2018

Destroyer (2018)

Regie: Karyn Kusama
Original-Titel: Destroyer
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Krimi, Thriller
IMDB-Link: Destroyer


Es gab eine Zeit, in der Nicole Kidman botoxbedingt die Mimik eines Kühlschranks aufbrachte. Diese Zeit ist zum Glück vorbei. Älter werden ist gar nicht so schlimm, ein paar Fältchen können ja auch sehr sympathisch wirken, vor allem wenn sie sich als Lachfalten um die Mundwinkel ziehen. Doch viel zu lachen hat Nicole Kidman in Karyn Kusamas Film „Destroyer“ nicht. Und mit den Falten hat sie es auch ein wenig übertrieben. Ihre Detective Erin Bell wird zu Beginn jedenfalls als wandelnde Depression auf zwei Beinen vorgestellt. Diese Frau geht zum Lachen nicht einmal in den Keller, die quittiert einen guten Witz höchstens mit einem Fußtritt in das Allerheiligste. Dass so etwas nicht von ungefähr kommt, ist klar. Und so rollt sich allmählich anhand des Falls, in dem sie ermittelt, ihre eigene Vergangenheit auf, in der sie als junge Undercover-Polizistin mit ihrem Kollegen Chris (Sebastian Stan) eine auf Bankraube spezialisierte Vereinigung unter dem Boss Silas (Toby Kebbell) infiltriert hat. Und dabei ist nicht alles so rund gelaufen, wie man sich das im Vorfeld ausgedacht hat. 17 Jahre später plagt sie sich mit den Geistern der Vergangenheit herum und verfolgt eine sehr persönliche Agenda. Kleinere familiäre Probleme mit dem Nachwuchs erleichtern das Unterfangen nicht unbedingt. „Destroyer“ ist ein sehr entschleunigter Krimi, der einem gängigen Muster folgt: Kaputte Polizistin wird mit Fehlern der Vergangenheit konfrontiert. Allzu viele Kreativitätspunkte kann ich dafür nicht vergeben. Bleibt das Spiel von Nicole Kidman, die für ihre Rolle viel Lob einheimsen konnte. Doch obwohl ich Kidman mag, kann ich mich dem allgemeinen Jubelreigen nicht anschließen, da sie ihre Erin Bell für mich etwas zu grimmig anlegt und damit fast zur Karikatur werden lässt. Hier wollte sie meiner Meinung nach zu viel. Ein etwas subtileres Spiel hätte nicht geschadet. So ist „Destroyer“ ein seriöser Film, dem man seine Ambitionen anmerkt, aber die Rädchen greifen nicht ineinander und stellenweise breitet sich Fadesse aus. Das Ende weist mit einem schönen Twist auf, aber das hebt den Film für mich auch nicht mehr über den Durchschnitt hinaus. Einen halben Punkt dazu gibt es für die Verwendung des Songs „Gardenia“ von Kyuss im Soundtrack.


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)

Free Solo (2018)

Regie: Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin
Original-Titel: Free Solo
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Free Solo


