2016

Einfach das Ende der Welt (2016)

Regie: Xavier Dolan
Original-Titel: Juste la fin du monde
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: Juste la fin du monde


Mein erster Dolan. Das Regiewunderkind wird ja landauf, landab hymnisch gefeiert. Und ich muss schon sagen nach der Sichtung von „Einfach das Ende der Welt“, dass Dolan tatsächlich einen sehr individuellen und wohl leicht wiederzuerkennenden Stil pflegt, sehr laut, sehr direkt, Subtilitäten sind wohl nicht so die Sache des Kanadiers. Dass „Einfach das Ende der Welt“ massive Problem hat, geht in diesem Fall aber auf genau diesen Stil zurück. Wenn man nach alternativen Titeln für den Film suchen müsste, würden „Das große Heulen“ oder „Geschrei am Mittagstisch“ in Frage kommen. Die Besetzung mit Vincent Cassel, Marion Cotillard und Léa Seydoux, dazu der charismatische Gaspard Ulliel in der Hauptrolle, verspricht ja einiges. Auch die Story klingt interessant: Ein todkranker Schriftsteller besucht nach zwölf Jahren zum ersten Mal seine Familie (älterer Bruder samt Frau, die er selbst noch nicht kennt, Schwester, völlig überdrehte Mutter), um sie von seinem baldigen Ableben zu unterrichten. Natürlich, da ist Zunder drin. Aber Dolan entgleitet der Stoff leider, indem er die Story, ursprünglich ein Bühnenstück, als ganz großes Theater vor naturalistischer Filmkulisse anlegt. Menschen, die sich 1,5 Stunden lang anschreien, gehören auf eine minimalistisch gehaltene Bühne, die das Künstliche der Situation und der Konflikte unterstreicht, aber nicht in einen Vorstadtgarten. Eigentlich legen alle Darsteller wunderbare Theaterperformances hin, vor allem Marion Cotillard ist wunderbar fragil, aber in Summe gehen sie dem Kinobesucher spätestens nach zehn Minuten tierisch auf den Nerv. Allesamt. Ohne Ausnahme. Und zehn weitere Minuten später möchte man den kranken Schriftsteller packen und ihm mitfühlend ins Gesicht schreien (also der Lautstärke der Dialoge entsprechend), dass man vollstes Verständnis dafür hat, dass er diesen Haufen Wahnsinniger zwölf Jahre lang links liegengelassen hat. Aber man tut’s dann doch nicht, weil einem im Grunde der Schriftsteller genauso auf die Nüsse geht und es einem dann ziemlich egal ist, dass er bald abnippeln wird. Schade um das gute Thema.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)

Meine Top20 Kinofilme 2016

Wie schon vor einer Woche angekündigt, kommt hier nun – mit etwas Verspätung – meine Liste der besten Kinofilme des Filmjahres 2016, rausgefischt aus dem Pool aller neuen Filme, die ich 2016 im Kino zum ersten Mal gesehen habe. Nicht zur Auswahl standen all jene Filme, die ich zwar 2016 im Kino gesehen habe, aber die schon älteren Datums sind (womit alle Filme aus dem Programm der Viennale-Retrospektive rausfallen). Mit dabei waren aber Filme, die im regulären Programm der Viennale gezeigt wurden und erst 2017 regulär in den Kinos anlaufen.

Es war nicht einfach, aus der Masse der Filme (immerhin 76) die besten hervorzuheben – was das Eingangsbild verdeutlichen soll – und meinen ursprünglichen Plan, mich auf 10 oder zumindest 15 zu beschränken, musste ich gleich mal kübeln, da ich so viele wunderbare Filme unerwähnt hätte lassen müssen. Und da hat mein Herz ein bisschen geblutet. Auch so ging es sich für großartige Filme wie „Captain Fantastic“, „Sture Böcke“, „Das unbekannte Mädchen“, „Mimosas“, „Thithi“, „Hail, Caesar!“, „Freunde fürs Leben“ oder „The Revenant“ knapp nicht aus.

