Autor: Filmkürbis

Gedanken zu Weihnachten

In der letzten Zeit war es ziemlich ruhig auf diesem Blog. Das hat durchaus Gründe. Wenn sich im Privaten große Veränderungen ergeben, verschieben sich damit auch die Prioritäten. Und wenn im Leben Glück und Leid bzw. Trauer Hand in Hand gehen, bleibt im großen Emotionsfass, das wir alle mit sich tragen und aus dem wir täglich schöpfen, nicht mehr viel übrig für die Dinge, die unsere Emotionen im kleineren Rahmen ansprechen, wie eben Filme, Bücher, Kunst. Morgen werde ich meine Mutter beisetzen, die uns viel zu früh nach schwerer Krankheit und wider ihrem starken Willen verlassen musste. Gleichzeitig entsteht gerade neues Leben – und das gleich doppelt. Wohin mit all dieser Emotion? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das alles – im Positiven wie im Negativen – gerade vieles überlagert. Und ich weiß: Zeit ist knapp und kostbar. Es ist wichtig, Prioritäten zu setzen, und für mich gerade, viel Zeit mit jenen Menschen zu verbringen, die meinem Herzen am nächsten sind. Natürlich schaue ich mit meiner Frau zuhause auch weiterhin Filme an, und natürlich schreibe ich auch gelegentlich darüber. Ganz leer geblieben ist dieser Blog in den letzten Wochen ja trotzdem nicht, und auch die Viennale habe ich noch so richtig genossen. Aber der Drang, so viel Neues wie möglich zu sehen, so tief in diese wunderbare Welt der Filme und des Kinos einzutauchen wie nur irgendwie möglich, der hat in den letzten Wochen und Monaten doch abgenommen. Er ist noch da, und er wird auch wieder verstärkt und gestärkt hervortreten, wenn das große Emotionsfass wieder gut gefüllt ist und ich weiß, wie ich daraus schöpfen kann und wie ich mir meine Emotionen so einteilen kann, dass auch für die kleineren Dinge im Leben wieder etwas übrigbleibt. Aber im Moment bleibt dafür eben weniger Raum in meinem Leben als die letzten Jahre. Das ist auch gut und richtig so, denn, wie gesagt: Prioritäten. Und das ist es auch, was ich mit diesem frühmorgendlichen Text, der nach einer durchwachsenen Nacht in einem Zustand zwischen Nachdenklichkeit und Müdigkeit entstanden ist, mitgeben möchte. Weihnachten ist eine Zeit, seine Prioritäten zu ordnen. Den Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld Zeit einzuräumen. Es geht nicht um Geschenke, Truthähne oder opulent geschmückte Christbäume. Es geht um die Zeit und was wir daraus machen. Es geht um gute oder auch belanglose Gespräche, es geht um das Miteinander, das gemeinsame Lachen, das gemeinsame Zusammensitzen, vielleicht auch das gemeinsame Schweigen und Erinnern. Es geht um das große Emotionsfass und die Frage, was ich daraus schöpfen kann, was tatsächlich wichtig genug ist, um daraus bedacht zu werden. Die Zeit für Nebensächlichkeiten wird wieder kommen, aber jetzt geht es erst einmal um die Hauptsache. In diesem Sinne wünsche ich auch allen, ihr treuen Seelen, die diesen Blog teils seit Jahren verfolgt, ein besinnliches Weihnachtsfest und schöne Feiertage. Macht das Beste daraus! Und wir lesen uns hier weiterhin, den Kürbis wird es weiter geben, er wird wieder seine Zeit haben, den lasse ich nicht fallen. Versprochen!