Es ist nicht bekannt, ob Alex Honnold die Musik von Tom Petty mag, aber ich bezweifle, dass sich dessen Song „Free Fallin“ auf der Playlist des Extrem-Bergsteigers befindet. Alex Honnold ist aus der Sicht eines leicht übergewichtigen, recht unsportlichen und faulen Bürohengstes (sämtliche Ähnlichkeiten mit real lebenden Personen oder Kürbissen sind rein zufällig) mit Verlaub völlig irre. Denn seine Leidenschaft gilt dem Free Solo, das heißt: ohne Seil die ärgsten Felswände hochkraxeln. Jeder kleinste Fehler führt dazu, dass es rasant nach unten geht, bis man auf dem Boden der Tatsachen landet. Und in dem Fall (diese Doppeldeutigkeit ist durchaus beabsichtigt) heißt das, dass man sich künftig die Radieschen (und Berge) von unten ansehen wird. Oder wie es in der Dokumentation über die Besteigung der imposanten Felswand El Capitan im Yosemite-Nationalpark mal sinngemäß heißt: Diese Wand Free Solo zu besteigen, ist ungefähr gleichzusetzen wie der Gewinn einer olympischen Goldmedaille in einer Sportart, in der alle ab dem zweiten Platz sterben. Man muss sich also schon sicher sein, diese verdammte Goldmedaille zu gewinnen, wenn man sich an dieses Abenteuer wagt. Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin, selbst passionierte Bergsteiger, die mich schon mit ihrem Film Meru überzeugen konnten, folgen in einem recht klassischen dokumentarischen Ansatz den Vorbereitungen von Alex Honnold auf dieses Wagnis. Doch schon bald entspinnen sich daraus recht spannende zweite Ebenen: Zum Einen kommt die Filmcrew bald an den Punkt, wo sie sich die Frage stellen müssen, ob das Risiko eines Absturzes durch ihre Anwesenheit nicht maßgeblich vergrößert wird – und das nicht nur wegen etwaiger störende Kameradrohnen und vom Filmteam gelösten Steinchen, sondern auch, da die bloße Tatsache, dass der Aufstieg gefilmt wird, bei Honnold dazu führen könnte, mehr Risiko zu nehmen als er allein ohne Kamerabegleitung nehmen würde. Zum Anderen entfaltet sich das Porträt eines Mannes, der Schwierigkeiten mit emotionalen Bindungen und Reaktionen hat, aber eine Beziehung eingeht, die durch diese fehlende Empathie und durch das enorme Risiko eines verfrühten Ablebens auf eine harte Probe gestellt wird. Der heimliche Star des Films ist Alex‘ Freundin Sanni, die jede Minute mit dem Schlimmsten rechnen muss, aber keine Forderungen stellt in dem Wissen, dass man einem Menschen nicht das, was er am meisten liebt (sogar mehr noch als die Partnerin) wegnehmen kann, ohne die Beziehung zu zerstören. Genau diese Zwischentöne machen „Free Solo“ neben den zu erwartenden spektakulären Kletter-Bildern zu einem sehenswerten Film, über den man gerne noch länger nachdenkt und der in meinen Augen auch verdient mit einem Oscar für den besten Dokumentarfilm gewürdigt wurde.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)

Can You Ever Forgive Me? (2018)

Regie: Marielle Heller
Original-Titel: Can You Ever Forgive Me?
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Biopic, Krimi, Komödie
IMDB-Link: Can You Ever Forgive Me?


An Melissa McCarthy scheiden sich die Geister, und das nicht nur seit ihrem Mitwirken in „Ghostbusters“. Dass sie aber wirklich verdammt gut schauspielern kann, wenn man sie nicht in nervigen Komödien als naives Pummelchen besetzt, beweist sie in Marielle Hellers „Can You Ever Forgive Me?“ In diesem komödiantisch angehauchten Biopic spielt sie die Schriftstellerin und Biographin Lee Israel, die von notorischer Erfolglosigkeit und einer gewissen misanthropischen Grundeinstellung geplagt wird. Durch Zufall entdeckt sie ein neues Geschäftsmodell für sich: Briefe berühmter Schriftsteller faken und für teures Geld an Antiquariate verkaufen. Ihr Partner in crime ist der exzentrische Bohemian Jack Hock (Richard E. Grant, neben Melissa McCarthy ebenfalls für einen Oscar nominiert). Gemeinsam mischen sie die Sammlerszene auf, und weil sie eben keine Profis sind, sondern mehr oder weniger naiv da hineinstolpern, stapelt sich schon bald nicht nur das ungewaschene Küchengeschirr neben Lees Spüle, sondern auch eine Menge Probleme. Marielle Heller erzählt die Geschichte mit einem Augenzwinkern und unprätentiös und verlässt sich dabei ganz auf die Kunst der groß aufspielenden McCarthy und Grant. Das allein reicht schon aus, um für einen unterhaltsamen Kinoabend zu garantieren. Das allein reicht aber nicht aus, um den Film zu einem denkwürdigen Meisterwerk werden zu lassen. Zu unspektakulär und beiläufig plätschert die Geschichte dahin, und dass Lee Israel hauptsächlich recht unsympathisch wirkt, lässt die Zuseher dann vielleicht doch nicht so ganz mitfiebern mit ihrem Charakter. Es fehlt einfach ein innerer Spannungsbogen. Hier lässt Marielle Heller die Zügel vielleicht ein wenig zu sehr schleifen. Dennoch ist der Film zumindest geeignet, bisherige Zweifler an McCarthys Schauspielkunst zum Verstummen zu bringen. Die ist schon gut, wenn man sie nur lässt.