Hier sind sie also, meine Top20-Kinofilme 2016:

  1. Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind
    Der Film hat alles, wirklich alles richtig gemacht. Die Story, die Besetzung der Charaktere, die liebevoll gestaltete Kulisse – jedes Detail war mit viel Herzblut ausgestaltet.
  2. Nocturnal Animals
    Ich mag ja vertrackte Filme, in denen sich Fiktion und Wirklichkeit verschränken. Tom Ford ist mit „Nocturnal Animals“ ein spannendes, elegantes Meisterwerk gelungen, das Gedankenfutter für Wochen bietet.
  3. La La Land
    Gestern noch einmal gesehen, und der Zauber der ersten Sichtung hält auch beim zweiten Mal an. „La La Land“ ist bunt, kitschig, uplifting und trotz aller Süße am Ende auch so bitter wie das Leben selbst.
  4. Swiss Army Man
    Der wohl schrägste Film des Jahres, gleichzeitig aber eine solch liebevoll erzählte Geschichte über Liebe, über Außenseiter, über die Suche nach sich selbst. Paul Dano und Daniel Radcliffe sind herausragend.
  5. The Hateful 8
    Das, was viele an dem Film kritisieren, mag ich besonders gern: Diese lange Kutschenfahrt mit den ewigen Dialogen und dass die Action erst sehr spät einsetzt. Ich liebe es einfach, wie Tarantino seinen Spannungsbogen aufbaut.
  6. The Big Short
    Der wohl bitterste und zynischste Film des Jahres – als Komödie getarnt, aber in Wahrheit eine gnadenlose Abrechnung mit der Finanzwelt. Dazu ist die Darstellerriege zum Niederknien.
  7. Der Schamane und die Schlange
    Meditatives, wunderschönes Arthouse-Kino, ein bisschen larger than life, mit einigen der schönsten Bilder, die ich dieses Jahr im Kino gesehen habe.
  8. The Nice Guys
    Ich weiß. Viele mochten den Film nicht so sehr. Ich fand ihn aber von Anfang bis Ende saukomisch und hätte Ryan Gosling und Russell Crowe als völlig kaputte Ermittler wider Willen stundenlang zuschauen können.
  9. Vor der Morgenröte
    Josef Hader als Stefan Zweig? Was könnte da schon schiefgehen? Genau. Nichts! Maria Schraders Film über die Exiljahre Zweigs in Amerika ist intelligentes, humanistisches, großartig gespieltes Kino.
  10. La Isla Mínima – Mörderland
    Der härteste, düsterste und auch kälteste Thriller des Jahres kommt aus dem heißen Spanien und spielt im Marschland Südspaniens der 80er Jahre. Keine einfache Kost, da der Film schonungslos draufhält, wo andere die Kamera wegdrehen.
  11. Weiner
    Auch eine Dokumentation hat es in meine Liste der Top20 geschafft. „Weiner“ – der noch ausführlicher hier besprochen wird, wenn ich meine Viennale-Rezensionen einstelle – ist das Porträt eines charismatischen Politikers mit guten Absichten und null Selbstkontrolle.
  12. Arrival
    Intelligente Science Fiction – ich liebe sie! „Arrival“ ist das bessere „Contact“. Ein mitreißender, durchdachter Film über den Erstkontakt mit einer außerirdischen Lebensform, der darauf aufbauend aber ganz andere, wichtige humanistische Fragen aufwirft.
  13. Neruda
    Die Flucht des Dichters Pablo Neruda aus Chile als spannender Film Noir mit trockenem Humor? Ja, das funktioniert, wie Pablo Larraín beweist. Leider nicht auf der finalen Shortlist für die Oscars – schon jetzt eine Fehlentscheidung der Academy.
  14. Rogue One – A Star Wars Story
    Ein Grower. Ich mochte den Film schon von der ersten Sichtung an, aber kein anderer Film hat mich so lange nach dem Ansehen noch beschäftigt wie „Rogue One“. Wandert daher langsam, aber stetig nach oben.
  15. BFG – Big Friendly Giant
    Ja, der Film war ein Flop. Beim Publikum und vielfach auch bei den Kritikern kam er nicht gut weg. Ich kann’s nicht verstehen. Denn „BFG“ ist zauberhaftes, fast schon magisches Kino für alle, die im Herzen jung geblieben sind.
  16. Radio Dreams
    „Radio Dreams“ gehört zu der Art von Filmen, die viel zu selten bei uns in den Kinos gespielt werden, aber so wichtig wären, da sie das Verständnis füreinander über die Grenzen der Kulturen hinweg fördern könnten. Alle Menschen kämpfen mit den gleichen Problemen, haben die gleichen Sehnsüchte.
  17. 24 Wochen
    Mein deutscher Film des Jahres. „Toni Erdmann“ halte ich für überschätzt und überdeckt leider diesen großartigen Film, der – völlig ohne zu moralisieren – wichtige Fragen zu Abtreibung und Selbstbestimmung aufwirft.
  18. Paterson
    Nicht der beste Jim Jarmusch, aber ein richtig guter Jim Jarmusch. Adam Driver spielt mit stoischer Miene einen Busfahrer, in dem so viel mehr schlummert als er nach außen trägt. Ein stiller, entspannter Film.
  19. Mustang
    Aufwachsen als Mädchen am Land in der Türkei. Deniz Gamze Ergüven beschönigt in „Mustang“ nichts, nicht die familiäre Oppression, nicht das Spannungsfeld zwischen modernem Leben und religiösen Vorschriften, aber es gelingt ihr, das alles in einem sehr warmherzigen und mitfühlenden Film zu zeigen.
  20. Love & Friendship
    Eine herrlich überdrehte, humorvoll überzeichnete Jane Austen-Verfilmung mit einer herausragenden Kate Beckinsale, die für mich die beste Leistung ihrer bisherigen Karriere zeigt.