Die Addams Family (1991)

Regie: Barry Sonnenfeld
Original-Titel: The Addams Family
Erscheinungsjahr: 1991
Genre: Komödie
IMDB-Link: The Addams Family


Anjelica Huston ist eine überaus respektable und Oscar-prämierte Schauspielerin mit einer langen und erfolgreichen Karriere. Doch wird sie immer, wenn man an sie denkt, Morticia Addams bleiben. Christina Ricci ist eine vielseitige und äußerst talentierte Schauspielerin, die laut IMDB mittlerweile in 95 Produktionen als Darstellerin mitgewirkt hat. Doch wird sie immer, wenn man an sie denkt, Wednesday Addams bleiben. Raúl Juliá, 1994 viel zu früh verstorben, hat Preise wie den Primetime Emmy Award oder den Screen Actors Guild Award gewonnen. Doch wird er immer, wenn man an ihn denkt, Gomez Addams bleiben. Jimmy Workman, heute hinter der Kamera tätig und nicht mehr davor, wird immer, wenn man an ihn denkt, Pugsley Addams bleiben. Und Christopher Lloyd wird immer, wenn man an ihn denkt, Doc Brown bleiben, doch das ist eine andere Geschichte. Sein Fester Addams ist deshalb nicht weniger ikonisch und großartig. Mit der Addams Family hat Charles Addams eine wunderbar makabre und schwarzhumorige Kult-Cartoon-Reihe geschaffen, die von Barry Sonnenfeld in oben genannter Besetzung kongenial verfilmt wurde. Bis heute wird sich Tim Burton vermutlich jedes Mal, wenn er irgendwo darauf stößt, in den Hintern beißen, dass er den Stoff nicht in die Finger bekommen hat. Denn „Die Addams Family“ ist der Tim Burton-Film, der nicht von Tim Burton stammt. Hier werden genussvoll Leid und Vergänglichkeit zelebriert, der Tod wird umarmt und damit das Leben gefeiert. „Liebe, Tod und Teufel“ sang schon die EAV, und das könnte auch als Motto über den Filmplakaten zu diesem Kultfilm stehen. Wer dieses verrückte nächtliche Treiben nicht kennt und keine Angst vor Särgen, Spinnen und rasiermesserscharfen, rotlackierten Fingernägeln hat, sollte dies schnell nachholen!


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Challengers – Rivalen (2024)

Regie: Luca Guadagnino
Original-Titel: Challengers
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Liebesfilm, Sportfilm
IMDB-Link: Challengers


Im Finale eines kleineren Turniers der Challengers-Turnierreihe (im Tennis sozusagen die zweite Liga unter der ATP-Tour) treffen Patrick Zweig (Josh O’Connor) und Art Donaldson (Mike Faist) aufeinander – unter den interessierten Blicken des ehemaligen Wundertalents Tashi Duncan (Zendaya), die durch eine böse Knieverletzung früh in der Karriere ausgebremst wurde. Die drei verbindet eine lange Geschichte miteinander. Patrick und Art waren früher beste Freunde, haben ihre erste großen Erfolge gemeinsam im Doppel gefeiert – und das nicht nur auf dem Tennisplatz, sondern auch an einem denkwürdigen Abend mit Tashi. Nachdem die sich zunächst für den charismatischeren Patrick entschieden hat, wurde sie später mit dem solideren und fokussierten Art sesshaft, der in Folge auch eine erfolgreiche Tenniskarriere hinlegte, während Patrick, immer wieder an sich selbst scheiternd, in den Niederungen der kleineren Turniere hängenblieb, wo man mangels vernünftiger Preisgelder auch mal im Auto auf dem Parkplatz vor dem Tennisplatz übernachten muss. Doch befindet sich Art zum Zeitpunkt dieses großen Aufeinandertreffens in einer Formkrise. Am letzten großen Ziel, der Gewinn der US Open, droht er zu scheitern, weshalb Tashi, mittlerweile seine Frau und Trainerin, zwecks Formaufbau die Teilnahme an diesem kleineren Challengers-Turnier vorschlägt. Im Zuge des neuerlichen Aufeinandertreffens der einstigen Freunde und nunmehrigen Rivalen werden die Erinnerungen an die turbulenten Ereignisse der vergangenen zwölf Jahre wieder nach oben gespült und verleihen dieser Begegnung besondere Brisanz. In Rückblenden erzählt Luca Guadagnino in von ihm gewohnt stylischen Bildern die komplizierte Gefühlshistorie dieses Dreiecks. Wenn Sportler:innen ihren unbedingten Siegeswillen ins Liebesleben einbringen, wird es eben schnell mal kompliziert. Diesen Aspekt beleuchtet Guadagnino sehr kunstvoll. Auch die Sportszenen selbst lassen nichts zu wünschen übrig. Es ist schlicht spektakulär anzusehen, wenn man als Zuseher plötzlich die Perspektive des Balls einnimmt und von verschwitzten Rivalen mit jedem Schlag grimmiger übers Netz gedroschen wird. Die Schauwerte des Films überzeugen also. Auch die Darstellerriege liefert in hoher Qualität ab. Zendaya fungiert hierbei als Zugpferd für diesen Film, doch bleibt sie schauspielerisch sogar fast zurück hinter Josh O’Connor und Mike Faist, die ihre Charaktere mit authentischem und nuancierten Spiel enorme Glaubwürdigkeit verleihen und den Herzschlag des Films bestimmen. Allerdings können Dramaturgie und Spannungsbogen mit den Schauwerten nicht ganz mithalten. Für die doch recht einfach strukturierte Geschichte fühlt sich der Film insgesamt zu lang an. Guadagnino nimmt sich viel Zeit für seine Charaktere, was prinzipiell löblich ist, doch nicht jeder Ausflug in deren Vergangenheit erweist sich als gewinnbringend für die Zuseher. Und so gibt es immer wieder zähe Passagen, die den Film und seine Figuren nicht so recht voranbringen. Das drückt letzten Endes die Bewertung auf solide, aber ausbaufähige 6 Kürbisse.