6,5
von 10 Kürbissen

Asche ist reines Weiß (2018)

Regie: Jia Zhangke
Original-Titel: Jiang Hu Er Nü
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Jiang Hu Er Nü


Jia Zhangke gehört zu den am meisten gefeierten chinesischen Regisseuren der Gegenwart. Mit „Asche ist reines Weiß“ erzählt der vielfach prämierte Filmmacher in drei Akten von einer Liebesgeschichte, die von der Jahrtausendwende bis in die Gegenwart reicht und fast beiläufig die gesellschaftliche Entwicklung Chinas innerhalb dieser Zeit sichtbar macht. Bin (Liao Fan) ist ein lokaler Gangster, der über die Bruderschaft, eine Art mafiöser Verbindung, herrscht und den lokalen Unternehmen und Mafiabossen gerne mal bei kleineren Geschäften zur Hand geht. Seine Freundin Qiao (Zha Tao) unterstützt ihn nach Kräften. Doch schon bald erfährt ihre Beziehung eine Zäsur, als Qiao von Jugendlichen fast totgeschlagen wird und Qiao, eine toughe und eigensinnige Frau, rettend eingreift, indem sie mit Bins illegal erworbener Pistole die Angreifer in Schach hält. Das Problem: Sie geht dafür für fünf Jahre ins Gefängnis. Und während sie ihre Zeit absitzt, besucht sie Bin, der nur ein Jahr ausgefasst hat, kein einziges Mal. Aus dem Gefängnis entlassen führt sie ihr erster Weg zum Drei-Schluchten-Damm, an dem Bin nun als Geschäftsmann für ein Kraftwerk tätig sein soll. Denn sie hat mit der Vergangenheit und der Liebe nicht abgeschlossen. „Asche ist reines Weiß“ ist vor allem in diesem Mittelteil, der Reise zu den drei Schluchten, sehenswert. Qiao, die im Mittelpunkt der Erzählung steht, wird hier als starke Frau gezeigt, die weiß, was sie will – und was sie nicht will. Gleichzeitig werden die gesellschaftlichen Chinas sichtbar. Die Mächtigen von früher verstecken sich vor ihrer Vergangenheit, und die kleinen Ganoven sind aufgestiegen. Warum „Asche ist reines Weiß“ bei mir dennoch nicht gezündet hat, liegt an zwei Dingen: Zum Einen der leider fürchterlichen Synchronisation, aufgrund derer viele Dialoge klingen, als wären sie schlechten Seifenopern entnommen. Gut, dafür kann der Film selbst nicht, wenngleich schon auch die Qualität vieler Dialogzeilen oberflächlich angelegt ist. Das größere Problem ist allerdings, dass der Film mit seiner stattlichen Laufzeit von 2,5 Stunden viele Leerstellen aufweist, die an die Substanz gehen. Vor allem der dritte Akt zieht sich wie ein Kaugummi. Hätte Jia den Film bei den drei Schluchten enden lassen, wäre der Film für mich stimmiger und interessanter gewesen. Aber gerade der dritte Akt, der die Themen Buße und Versöhnung behandelt, wird zur Geduldsprobe. Daher schlurfte ich am Ende ziemlich müde aus dem Kino, froh darüber, dass der Film dann doch irgendwann ein Ende gefunden hat. Jia Zhangke hat sich damit noch nicht in die Riege meiner Lieblingsregisseure geschoben, aber interessant genug ist der Film, dass ich durchaus weitere Filme des Regisseurs sehen möchte, um das Bild zu schärfen.