Das sind sie also, meine Top20. Seid ihr damit einverstanden? Gibt’s massive Opposition? Was seht ihr ganz anders? Was wollt ihr sonst noch loswerden? Bin gespannt auf eure Kommentare.

Mein Filmjahr 2016 in Zahlen

„Ich bin fertig. Herr Ober, Zahlen bitte.“

Moviepilot sei Dank weiß ich Bescheid, was ich wann in diesem Filmjahr gesehen habe. Am Ende des Jahres lässt sich also relativ einfach eine Abrechnung machen, und die Endsumme zeigt dann fröhlich den Wahnsinn auf, den man 12 Monate lang erfolgreich verdrängt hat.

Insgesamt sind im Jahr 2016 nicht weniger als 169 Langfilme von mir als neu bewertet hinzugefügt worden. Dazu kommen ca. 30-40 Kurzfilme. (Deren Bestimmung ist etwas schwieriger, da nicht alle Kurzfilme in der Datenbank von Moviepilot angelegt sind.)

Von diese 169 Langfilmen habe ich 76 neu auf der großen Leinwand gesehen und war dafür insgesamt 80 Mal im Kino. („In the Crosswind“ habe ich letztes Jahr schon im Rahmen des Scope100-Projekts gesehen und dieses Jahr erneut im Kino, ist daher nicht unter diesen 169 neu bewerteten Filmen, „Der Nachtmahr“ ist ebenfalls ein Film von 2015, den ich 2016 erneut im Kino angeschaut habe, und für zwei Filme, nämlich für „The Hateful 8“ und „Pets“ war ich 2016 je zweimal im Kino.) Aus dem Pool der 76 neuen Kinofilme (darin inkludiert: jene, die im Rahmen der Viennale gezeigt wurden, aber erst 2017 bei uns regulär im Kino anlaufen) werde ich demnächst dann meine Top-Kinofilme des Jahres küren.

Für mich das zweitwichtigste Medium war die gute, alte DVD. Immerhin 51 neu bewertete Filme habe ich mir zuhause im Patschenkino auf diese Weise gegeben. Dazu kamen natürlich noch jene Filme, die ich schon kannte, aber erneut angesehen habe (ist allerdings eine verschwindende Minderheit – würde mal schätzen, dass ich nicht mehr als 20 solcher „Wiederholungstäter“ in den Reihen habe).