6,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Metro Goldwyn Mayer Pictures – © 2023 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved, Quelle: http://www.imdb.com)

765874 – Unification (2024)

Regie: Carlos Baena
Original-Titel: 765874 – Unification
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Kurzfilm, Science Fiction
IMDB-Link: 765874 – Unification


Star Trek ist Teil einer weltweiten Identität des 20. Jahrhunderts. Man wird die entlegensten Dörfer des Erdballes besuchen können, mit Sicherheit findet sich ein Trekkie unter den Dorfbewohnern. Doch selbst das Raumschiff Enterprise entkommt nicht dem unerbittlichsten Feind der Menschheit, der Zeit. Von der Originalcrew sind nur noch Captain Kirk, Chekov und Sulu am Leben. Und auch von ihnen werden wir uns wohl oder übel in absehbarer Zeit verabschieden müssen. Diesen Abschied nimmt Carlos Baena in seinem atmosphärisch dichten und emotional berührenden Kurzfilm mit dem sperrigen Titel „765874 – Unification“ vorweg. Unter Mithilfe von William Shatner besucht Captain Kirk seinen alten Weggefährten und Freund Spock am Sterbebett. Fast zehn Jahre nach dem Tod von Leonard Nimoy ermöglicht die moderne Tricktechnik diese Reise in die Vergangenheit. Und die Möglichkeiten werden gut genutzt, führen den Star Trek-Fan auf eine nostalgische Reise, die fast ohne Worte auskommt und rein auf die Kraft der Bilder vertraut. Natürlich ist das rührselig und kitschig, aber ein wenig Kitsch hat Star Trek im Grunde immer gut gestanden. Dieser Tage auf Youtube veröffentlicht und somit für alle frei zugänglich ist der Film einerseits eine Verbeugung vor Nimoy und ein Dank an die zahlreichen Fans, die dem Raumschiff Enterprise fast sechzig Jahre nach dem Jungfernflug immer noch die Treue halten, andererseits aber auch eine kompakte Meditation über Vergänglichkeit, Tod und Freundschaft – existenzielle Themen, vor denen sich Star Trek nie gescheut hat. Und damit geht der Film weit über reines Fan-Pleasing hinaus.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Die Werwölfe von Düsterwald (2024)

Regie: Francois Uzan
Original-Titel: Loups-Garous
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Abenteuerfilm, Fantasy, Komödie
IMDB-Link: Loups-Garous