5,5
von 10 Kürbissen

Beale Street (2018)

Regie: Barry Jenkins
Original-Titel: If Beale Street Could Talk
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: If Beale Street Could Talk


Barry Jenkins hat schon mit Moonlight gezeigt, dass er ein gemäßigtes Erzähltempo bevorzugt und den Figuren Raum gibt, sich zu entfalten. Das ist etwas Wunderbares, was ich persönlich auch schätze. Wenn man allerdings um 23 Uhr vor den Oscars in seinem neuesten Werk sitzt, birgt das gemächliche Tempo das Risiko, tief in den Sessel zu versinken und die Geschichte in den eigenen Träumen weiterzuspinnen. Wenn man das nicht will, weil man der eigenen Fantasie misstraut, kann aus der Sichtung des Films dann schon mal ein knallharter Kampf gegen sich selbst werden. „Stirb langsam“ ist ein Kindergeburtstag dagegen. Aber wach zu bleiben, lohnt sich schon, denn die Geschichte rund um das junge Paar Tish (KiKi Layne) und Alonzo (Stephan James), das Opfer einer rassistischen Intrige wird, ist schon sehenswert. Die Bilder sind grandios, der Soundtrack ist eingängig, das Schauspiel überzeugend. Vor allem Regina King, die völlig zurecht den Oscar als beste Nebendarstellerin einheimsen konnte, ist ein Ereignis. Sie spielt Tishs Mutter mit Wärme und Stärke und wird so trotz weniger Szenen zum Herzstück des Films. Auch die Dialoge und Figurenentwicklungen können durch die Bank überzeugen, aber da hatte Barry Jenkins mit dem Roman von James Baldwin auch eine dankbare Vorlage. Dennoch ist „If Beale Street Could Talk“ ein Film, der nicht jeden mitreißen wird. Ich hatte ähnliche Probleme wie mit „Moonlight“: Beide Filme überzeugen mich handwerklich zu 100% und ich erkenne ihre hohe Qualität an, aber sie nehmen mich emotional nicht so wirklich mit. Barry Jenkins ist ein Könner, aber seine Kunst erreicht mich dann am Ende doch nicht so ganz. Trotzdem kann ich nur wärmstens empfehlen: Geht ins Kino, schaut euch diesen Film an. Er ist gut. Und vielleicht erreicht er euch mehr als mich. Aber geht sicherheitshalber nicht in die 23 Uhr-Vorstellung.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)

The Mule (2018)

Regie: Clint Eastwood
Original-Titel: The Mule
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Krimi, Drama, Thriller
IMDB-Link: The Mule


Das Leben kann so vielfältig sein: Mal züchtet man bunte Blümchen, mal schmuggelt man Drogen im Wert von mehreren Millionen Dollar in seinem Pickup quer durch Amerika. Die Vielfalt macht’s, anders wäre es ja langweilig. Der von Clint Eastwood verkörperte Pensionist Earl Stone hat leider nicht genügend Knödel angespart, um sich auf die faule (und schon ziemlich faltige) Haut legen zu können. Seine Blumenzucht musste er wegen Insolvenz zumachen, seine Tochter spricht nicht mehr mit ihm, und dass er seiner heiß geliebten Enkeltochter, die demnächst heiraten wird, finanziell bei der Hochzeit nicht unter die Arme greifen kann, wurmt ihn schon. Eine Zufallsbekanntschaft bietet ihm aber einen lukrativen Nebenjob. Er soll eben Drogen kutschieren, also ein „Mule“ werden, ein Kurier. Hintergrund: Earl ist ja schon einige Jahre lang auf den Straßen Amerikas unterwegs, und er hat noch nie einen Strafzettel kassiert. Ein gesetzestreuer Bürger also, der zuverlässig bei Rot anhält und penibel das Tempolimit beachtet. Und eilig haben es die neuen mexikanischen Freunde ja nicht – nur sicher soll sie ankommen, die Ware. Während Earl Stone fröhlich singend über die Highways der USA zuckelt, braut sich im Hintergrund allerdings Ungemach zusammen – im Form eines eifrigen Drogenfahnders (Bradley Cooper) und eines Drogenbosses mit ungeregelter Nachfolge (Andy Garcia). „The Mule“, inszeniert von Dirty Harry himself, ist so etwas wie ein gemütliches Alterswerk. Man muss der Welt nichts mehr beweisen, es muss nicht mehr ständig krachen, sondern manchmal ist es ja auch fein, einfach nur im Auto zu sitzen und die Straße zu spüren. Soll doch im Saal nebenan der nächste Bombast-Film toben. Das ist zwar wohltuend anzusehen, reißt aber nicht mit. So tröpfelt der Film unaufgeregt vor sich her, vermeidet fast alles, was den Blutdruck hochschießen lässt (ein Clint Eastwood denkt eben mit und sagt sich: Das Publikum könnte ja mit mir gealtert sein, also muss man es ein wenig rücksichtsvoller angehen) und ist dann am Ende zwar eine runde Sache, aber irgendwie auch wurscht. Die Meisterwerke in Eastwoods Filmographie bleiben andere Filme.


