ ist es, das eigentliche Zentrum des Films, den kommenden Superstar Michael Jordan, komplett außen vor zu lassen. Er ist höchstens mal eine Silhouette im Hintergrund, verdeckt durch seine eigene Mutter (Viola Davis), die alleinige Ansprechpartnerin für Vaccaro und sein Team (darunter Ben Affleck als CEO Phil Knight, Jason Bateman als Marketingchef Rob Strasser sowie Chris Tucker als Howard White). „Air: Der große Wurf“ bietet in jeglicher Hinsicht deutlich weniger Heldenverehrung, als man erwarten würde – eine sehr emotionale, aber dramaturgisch großartig begleitete Rede von Vaccaro ausgenommen. Vielmehr erzählt der Film davon, wie man mit Mut, Witz und einer klaren Vision das scheinbar Unmögliche möglich machen kann, wenn man an sich selbst glaubt. Dazu gelingt es Affleck, die Zeit, in der der Film spielt, für den Zuseher wieder greifbar und erlebbar zu machen – ein Talent, das er schon in Argo unter Beweis stellen konnte. Er begnügt sich nicht damit, ein paar Gimmicks aus den 80er Jahren und einen entsprechenden Soundtrack aufzuwarten, sondern jede Kameraeinstellung, jedes Produktionsdesignelement atmet den Geist dieser Epoche. Allein diese Hingabe zum Detail macht „Air: Der große Wurf“ schon sehenswert. Alles in allem eine positive Überraschung und weitaus mehr als das erwartbare Marken-Pleasing. Ich bin nun schon gespannt auf die filmische Umsetzung der dramatischen Geschichte, wie aus Raider Twix wurde.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von ANACARBALLOSA/Ana Carballosa/Amazon Studios – © ANA CARBALLOSA, Quelle http://www.imdb.com)