Weit zurück ist bei mir das Fernsehen. Lediglich 15 Filme habe ich 2016 neu im Fernsehen gesehen. Und die wurden von mir im Vergleich zu Kino oder DVDs auch deutlich schlechter bewertet. Über eine 7,0 von 10 kam kein Fernsehfilm bei mir hinaus. Interessant ist, dass ich, wenn ich mal abends den Fernseher einschalte, eine Neigung zu Animationsfilmen habe. Von den 15 waren immerhin 4 animiert – was deutlich über dem sonstigen Schnitt liegt.

Auch das Internet spielt für mich eine untergeordnete Rolle. Lediglich die Kurzfilme habe ich zum allergrößten Teil auf Youtube & Co. gesehen. Langfilme waren es insgesamt 10, davon 6 durch das Scope100-Projekt, zwei, die ich dank des Scope100-Zugangs noch legal auf FestivalScope streamen konnte, einer, der regulär in einer Mediathek verfügbar war, und lediglich ein einziger Film wurde von mir auf nicht ganz so legale Weise gestreamt als Oscar-Vorbereitung („Room“ von Lenny Abrahamson). Ganz okay, die Karma-Punkte, würde ich mal behaupten.

Über alles habe ich den neu bewerteten Filmen eine Durchschnittsbewertung von 6,5 gegeben (Höchstwertung: 9,0, schlechteste Wertung: 1,5). Für die neu angelaufenen Kinofilme liegt der Durchschnitt sogar bei 6,6 (zwischen 9,0 und 3,0). Drei Thesen dazu. These 1: Ich suche mir die Filme, die ich mir ansehen möchte, recht gut vorab aus. These 2: Was Hollywood heutzutage produziert, ist einfach klasse. These 3: Ich bin ein kritikloser Allesfresser, dem man lediglich bewegte Bilder vorsetzen muss, und er ist happy. (Persönlich tendiere ich zu These 3.)

Welche bewegten Bilder die schönsten und besten meines Kinojahres 2016 waren, findet ihr demnächst in einem weiteren Jahresrückblick-Beitrag.

 

 

Vaiana – Das Paradies hat einen Haken (2016)

Regie: Ron Clements und John Musker
Original-Titel: Moana
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Animation
IMDB-Link: Moana


Mit Überraschungen ist es so eine Sache. Wenn ich vorher wüsste, dass sie positiv ausfallen, würde ich mich ja gerne öfter überraschen lassen, aber da man das im Vorfeld eben nicht weiß, bin ich kein großer Fan von Überraschungen. Den künftigen Überraschungen meines Lebens sei aber ins Mitarbeitsheft geschrieben: Sie dürfen sich gerne ein Beispiel am neuen Disney-Animationsspaß von Ron Humpdfidumpf und John Käsekuchen nehmen. Ron Humpfdidumpf heißt im Original eigentlich gar nicht Humpfdidumpf, und John Käsekuchen heißt eigentlich John Musker, aber auch Vaiana, die Titelheldin des gleichnamigen Trickfilmabenteuers, heißt im Original anders, nämlich Moana. So viel zum Thema „Wir müssen Originaltitel unbedingt ändern, einfach, weil’s geht“. Das allerdings beiseite gelassen, entpuppt sich „Moana“/“Vaiana“/der Film von Humpfdidumpf und Käsekuchen als liebevoll-charmantes Abenteuer mit einer tollen Heldin, das ich so – nach dem Ansehen der ersten Teaser-Trailers – wirklich nicht erwartet habe. Diese Häuptlingstochter der Südsee ist beileibe kein zartes Püppchen, sondern rockt die Bude ordentlich. Dagegen stinken selbst Halbgötter ab, wie eben jener, der auf den Namen Maui hört, lernen muss. Die Animationen sind toll gemacht, die Figuren sehr stark, und die Nebenfiguren (ein sehr süßes Schweinchen, ein grenzdebiler Hahn) sorgen für die Lacher zwischendurch. Musikalisch ist das Ganze zwar nicht unbedingt meine Welt und die eine oder andere Gesangseinlage mir persönlich zu lieblich, aber klassische Musical-Fans werden auf ihre Kosten kommen. Zudem wartet das Ende mit einem überraschenden und äußerst herzlichen Twist auf, der der Geschichte zusätzliche Tiefe verleiht. Durchaus einen Kinobesuch wert, und auf jeden Fall besser als der, wie ich finde, überschätzte „Findet Dorie“.