5,5
von 10 Kürbissen

Vice – Der zweite Mann (2018)

Regie: Adam McKay
Original-Titel: Vice
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Biopic, Politfilm, Komödie, Drama
IMDB-Link: Vice


Seit „The Big Short“ ist Adam McKay wohl einer der interessantesten Regisseure Hollywoods. Die Fähigkeit, komplexe, trockene Stoffe auf eine schwarzhumorige bis zynische Weise allgemein verständlich und wahnsinnig unterhaltsam zu vermitteln, macht ihm wohl kaum jemand so schnell nach. Mit „Vice“ legt Adam McKay nun nach – und diesmal gilt sein Interesse der als eher farblos geltenden Figur des Dick Cheney, ehemaliger Vizepräsident unter George W. Bush. Hinter der spröden Fassade verbirgt sich allerdings einer der vielleicht am meisten unterschätzten Strippenzieher der jüngeren Politikvergangenheit. Rücksichtslos und nur auf den eigenen Vorteil bedacht weitete Dick Cheney mit jedem Karriereschritt seine Kompetenzen aus, bis er schließlich mit President Bush unter ihm (und genau zu diesem Schluss muss man am Ende des Films kommen) die Welt veränderte. Adam McKay impliziert, dass durch Cheneys Entscheidungen der Irak-Krieg angezettelt wurde, woraufhin der gesamte Nahe Osten destabilisiert und zu dem Fleckerlteppich aus terroristischen Vereinigungen, als den wir ihn heute kennen, wurde. Die Ölfirma, als deren CEO Cheney davor fungierte, profitierte jedenfalls nicht schlecht von dem Chaos, das auf den Krieg folgte. „Vice“ erzählt die Geschichte, wie aus dem Säufer und Taugenichts Dick Cheney der damals wohl mächtigste Mann der Welt werden konnte. Und er tut dies mit den Mitteln, die auch „The Big Short“ schon interessant gemacht haben: Mit überspitzten Szenen, mit dem gelegentlichen Einspielen von Archivmaterial, mit einem sarkastischen Erzähler aus dem Off, mit Verfremdungen (göttlich: die Szene, in der Dick Cheney und seine Frau Lynne abends im Bett in shakespeare’schen Versen zu reden beginnen, um die Dramatik der Entscheidung, die gefällt werden muss, theatralisch zu unterstreichen) und einem genialen Cast. Amy Adams als Lynne Cheney, Steve Carell als Donald Rumsfeld, Sam Rockwell als George W. Bush – sie alle sind großartig. Was aber Christian Bale macht, geht meiner Meinung nach über Schauspiel weit hinaus. Er spielt nicht Dick Cheney, er ist Dick Cheney. Und damit meine ich nicht nur die verblüffende optische Verwandlung. Vielmehr liegt die Faszination im Detail: Im kalten, berechnenden Blick, im Zucken seiner Mundwinkel, durch das sich seine Schachzüge ankündigen, in der leicht gebeugten, so unterwürfig wirkenden Körperhaltung, jede Faser seines Körpers schreit: Dick Cheney! Wenn es dafür keinen Oscar gibt, dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Allerdings kommt „Vice“ als Film nicht ganz an das meisterhafte „The Big Short“ heran. Denn „Vice“ hat Längen, und auch das Tempo ist insgesamt eher gedrosselt. Dank der vielen guten Regieeinfälle und dem grandiosen Cast bleibt der Film über seine ganze Laufzeit interessant, aber mitreißen kann er dabei nicht immer.