Das Rollenspiel „Die Werwölfe von Düsterwald“ sind ein weltweites Phänomen, und auch der Kürbis eures Vertrauens hat sich in trauter Runde schon die eine oder andere Nacht um die Ohren geschlagen, um im Freundeskreis die mordlustigen Wölfe unter den unschuldigen Dorfbewohnern ausfindig zu machen. Das Spiel ist sehr schnell erklärt für alle, die es nicht kennen: Jeder Spieler erhält zu Spielbeginn eine geheime Rolle. Darunter befinden sich Werwölfe, die in der Nacht im Pack jeweils ein unschuldiges Opfer reißen. Untertags diskutieren dann die Dorfbewohner (darunter auch die unerkannten Wölfe), wer von ihnen etwaige hündische Vibes ausstößt und aus dem Dorf verbannt werden soll. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis diese simple, aber im richtigen Kontext so spannende Geschichte auch mal verfilmt werden würde. Regisseur Francois Uzan und die Drehbuchautoren haben es sich in der französischen Verfilmung zu diesem Spiel allerdings besonders einfach gemacht. Die moderne Familie, die zu einer Partie Werwolf zusammenkommt (darunter Jean Reno – er wird alt und braucht das Geld), wird durch ein magisches Spiel, Jumanji lässt grüßen, in eben dieses hineingesaugt und findet sich im Mittelalter wieder. Das Gute ist: Sie sind mit magischen Kräften ausgestattet. Schlecht hingegen ist, dass sie lange Zeit keinen Plan haben, worum es hier geht, und vor allem keine Idee, wie sie wieder nach Hause in ihre Zeit reisen können. Und dazu schleichen in der Nacht auch noch Wölfe umher. Doch schon bald rauft sich die Sippe zusammen und begegnet dem hungrigen Rudel mit geballter Familienpower. So weit, so vorhersehbar. „Die Werwölfe von Düsterwald“ ist recht lieblose heruntergespulte Netflix-Standardware, die sich zur Gänze darauf verlässt, die Fans des Spiels abzuholen, ohne sich groß dafür anstrengen zu müssen. Nur wenige Gags sitzen, und die Story plätschert vor sich hin, bis sie zum überraschungsfreien Ende kommt. Immerhin die Darsteller:innen sind zum größten Teil bemüht (unrühmliche Ausnahme: Jean Reno, dem man in jeder Szene ansieht, dass er nur da ist, um den Gehaltsscheck einzustreifen), machen das Kraut aber auch nicht fett. Wer etwas Gehaltvolleres zum Thema Werwölfe erfahren möchte, dem sei Christian Morgenstern mit seinem Gedicht „Der Werwolf“ ans Herz gelegt:

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

»Der Werwolf«, – sprach der gute Mann,
»des Weswolfs« – Genitiv sodann,
»dem Wemwolf« – Dativ, wie man’s nennt,
»den Wenwolf« – damit hat’s ein End‘.

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar,
doch „Wer“ gäb’s nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.


3,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Viennale 2024: Top10

Die Viennale 2024 ist bewältigt – zwischen Dienstreisen und gesundheitsbedingten Ausfällen, aber immerhin mit einer zweistelligen Filmanzahl. Die geplanten 14 Filme wurden es nicht ganz, am Ende standen aber zehn zu Buche. Wie praktisch, denn daraus lässt sich wunderbar eine Top10-Liste ableiten. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass das Programm unter der Leitung von Eva Sangiorgi mittlerweile eine gute Mischung gefunden hat zwischen Crowdpleasern und Nischenfilmen. Es ist unterm Strich vielleicht einen Tick ernsthafter als unter dem seligen Hans Hurch, der immer wieder leicht anarchische Ausreißer reinprogrammiert hat (und fürs Breitenpublikum nicht zu vergessen den alljährlichen Woody Allen-Film), aber für gute Unterhaltung wurde dennoch gesorgt. Ein kompletter Totalausfall war unter meinen gesichteten zehn Filmen nicht dabei, wenngleich mit dem neuesten Olivier Assayas doch auch eine Enttäuschung. Immerhin vier Filme allerdings konnten sich eine Bewertung von mindestens sieben Kürbissen sichern und gehören dazu zu den uneingeschränkten Empfehlungen dieses Blogs (mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, am Ende des Jahres in meiner üblichen Top30-Liste von 2024 wieder aufzutauchen, mein diesjähriges Viennale-Highlight sogar mit einer guten Chance aufs Stockerl). Hier nun die Liste der zehn gesichteten Filme und ihre Bewertungen:

8,5 Kürbisse
Who by Fire (von Philippe Lesage)

8,0 Kürbisse
The End (von Joshua Oppenheimer)

7,5 Kürbisse
Between the Temples (von Nathan Silver)

7,0 Kürbisse
On Becoming a Guinea Fowl (von Rungano Nyoni)

6,5 Kürbisse
Matt und Mara (von Kazik Radwanski)
Dreaming Dogs (von Elsa Kremser und Levin Peter)
Queer (von Luca Guadagnino)

5,5 Kürbisse
Ghost Cat Anzu (von Yoko Kuno und Nobuhiro Yamashita)

4,5 Kürbisse
Suspended Time (von Olivier Assayas)

4,0 Kürbisse
Something Old, Something New, Something Borrowed (von Hernán Rosselli)

Something Old, Something New, Something Borrowed (2024)

Regie: Hernán Rosselli
Original-Titel: Algo viejo, algo nuevo, algo prestado
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Algo viejo, algo nuevo, algo prestado


Die Wettmafia in Argentinien. Befeindete Clans und Familien haben die Stadt sauber unter sich aufgeteilt, ständig begleitet die Angst vor Razzien und Verhaftungen den Alltag. Und doch ist „Algo viejo, algo nuevo, algo prestado“ von Hernán Rosselli zunächst einmal eine dokumentarisch anmutende Familiengeschichte. Mittels Home Recording Videos wird die Geschichte von Maribel Felpeto und ihrer Familie nachgezeichnet: Wie sich Mutter und Vater kennenlernten und ineinander verliebten, wie Maribel aufwuchs und schließlich der Schock, als der Vater eines Tages aus unerklärlichen Gründen Suizid beging. Maribel ist längst im Familienunternehmen angekommen, das unter der Führung ihrer Mutter floriert. Um Geld dreht sich alles in dieser Familie, darunter leiden selbst zwischenmenschliche Beziehungen, und am Ende ist sich jeder selbst der Nächste. Das Bemerkenswerte an diesem Film ist Rossellis Herangehensweise: Er verwendet unter anderem Heimvideos seiner Hauptdarstellerin und Kollaborateurin Maribel Felpeto und konstruiert um diese herum die Geschichte vom Mafiaclan. Dadurch bekommt der Film einen realistischen Anstrich, wie man ihn nur selten im fiktionalen Kino findet. Doch gleichzeitig nimmt dieser halb-dokumentarische Ansatz unglaublich viel Tempo aus der Geschichte. Denn ganz ehrlich: Wer hat schon wirklich mit Genuss die verwackelten Heimvideos von losen Bekannten oder Verwandten angesehen, wenn die ihre Werke voller Stolz präsentiert haben? Sieht man sich Videos der eigenen Familie an, gibt es immerhin noch einen emotionalen Bezug, da kann man dann gerne über viel zu lange Sequenzen und grobkörnige Bilder hinwegsehen. Dieser emotionale Bezug fehlt hier aber komplett, und so ist die Idee von Rosselli zwar interessant, führt aber nicht zu einem interessanten Film. Ultrarealismus ist halt im Kino nicht immer gefragt, da braucht es Verdichtung und Spannungsaufbau. Beides fehlt hier. Und so können sich dann auch hundert Minuten recht lang anfühlen.


4,0 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Queer (2024)

Regie: Luca Guadagnino
Original-Titel: Queer
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Drama, Roadmovie, Biopic
IMDB-Link: Queer