7,0
von 10 Kürbissen

Nocturnal Animals (2016)

Regie: Tom Ford
Original-Titel: Nocturnal Animals
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Nocturnal Animals


Es ist nicht leicht, über „Nocturnal Animals“ von Tom Ford zu schreiben. Für gewöhnlich habe ich kein Problem damit, nach der Sichtung eines Films einen kernigen Satz oder ein Leitthema zu formulieren als Ausgangsbasis für meine Filmbetrachtung. Das ist hier aber nicht möglich. Zu viele Eindrücke müssen erst einmal sortiert werden, erneut durchdacht, noch mal im Stillen genossen – aber bis ich damit fertig bin, ist der Film schon längst auf DVD oder Blu-ray draußen, und es kräht kein Hahn mehr nach meiner Meinung. (Passiert ohnehin nicht, Hähne sind unzuverlässig und verstockt, aber trotzdem.) Also frisch aus dem Kino und ran an die Tasten, hilft ja alles nix. Wir haben: Einen seinen Film stylisch durchkomponierenden Tom Ford, der es aber schafft – anders als zB ein Nicolas Winding Refn in seinen schwächeren Momenten – nicht nur bloße Oberfläche zu produzieren, sondern die Ästhetik in den Hintergrund rücken zu lassen, sodass sie sich dem Zuseher nicht aufdrängt. Wir haben auch: Grandiose Darsteller, durch die Bank, bis in die kleinste Nebenrolle. Die Speerspitze sind Amy Adams (seufz, wenn mich Scarlett und Felicity verschmähen, Amy, wie wäre es mit uns beiden?) und Jake Gyllenhaal, die heimlichen Stars in den Nebenrollen sind aber Michael Shannon (überschüttet den Mann doch endlich mal mit Oscars, ihr Banausen!) und Aaron Taylor-Johnson in der Rolle seines bisherigen Schauspielerlebens. Ehrlich, ich habe den Burschen erst im Abspann erkannt. Er zaubert einen derart fiesen Bösewicht auf die Leinwand, dass einem bei jeder seiner Bewegungen das Blut in den Adern gefriert. Ein denkwürdiger Schurke, der für mich in die Annalen der Filmbösen eingehen wird. Verdiente Globe-Nominierung. Und wir haben: Eine faszinierende Story in einer Story, einen knallharten und auch mit seinem Publikum schonungslos umgehenden Thriller, der in eine Art Selbstfindungs-/Reflexions-Drama gegossen wird. Eine Ein-Satz-Inhaltsangabe des Films könnte wohl lauten: Amy Adams liest ein Buch. Aber es ist so viel mehr. Fiktion und Wirklichkeit greifen ineinander, und am Ende lese ich selbst eine Art Befreiungsgeschichte eines beinahe gescheiterten Autors heraus. Aber das ist meine persönliche Interpretation. Das Schöne an dem Film: Jeder, der ihn sieht, wird eine eigene Interpretation finden. Und das ist doch das Beste an den richtig guten Filmen, dass sie ein intimer Teil ihres Publikums werden, dass sie erst durch die persönlichen Erfahrungen, mit denen sie von jedem Einzelnen angereichert werden, tatsächlich komplett sind (aber sich dennoch weiterhin wandeln können, je nachdem, an welchem Moment des Lebens man den Film wieder sieht). „Nocturnal Animals“ ist so ein Film, jedenfalls für mich.