7,0
von 10 Kürbissen

Capernaum – Stadt der Hoffnung (2018)

Regie: Nadine Labaki
Original-Titel: Capharnaüm
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Capharnaüm


Der Libanon hat cineastisch einen Lauf. Erst letztes Jahr wurde mit „The Insult“ von Ziad Doueiri der erste libanesische Film für einen Oscar nominiert, und dieses Jahr legt Nadine Labaki mit „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ diesbezüglich nach. Auch wenn die Chancen gegen den großen Favoriten Roma von Alfonso Cuarón schlecht stehen, kann sich diese Serie durchaus blicken lassen. Um den ehemaligen Skifahrer Rudi Nierlich zu zitieren: Wonn’s laft, donn laft’s. „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ ist ein aufwühlender und richtig guter Film, der sich zurecht in der Reihe der nominierten Filme befindet. Allerdings gehört er auch zu den Filmen, die man kaum mehr als ein einziges Mal sehen möchte. Und man sollte ihn nicht anschauen, wenn man gerade selbst mit Weltschmerz zu kämpfen hat. Die Geschichte ist nämlich harter Stoff. Erzählt wird vom 12jährigen Zain, der im Jugendgefängnis einsitzt, weil er einen Mann niedergestochen hat. Nun verklagt er seine Eltern dafür, dass sie ihn geboren haben. Soweit die Rahmenhandlung. Nadine Labaki rollt dann chronologisch auf, wie es dazu gekommen ist – beginnend bei der vielköpfigen syrischen Flüchtlingsfamilie, die unter ärmlichsten Verhältnissen lebt. Zains Lieblingsschwester Sahar wird nach Eintreten der Regelblutung an den Besitzer der Wohnung verhökert. Zain selbst haut im Streit mit seinen Eltern ab und wird von der äthiopischen Illegalen Rahil aufgenommen. Die hat ein kleines Kind, Yonas. Doch eines Tages wird Rahil festgenommen, und Zain versucht, sich mit Yonas allein durchzuschlagen. Er plant die Flucht nach Schweden, doch als er nach langer Zeit wieder in der Wohnung seiner Eltern vorbeikommt, um seine Papiere zu holen, kommt es zur Katastrophe. „Capernaum – Stadt der Hoffnung“ ist ein Film, der direkt auf die Magengrube zielt, ohne allerdings allzu sehr in den Verdacht zu geraten, aus der Armut der gezeigten Protagonisten Kapital schlagen zu wollen. Zu ehrlich, zu gut recherchiert fühlt sich der Film an. Und auch wenn der Film vor allem im ersten Drittel einige Längen aufweist, zieht einen die Geschichte unweigerlich in ihren Bann. Ich fühlte mich definitiv nicht gut, als ich den Kinosaal nach dem Abspann verließ. Aber ich war trotzdem froh, den Film gesehen zu haben.


7,5
von 10 Kürbissen

Die Kinder der Toten (2018)

Regie: Kelly Copper und Pavol Liska
Original-Titel: Die Kinder der Toten
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Satire, Horror, Experimentalfilm, Fantasy, Heimatfilm
IMDB-Link: Die Kinder der Toten