Da ist er nun, der Überraschungsfilm der Viennale 2024. Wie Eva Sangiorgi in ihrer kurzen Ansprache vor Beginn der Vorführung erklärte, wäre der Film ohnehin als Fixpunkt im Programm gelaufen, hätte man nur rechtzeitig einen Verleih dafür gefunden. Nachdem sich dieser Prozess aber ein wenig hinzog, musste man ausweichen und dem neugierigen Publikum Guadagninos neuestes Werk mit Daniel Craig in der Hauptrolle eben als Überraschungsfilm präsentieren. Auf der einen Seite erscheint diese Vorgehensweise durchaus mutig, denn der Film nach einer literarischen Vorlage von William S. Burroughs gehört sicherlich zu jenen, die die Gemüter spalten. Andererseits: Wann kann man schon einen Guadagnino-Film als Überraschungsfilm präsentieren? Der Italiener ist so etwas wie der große internationale Aufsteiger der letzten zehn Jahre mit Filmen wie Call Me by Your Name oder Suspiria. Er gehört zu jenen Regisseuren, deren Stil man sofort wiedererkennt, da er eine ganz eigene, sinnliche Bildsprache pflegt und auch musikalisch immer wieder spannende Pfade betritt. „Queer“ bildet diesbezüglich keine Ausnahme – im Gegenteil. Der Film ist atmosphärisch enorm dicht. Die Story hingegen – und da sind wir bei dem Aspekt, der wohl die Geister voneinander scheiden wird – bleibt dünn. In seinem autobiographischen Roman erzählt William S. Burroughs von seinem Alter Ego, das in Schwulenbars in Mexico City abhängt und sich unsterblich in einen Jüngeren (Drew Starkey) verliebt, mit dem er sich schließlich auf einen Roadtrip nach Südamerika aufmacht, um dort nach der legendären Yage-Pflanze zu suchen, nach dessen Einnahme man angeblich Gedanken lesen kann. William Lee, mit vollem Einsatz von Daniel Craig gespielt, der die wohl beste und jedenfalls mutigste Leistung seiner Karriere abliefert, ist ein Suchender, doch scheint er manchmal selbst nicht zu wissen, was er sucht. Gefangen zwischen Lust und dem aufrichtigen Wunsch nach Liebe ist er ein Mensch, der niemals anzukommen scheint, ganz gleich, wohin es ihn verschlägt. Prinzipiell sieht man ihm bei seiner Reise ins Nirgendwo auch gerne zu, dafür sorgt allein schon die schon angesprochene dichte Atmosphäre. Und doch hat der Film ein Problem mit dem Pacing. Zieht sich der erste der drei Teile recht zäh hin, wird Teil zwei beinahe nebenbei rasch abgehandelt, ehe der Film in Teil drei, die Suche nach der Yage-Pflanze, ins Groteske driftet. Alle drei Teile fühlen sich auf ihre Weise wie eigene Filme an, die nur schwer zueinanderfinden. So fällt es am Ende auch schwer, eine emotionale Bindung zur Figur des William Lee aufzubauen, auch wenn sich Daniel Craig eben die Seele aus dem Leib spielt. „Queer“ ist ein Kunstwerk, eine ästhetische und intellektuelle Übung, der trotz aller Bemühungen (oder vielleicht auch gerade deshalb) ein wenig die emotionale Mitte fehlt. Ein Wagnis mit ganz klaren Stärken, aber auch Schwächen.


6,5 Kürbisse

Bildzitat: http://www.imdb.com

Das Omen (1976)

Regie: Richard Donner
Original-Titel: The Omen
Erscheinungsjahr: 1976
Genre: Horror, Drama
IMDB-Link: The Omen