9,0
von 10 Kürbissen

Rogue One: A Star Wars Story (2016)

Regie: Gareth Edwards
Original-Titel: Rogue One: A Star Wars Story
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Science Fiction, Kriegsfilm, Abenteuerfilm, Action, Fantasy
IMDB-Link: Rogue One: A Star Wars Story


Als ich hörte, dass Gareth Edwards einen Star Wars-Film mit Felicity Jones dreht, bekam ich Schnappatmung. Gareth Edwards ist für mich einer der interessantesten Regisseure derzeit („Monsters“ halte ich für einen der intelligentesten Science Fiction-Streifen der letzten Jahre, und er hat nach dem Emmerich-Desaster auch Godzilla wieder ein würdevolles zweites Leben eingehaucht), und in Felicity Jones bin ich seit „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ ein bisserl verliebt. Dazu kommen solche Kapazunder wie der stets überragende Mads Mikkelsen oder Oscar-Preisträger Forest Whitaker (kleiner Vorgriff: da ist er mal wieder verschenkt – by the way, ich kenne kaum einen zweiten Schauspieler, der so sehr zwischen „grandiose Performance“ und „völliger Griff ins Klo“ schwankt wie Whitaker), der sympathische Diego Luna und das eine oder andere Wiedersehen mit alten Bekannten. Herzliche Grüße an die CGI-Abteilung an dieser Stelle – Jungs, I’ve noticed! Dazu soll „Rogue One“ düsterer sein als es die bisherigen Star Wars-Filme waren. Alles war also angerichtet für den Film des Jahres. Aber ist er das auch?

*trommelwirbel*

Nein. Denn obwohl der Film verdammt viel richtig macht, vor allem in der zweiten Hälfte, hat er auch seine Schwächen, die dazu führen, dass ich zwar einen wirklich guten Film gesehen habe, einen düsteren (ohmeingottmeingottdasende!), einen dem Star Wars-Universum auf jeden Fall gerecht werdenden und es bereichernden, aber, ganz ehrlich, von Perfektion sind wir noch ein gutes Stückerl entfernt. Für einen perfekten Film hätte „Rogue One“ am Anfang weniger zwischen Schauplätzen und Figuren herumhüpfen dürfen (man könnte die erste halbe Stunde auch wunderbar als „Star Wars-Reiseführer“ verkaufen – jeder Ort kompakt in fünf Minuten beschrieben, und auf zur nächsten Sehenswürdigkeit), für einen perfekten Film hätten die Figuren, die an sich toll und vielfältig zusammengestellt wurden, mehr Tiefe gebraucht, aber was „Rogue One“ dafür am Ende richtig gut macht: Es wird konsequent aufgeräumt. Aktionen haben Folgen. So ist es nun mal im Leben – und wenn auch viel zu selten im Film, so diesmal in Star Wars. Macht euch gefasst auf eine letzte halbe Stunde, die euch in den Sessel kleben wird, auch weit nach dem Abspann hinaus. Dafür applaudiere ich Gareth Edwards und den Leuten, die am Drehbuch mitgewirkt haben. So bleibt als Fazit: Man hätte zwar einiges besser machen können und ein 100%ig runder Film wollte das Ding einfach nicht werden, aber ein Kinobesuch lohnt sich allemal.


8,0
von 10 Kürbissen

Egon Schiele: Tod und Mädchen (2016)

Regie: Dieter Berner
Original-Titel: Egon Schiele: Tod und Mädchen
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Biopic, Drama, Historienfilm
IMDB-Link: Egon Schiele: Tod und Mädchen


Mit Biopics ist es ja so eine Sache. Wie strukturiert man diese, damit nicht einfach nur chronologisch (und arschlangweilig) ein Leben nacherzählt wird? Viele Filmemacher greifen dann zu einem ganz wundervollen Trick: Sie beginnen mit dem Ende oder kurz vor dem Ende und erzählen dann die Geschichte in Rückblenden. Krass innovativ, ey! Dass darunter der Spannungsbogen leidet, geschenkt! Denn hey, dass der Typ, dessen Leben da gezeigt wird, längst tot ist, ist ja allgemein bekannt, da kann man also gar nicht spoilern. Stimmt. Nur kann man so eben auch kaum eine wirklich packende Geschichte erzählen. „Egon Schiele: Tod und Mädchen“ von Dieter Berner tappt in genau diese Falle. Eigentlich ist das Biopic rund um die Besessenheit des österreichischen Jugendstil-Meisters ja recht erbaulich. Noah Saavedra spielt sympathisch und bemüht sich nach Kräften, diesem Übergott der Kunst ein menschliches Antlitz zu verleihen (das oftmals zu profan ausfällt, sodass man als Zuseher langsam ins Grübeln kommt, worin denn nun das Genie des Künstlers liegen soll – aber das ist ein anderer Kritikpunkt), die Ausstattung ist durchaus gelungen, viele Rollen sind gut besetzt. Aber es wird eben keine runde Geschichte daraus. So mäandert der Film, ausgehend vom Endpunkt, einem schwer lungenkranken Egon Schiele in seinem Totenbett, zwischen den Brüsten der g’schmackigen Darstellerinnen, den Konflikten mit der Obrigkeit und den Familiendramen mit der Schwester hin und her, aber man weiß ja, was kommt (hustender Schiele), und irgendwie ergeben die Teile, so gut gemeint und so interessant sie für sich vielleicht auch sein mögen, kein Ganzes. Nicht schlecht, aber unterm Strich halt sehr konventionelles Futter.


5,5
von 10 Kürbissen

https://www.youtube.com/watch?v=Gx54mwtF77E

Café Society (2016)

Regie: Woody Allen
Original-Titel: Café Society
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Komödie
IMDB-Link: Café Society


Ein Filmjahr ohne dem jährlichen Woody Allen-Film? Unvorstellbar. Der kontinuierliche Output des Altmeisters führt allerdings dazu, dass die Qualität der Filme höchst unterschiedlich ist. Das ist verständlich – ein Meisterwerk wie zB „Match Point“ bringt man eben nicht jedes Jahr zustande. „Café Society“ ist ein kleiner, entspannter Film, der nicht viel sein will – und es auch nicht ist. Jesse Eisenberg und Kristen Stewart spielen an der Seite von Steve Carrell zwei junge Menschen, die sich finden, dann aber doch nicht halten können, und das Ganze findet vor dem Hintergrund der Golden Era des Hollywood der 30er Jahre statt. Höchst amüsant ist der Nebenstrang, der sich mit dem Aufstieg des Bruders des Hauptprotagonisten zu einem der einflussreichsten Nachtclubbesitzer auseinandersetzt – was dieser Bruder mit relativ rigorosen Methoden erreicht. Die Betonmischmaschine wird mehr als einmal angeworfen. So erbaulich das Ganze allerdings zeitweise anzusehen ist, fehlen mir jedoch zwei wesentliche Ingredienzien: Chemie (zwischen Eisenberg und Stewart, die beide für sich sehr gut spielen, aber ein Funkenregen sieht anders aus) und Relevanz. Wenn man nach 1,5 Stunden den Kinosaal verlässt, wurde man zwar ganz nett unterhalten, aber im Grunde war’s wurscht, ob man den Abend auf diese Weise oder mit einem Spaziergang durch die nachtbeleuchtete Stadt verbracht hat. Letzteres ist nämlich auch wie der Film: Sehr schön und was fürs Auge, aber nichts, woran man sich noch lange erinnert.


5,0
von 10 Kürbissen

Arrival (2016)

Regie: Denis Villeneuve
Original-Titel: Arrival
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Science Fiction
IMDB-Link: Arrival


Intelligente Science Fiction ist ja etwas, das mich in der Regel schnell begeistert. Und nun packe man mit Denis Villeneuve einen der interessantesten Thriller-Regisseure der letzten Jahre, Amy Adams, Jeremy Renner, Forest Whitaker und Michael Stuhlbarg (alles von mir sehr geschätzte Leute, vor allem Amy Adams, auf die ich ein bisserl einen Crush habe, ich geb’s zu, und Jeremy Renner, den ich mir als Nachbarn wünschen würde) und einen klugen Plot zusammen – „you had me at hello“. Kann „Arrival“ das große Versprechen einlösen, das er mir im Vorfeld gegeben hat? Kurzfassung: Ja, kann er. „Arrival“ ist das bessere „Contact“, und ich fand „Contact“ schon gut. Die Story ist rasch erzählt: 12 seltsame außerirdische Schiffe (fühlte sich bei deren Anblick sonst noch jemand an „2001 – A Space Odyssey“ erinnert?) tauchen plötzlich auf, und eine von Erinnerungen an ihre verstorbene Tochter geplagte Linguistin wird gemeinsam mit einem Mathematiker hinzugezogen, um Kontakt aufzunehmen und rauszufinden, was die Herrschaften from outer space denn so wollen. Kann ja sein, dass sie einfach die falsche transgalaktische Abfahrt genommen haben und nun ihr Navi streikt. Oder sie wollen die Menschheit unterjochen und gegeneinander aufhetzen, wer weiß? Die Chinesen sind jedenfalls schon ganz nervös, und auch die Amis sind ausnahmsweise mal mit ihrem Latein am Ende. Und hier zeigt sich nun eine große Stärke des Films: In Anbetracht der generellen Verwirrung, die anlässlich der Landung der fremden Besucher herrscht, besinnt sich Menschheit zwar darauf, dass man halt doch im gleichen Boot sitzt und schafft es aber nicht, das Misstrauen, das unter Staaten und Geheimdiensten und Militärs herrscht, auszuräumen – man bespitzelt sich fröhlich weiter, kooperiert, aber nur solange man sich einen strategischen Vorteil erhofft, und irgendwie kennt sich keiner aus, wie man mit den Dingern im Vorgarten nun umgehen soll. Diese durch militärisches Zackzack überspielte Verwirrung fängt der Film gut ein. Am Ende ist „Arrival“ ziemlich intensives Futter für die Synapsen und plötzlich auch ein Plädoyer für das Leben – und wirkt sicherlich lange nach. Ein guter und intelligenter Film.


8,0
von 10 Kürbissen

Vor der Morgenröte (2016)

Regie: Maria Schrader
Original-Titel: Vor der Morgenröte
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Biopic, Historienfilm
IMDB-Link: Vor der Morgenröte


Josef Hader ist schon ein Guter. Kaum eine Figur könnte seinem Simon Brenner aus den Verfilmungen der Wolf Haas-Romane weiter entfernt sein als Stefan Zweig. Und doch wird Hader in Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ zu eben diesem. Der Film erzählt die letzten Jahre Zweigs im Exil – in Argentinien, in New York, schließlich in Petrópolis, Brasilien. Der bedachte Kopfmensch bemüht sich, das große Ganze im Blick zu behalten und nicht ein ganzes Volk zu verteufeln, auch wenn das die Reporter und viele seiner Schicksalsgenossen und Dichterkollegen von ihm wünschen würden. Er ist besorgt, aber gleichzeitig als Intellektueller und wohlhabender Mann, der flüchten konnte, privilegiert. Daraus baut Maria Schrader das Porträt eines Mannes, der hin- und hergerissen ist zwischen den Schrecken seiner Zeit und dem schlechten Gewissen, einer der wenigen Überlebenden zu sein und als solcher Verantwortung zu tragen, die er nicht in dem Umfang annimmt bzw. annehmen kann, der ihm gerechtfertigt erscheint. Gleichzeitig ist „Vor der Morgenröte“ ein exzellent gefilmter Clash of Cultures. Wenn auf einer brasilianischen Farm im Nirgendwo eine Blasmusikkapelle aufmarschiert und mit schiefen Tönen den Donauwalzer intoniert, während sich der Bürgermeister vor Stolz, einen solch bedeutenden Schriftsteller bei sich zu haben, kaum halten kann, und dann die Kamera ins Gesicht von Hader zoomt und der Zuseher seine feuchten Augen bemerkt, erzählt der Film unglaublich viel über Heimat und Fremdheit. Ein ganz großer Wurf.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)