Es ist schon ein paar Donnerstage her, dass ich Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“ gelesen habe. Woran ich mich noch erinnere: Dass mir das Buch außerordentlich gut gefallen hat, so sperrig es auch war. Woran ich mich nicht mehr erinnere: Den allergrößten Teil des Inhalts. Insofern erspare ich mir an dieser Stelle die Einschätzung, ob die filmische Adaption nah dran ist an der Buchvorlage. Ein paar augenfällige Freiheiten hat sich das Regieduo Kelly Copper und Pavol Liska schon genommen, wenn beispielsweise eine Gruppe syrischer Poeten vor dem Kirchenportal verhungert. Und damit wären wir auch schon mitten drin in der Besprechung von „Die Kinder der Toten“. Denn Subtilität gehört nicht zu den Stärken dieser Heimatgroteske. Dafür hat der Film ganz andere Stärken. Jene der Überzeichnung beispielsweise. Gefilmt auf körnigem Super 8 als Farb-Stummfilm mit völlig überzogener Geräuschkulisse (ich ziehe meinen Hut vor den Foley Artists und Sounddesignern, die einen grandiosen Job hingelegt haben) erzählt der Film, wie nach einem Autounfall die Heldin Karin (Andrea Maier) durch die Wälder rund um ein steirisches Dorf irrt, halb im Diesseits, halb im Jenseits. Währenddessen geht man im Dorf den üblichen Beschäftigungen nach: Saufen, fressen, schmusen. Irgendwann stolpert Karin in eine cineastische Séance, in der in einer Filmvorführung Bilder von Verstorbenen gezeigt und betrauert werden. Die Veranstalterin bittet Karin, die Zugang zu beiden Welten hat, ihren geliebten Mann zurückzubringen, der sich selbst das Leben genommen hat. Damit öffnet Karin aber das Tor zur Unterwelt, und schon marschieren sie in einer fröhlichen Parade auf, die Untoten, und bald schon tanzen Nazis mit Juden beschwingt im Dorfgasthaus, vögeln die Lebenden mit ihren verblichenen Geliebten auf dem Tisch und kochen verhungerte Syrer in der Küche Halal-Gerichte. Subtil ist das nicht, aber dieser bissig-zynische Kommentar auf die Nazis, die wir noch immer im Keller haben, und die typisch österreichische Ignoranz macht einen Riesenspaß – sofern man einen Zugang zu diesem derben Humor findet und sich an der filmischen Umsetzung der Ideen mit (sichtbar) geringsten Mitteln anfreunden kann. Ich konnte es. Insgesamt aber mit Sicherheit ein Film, der polarisiert. Ob man eineinhalb Stunden fröhlich vor sich hin gluckst oder so intensiv den Kopf schüttelt, dass man ein Schleudertrauma davon trägt, liegt in diesem Fall ganz klar am eigenen Humorempfinden. Insofern eine Empfehlung mit Vorwarnung. Nur eines kann ich sagen: Nazis werden mit dem Film fix keine Freude haben.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion)

Daniel (2018)

Regie: Marine Atlan
Original-Titel: Daniel fait face
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Daniel fait face


Daniel ist ein stiller, introvertierter Schüler, der gern allein durch das Schulgebäude streift. Als in einem Saal plötzlich eine Tür zuschlägt, flüchtet er panisch in den Umkleideraum. Dort ist seine Mitschülerin Marthe, die ihn nicht bemerkt. Sie zieht sich gerade für eine Theaterprobe um. Und Daniel versteckt sich, beobachtet sie, die Halbnackte: der erste Blick auf einen Mädchenkörper. Irgendwann treibt ihn das Schuldgefühl hoch, er zeigt sich ihr. Sie, geschockt, rennt davon. Dann die Probe. Daniel ist immer noch ziemlich aus dem Konzept. Und Marthe fand die Episode in der Umkleide gar nicht lustig, was Daniel schon bald zu spüren bekommt. „Daniel“, der erste Langfilm von Marine Atlan, ist sehr knapp und präzise gehalten. Dieser Film hat kein Gramm Fett. Mit wenigen Federstrichen sind die Figuren eingeführt und lebendig. Einzelne Andeutungen reichen aus, um dem Zuseher begreifbar zu machen, worum es in diesem Film geht: Nämlich nicht weniger als den Verlust der kindlichen Unschuld. Und wenn dann die Sirenen losheulen, um eine Terrorübung an der Schule anzukündigen, fühlt man den Bruch in Daniels Leben, der durch sein Spannen zu einem sexuellen Wesen geworden ist. Plötzlich hat das, was man tut, Konsequenzen, die man vielleicht sogar das ganze Leben mit sich schleppen muss. Die vage, kaum greifbare Atmosphäre der Bedrohung, die zu Beginn über dem Schulgebäude liegt und Türen und Fenster knallen lässt, entpuppt sich als Pforte ins Erwachsenenleben, und bedroht ist die Kindheit, die Unschuld. Nichts wird danach mehr so sein wie früher. „Daniel“ ist ein wunderbar konsequenter Film, der sich zunächst sehr unspektakulär anfühlt, aber dann doch lange nachhallt. Ein erstes Highlight meiner diesjährigen Berlinale.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: bathysphere)