Mei, Kinder sind der Quell der Freude. Was macht es schon, wenn das Kindermädchen der reichen Botschafter-Familie eines Tages mit gebrochenem Genick vor der Fassade baumelt? Oder wenn der Priester, der ständig seltsame Warnungen und was von Kindsmord brabbelt, plötzlich von einer Kirchenspitze gepfählt wird? Alles fein im Hause Thorn (Gregory Peck und Lee Remick), ihr Damian ist ja ein herziger Bub. Aber langsam dämmert es dem Vater, dass es damals vielleicht doch nicht die allerbeste Idee war, das totgeborene eigene Kind heimlich, ohne seine eigene Frau darüber zu informieren, gegen einen anderen Buben, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist, auszutauschen. Als dann auch noch das neue Kindermädchen auftaucht, das sich äußerst seltsam benimmt, ist das Misstrauen endgültig geweckt, und gemeinsam mit einem Fotojournalisten macht sich Robert Thorn auf, die eigenartigen Umstände von Damians Geburt nachzuforschen. Doch ist es möglicherweise schon zu spät? Wäre der Hauptcharakter nur etwas bibelfester gewesen, so wäre aus dem Film von Richard Donner ein Kurzfilm geworden. Kapitel 13 der Offenbarung des Johannes sagt ja eh alles aus, was man wissen muss. Bildung rettet Leben, und Unwissenheit schützt nicht vor Strafe. Und so nimmt das Übel seinen Lauf. „Das Omen“ ist ein Grusel-Klassiker, in dem das Böse als Unschuld verkleidet hereinbricht – ein beliebtes Thema im Horrorgenre. Das Grauen schleicht sich heimtückisch durch die Hintertür in die Köpfe. Erleichternd für solche Schisser wie mich ist, dass „Das Omen“ fast komplett auf Schockmomente in Form von Jump-Scares verzichtet. Dafür baut Richard Donner durchgängig eine düstere und bedrohliche Atmosphäre auf, die für den Spannungsaufbau völlig ausreicht. Wer braucht schon Jump-Scares, wenn der von Kinderdarsteller Harvey Stephens ikonisch verkörperte Damian sein als Unschuld getarntes Grinsen zeigt, hinter dem die Kälte lauert? „Das Omen“ ist ein gelungenes Beispiel dafür, dass sich der größte Horror immer im eigenen Kopf abspielt und es keine expliziten Gewaltdarstellungen braucht, damit dieser funktioniert. In diesem Sinne: Happy Halloween, und viel Glück, dass sich unter den Kindern, die heute bei euch läuten und nach Süßem oder Saurem verlangen, kein Damian befindet.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: © 2004 Shutterstock, Quelle http://www.imdb.com)

Between the Temples (2024)

Regie: Nathan Silver
Original-Titel: Between the Temples
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Liebesfilm, Komödie
IMDB-Link: Between the Temples


Seit Woody Allen weiß man als Filmliebhaber: Die Hauptstadt des Judentums ist New York, und dort konkret Brooklyn. Da können Tel Aviv und Jerusalem einpacken. Und so lernen wir in Nathan Silvers „Between the Temples“ den von Jason Schwartzman gespielten Ben Gottlieb, Kantor seiner Synagoge und in einer veritablen Lebenskrise. Seine Frau ist verstorben, er hat die Fähigkeit, vor Publikum zu singen verloren, und als Ü-40er lebt er nun wieder bei seiner Mutter und deren Lebensgefährtin. Durch Zufall begegnet er eines Abends nach einer betrunkenen Schlägerei in einer Bar seiner alten Musiklehrerin Carla Kessler (Carol Kane). Die hat ein recht ungewöhnliches Ansinnen: Nachdem sie herausfindet, dass Ben Jugendliche auf ihre Bar-Mizwa vorbereitet, kommt sie zu ihm, um ihre eigene Bar-Mizwa, die sie nie hatte, nachzuholen. Dieses Ansinnen stößt nicht überall auf Gegenliebe, aber wo ein Wille, da ein Weg. „Between the Temples“ erinnert zeitweise sehr an den wunderbaren Film Harold und Maude von Hal Ashby, findet aber eigene Wege und Themen, um nicht in den Verdacht einer Kopie zu geraten. Im Mittelpunkt steht zwar auch die Beziehung zweier Menschen, die entgegen gängiger Konventionen zueinander finden, doch unterscheiden sich die Figuren und ihre Ambitionen sowie Erzähltempo und Humor recht deutlich. Im Gegensatz zu „Harold und Maude“ ist „Between the Temples“ der zärtlichere, feinfühligere Film, da Nathan Silver noch mehr am Innenleben seiner Figuren interessiert ist als Hal Ashby in „Harold und Maude“. Jason Schwartzman und Carol Kane in den Hauptrollen verleihen ihren Figuren eine sanfte Melancholie, die sich in jeder Geste ausdrückt und die Charaktere besser beschreibt, als es Worte könnten. Der bessere Film ist „Between the Temples“ deshalb aber nicht, er ist nur etwas anders. Allerdings erinnert auch dieser Film uns daran, dass das Leben eben manchmal unerwartete Wendungen nimmt, und wenn etwas Gutes passiert, dann sollte man dies auch einfach annehmen, ohne es lange zu hinterfragen.


7,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale