Viennale

She Came to Me (2023)

Regie: Rebecca Miller
Original-Titel: She Came to Me
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Rom-Com, Liebesfilm
IMDB-Link: She Came to Me


Die eigene Psychotherapeutin zu heiraten, klingt erst einmal nach einer soliden Idee. Doch nutzt das auch nur wenig, wenn man erstens, wie es dem Opernkomponisten Steven (Peter Dinklage) ergeht, eine veritable Schaffenskrise hat, die sich in Panikattacken manifestiert, und zweitens die Angetraute (Anne Hathaway) selbst ordentlich einen an der Waffel hat, wie sich in einem ausgewachsenen Putzfimmel zeigt. So richtig kompliziert wird alles, wenn man dann einen zufälligen One-Night-Stand hat mit einer Stalkerin, die an Romantiksucht leidet, der Stiefsohn die minderjährige Tochter der Putzfrau datet und der Vater eben jener Tochter meint, das Recht auch zu Lasten seiner eigenen Familie durchsetzen zu müssen, nur weil er nicht verputzt, dass der Lover seiner Tochter dunkelhäutig ist. Und schon haben wir ein schönes Durcheinander, in dem Peter Dinklage so traurig schauen kann, wie er will – er wird dennoch hemmungslos vom Schicksal durchgebeutelt. Immerhin führt das zu einigen sehr komischen und absurden Situationen, in denen Rebecca Miller das Genre der Rom-Com genüsslich zelebriert und gleichzeitig zeigt, dass sie ihre eigene Geschichte nicht bierernst nimmt. Das tut dem Film gut, der auf diese Weise recht unterhaltsam ist. Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit darunter. Marisa Tomei als Schlepperkahn-Kapitänin und liebesbesessener Love Interest ist ein gutes Beispiel dafür, dass Glaubwürdigkeit eben nicht das Hauptanliegen von Miller war. Zwar spielt sie ihre Figur einmal mehr mit Verve, aber man kauft ihr diese dennoch nicht ab. Auch Dinklage funktioniert als Star der Komponistenszene nur bedingt. Die Panikattacken und das traurige G’schau passen gut zu ihm, aber die Exzentrik des musikalischen Genies wirkt aufgesetzt. Da hat Cate Blanchett in Tár ganz andere Maßstäbe gesetzt. Und Hathaway, die auch als Produzentin agiert, hat mit ihrer Figur zwar sichtlich Freude, aber deren Charakterbogen ist schon sehr weit hergeholt. Auch scheint Miller nicht ganz im Klaren darüber zu sein, welche Geschichte sie nun eigentlich erzählen möchte: Jene des Komponisten in der Krise, jene des Künstlers und seiner Muse, die Geschichte des jungen Pärchens und der Widrigkeiten, die sie erfahren (und die viel zu beiläufig abgetan werden, wenn man bedenkt, was für sie auf dem Spiel steht), jene der Psychiaterin mit Zwangsneurosen? Alles verschwimmt ein wenig ineinander, und ich wiederhole mich: Es ist gut, dass sich der Film nicht selbst zu ernst nimmt, denn dann würde er unweigerlich komplett den Faden verlieren. So bleiben aber zumindest 1,5 unterhaltsame Stunden, über deren Inhalt man vielleicht nicht allzu groß nachdenken sollte oder auch kann, dessen einzelne Szenen aber für sich recht gut funktionieren. Hier ist eben nur das Ganze nicht größer als seine Teile.


5,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Puan (2023)

Regie: Maria Alché und Benjamín Naishtat
Original-Titel: Puan
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama
IMDB-Link: Puan


Marcelo unterrichtet Philosophie an der Puan genannten Fakultät in Argentinien. Sein Mentor und Studienprogrammleiter Eduardo ist gerade gestorben, beim Laufen einfach tot umgefallen. Es ist unklar, wie es weitergeht mit dem Studienprogramm, mit Marcelos Vorlesungen, mit allem. Der introvertierte Professor ist einer, dem die Dinge passieren. Und wenn’s blöd läuft, passiert es ihm, dass er sich auf der Parkbank auf eine vollgekackte Windel setzt und quasi im gleichen Atemzug zu einer Memorial-Feier zu Ehren des Verstorbenen eingeladen wird. Bei der auch sein alter Studienkollege Rafael auftaucht, ein Aufschneider, der soeben aus Deutschland zurückgekehrt ist, weil er, so munkelt man, mit einer argentinischen Schauspielschönheit liiert ist. Eigentlich ist Rafael ja nur auf Besuch da, wie er selbst sagt, doch als der Posten der Nachfolge für den verstorbenen Eduardo ausgeschrieben wird, scheint es sich Rafael doch gemütlich einrichten zu wollen, und eine alte Rivalität bricht von Neuem auf. Marcelo ist gezwungen, selbst aktiv zu werden und sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Puan“ von Maria Alché und Benjamín Naishtat erzählt von einem Menschen, der nicht weiß, wofür er steht und was seine Ambition ist. Das Regieduo lässt ihn dabei in allerlei obskure und komische Situationen fallen. Marcello Subiotto verleiht dem antriebslosen Verlierertypen eine Präsenz, die Mitgefühl für diese so oft gescheiterte Person weckt. Doch Alché und Naishtat begnügen sich nicht damit, eine Charakterstudie zu entwickeln und diesen Charakter im Laufe der Geschichte wachsen zu lassen, sondern sie bringen auch noch eine politische Ebene unter. Das ist gleichzeitig eine Stärke des Films wie auch seine größte Schwäche. Denn einerseits bringt diese politische Ebene, eine Abrechnung mit einem System, das Bildung austrocknen lässt, eine für europäische Seher spannende zusätzliche Dimension ein, andererseits wird der Fokus dadurch unscharf. So recht scheint der Film nicht zu wissen, in welche Richtung er sich bewegen möchte. Das Ende immerhin bringt die beiden Ebenen dann doch noch zusammen, und der Film findet einen runden Abschluss.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Fado, Major and Minor (1994)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Fado majeur et mineur
Erscheinungsjahr: 1994
Genre: Drama
IMDB-Link: Fado majeur et mineur


Raúl Ruiz zum Zweiten. Nach seinem Debütfilm Three Sad Tigers springen wir nun ein Vierteljahrhundert weiter und gehen nach Portugal. Pierre, Touristenführer und ehemaliger Vertreter für die Enzyklopädie Britannica, steht plötzlich wie der Ochs‘ vorm Berg und erkennt weder die Stadt, durch die er seine Gäste führt, noch sein eigenes Leben. In seinem Apartment trifft er auf einen rätselhaften jungen Mann und dessen Tochter, der auf Rache aus ist. Aber an wem? Und weshalb? Pierre wird in einen Fiebertraum aus Wollust, Rache und Betrug hineingezogen. Mit der schönen Tänzerin und Prostituierten Ninon vergnügt er sich auf einer versifften Herrentoilette, mit Joachim zieht er durch geheimnisvolle Nachtclubs. Die Ebenen von Realität und Fiktion sowie zeitliche Dimensionen verschwimmen. „Fado majeur et minor“ versucht erst gar nicht, die lose auf einer Erzählung von Fjodor Dostojewski basierende Geschichte zugänglich zu machen. Man tappt als Zuseher genauso im Dunkeln wie Pierre selbst, dem Hauptdarsteller Jean-Luc Bideau übrigens einen der denkwürdigsten Bärte der Filmgeschichte verpasst hat. Doch wenn man sich auf dieses surreale Abenteuer einlässt, entfaltet der Film einen rätselhaften Sog. „Fado majeur et minor“ ist kein Film, dem man sich mit seinem Kopf, seinem Verstand annähern kann, sondern nur mit einem Bauchgefühl, das zunehmend unguter wird, was aber nicht gegen den Film spricht. Man muss eben diese abenteuerliche Reise mitmachen, ohne das Ziel zu hinterfragen, um Genuss aus dem Film zu ziehen. Aber dann punktet er mit surrealer Erotik, erinnerungswürdigen Bildern und charismatischen Darstellerinnen und Darstellern, deren seltsames Handeln lange nachwirkt.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Holdovers (2023)

Regie: Alexander Payne
Original-Titel: The Holdovers
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie, Drama, Weihnachtsfilm
IMDB-Link: The Holdovers


Eine Elite-High School für die Kinder von Reich & Schön im Jahr 1970. Ein grantiger, zynischer Geschichtsprofessor, der zum Aufsichtsdienst während der Weihnachtsferien verdonnert wird. Vier arme zurückgelassene Seelen plus die Köchin der Schule, die ihren Sohn vor kurzem in Vietnam verloren hat. Das ist die Mixtur für Alexander Paynes vielleicht bestem Film überhaupt. In „The Holdovers“ erzählt er von Menschen, die sich alleingelassen fühlen, deren Vergangenheit als großer Schatten über ihnen hängt, und die aber nach und nach erkennen, dass sie sich davon nicht definieren müssen. Vor allem, als ein Teil der Jugendlichen dann doch zum Skifahren abgeholt wird, und Lehrer Paul Hunham mit der Köchin Mary Lamb und dem Schüler Angus Tully zurückgelassen wird, entwickelt der Film, der sich im Grunde in drei Teile unterteilen lässt und damit trotz seiner Laufzeit von über 2 Stunden ungemein kurzweilig wirkt, eine herzerwärmende Dynamik, und die eigentliche Reise zur Erkenntnis beginnt. Die Besetzung spielt diese verlorenen Figuren überragend: Paul Giamatti wurde geboren, um diesen zynischen Grantler zu spielen, Da’Vine Joy Randolph verleiht ihrer fast gebrochenen Figur Grazie und Würde, und Newcomer Dominic Sessa lässt hinter der aufsässigen Fassade immer wieder die tiefen Verwundungen seiner Figur durchblitzen. Ich prognostiziere, dass man zumindest Giamatti und Randolph in der kommenden Award-Season wieder öfter zu Gesicht bekommen wird. Oscarverdächtig spielen beide jedenfalls. Und dank Giamattis Figur habe ich nun eine ganze Reihe kreativer Beleidigungen im Repertoire, die darauf warten, in der Praxis zur Anwendung zu kommen. „The Holdovers“ ist ein fast perfekter Film: Er ist technisch hervorragend gemacht mit Bild und Ton, die direkt den 70ern entstammen könnten, er ist saukomisch, sodass ich vor Lachen geweint habe, dabei aber auch unglaublich tragisch, wenn sich die Hintergrundgeschichten dieser Misfits nach und nach entfalten, er ist unterhaltsam, bietet am Ende eine versöhnliche Botschaft und eine tiefere Erkenntnis, und als Weihnachtsfilm geht er auch noch durch. Danke, Mr. Payne, für diesen Film!


9,0 Kürbisse

(Foto: Seacia Pavao (c) 2023 Focus Features LLC. All Rights Reserved)

The Old Oak (2023)

Regie: Ken Loach
Original-Titel: The Old Oak
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: The Old Oak


2016. Syrische Flüchtlinge kommen in einem Dorf nahe der ehemaligen nordenglischen Industriestadt Durham an. Dieses hat auch schon weitaus bessere Zeiten gesehen. Die trostlosen Reihenhäuser werden für 8.000 Pfund verscherbelt, was die lokale Bevölkerung, die diese Ziegelblöcke einst um 50.000 Pfund gekauft haben, verärgert. Bis in die 80er Jahre hinein war Durham und seine Umgebung belebt – die örtliche Kohlemine sorgte für Arbeit. Doch diese Zeit ist längst vorbei. Die letzten vier Stammgäste sitzen im Pub „The Old Oak“ und kommentieren die Ankunft der Fremden mit Misstrauen und Vorurteilen. Das Leid der Flüchtlinge trifft auf die Tristesse der Zurückgelassenen. Ken Loachs neuester Film könnte eine Blaupause für tragisches Kino sein, das den Zuseher in eine tiefe Depression rutschen lässt. Doch Ken Loach, dieser große Humanist unserer Zeit, verfolgt einen komplett anderen Ansatz. Mit dem Pubbesitzer TJ Ballantyne schafft er eine mitfühlende Figur, die beiden Welten zusammenführt. Dieser von Dave Turner mit viel Zärtlichkeit gespielte Figur ist ein stoischer Bär, der selbst mehr als genug Leid in seinem Leben erfahren hat und sich kaum über Wasser halten kann. Dennoch ist seine Essenz das Mitgefühl, die Mitmenschlichkeit. Er hat keinen Helferkomplex, doch einen offenen Blick und man spürt sein ehrliches Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein. Als durch einen Übergriff bei Ankunft der Syrer die Fotokamera von Yara (Ebla Mari) beschädigt wird, hilft er der jungen Frau ohne Hintergedanken. Schon bald entwickelt sich eine lose Freundschaft zwischen den beiden. Schließlich trägt Yara zusammen mit einer befreundeten Sozialarbeiterin die Idee an TJ heran, Syrer wie Engländer an einen Tisch zu setzen und kostenlose Mahlzeiten für alle anzubieten. Die ganz große Stärke in Ken Loachs Film ist, dass er nicht nur ausschließlich das Schicksal der Geflüchteten im Auge behält, sondern dieses zusammenführt mit der prekären Situation der Dorfbewohner. Auf diese Weise zeigt er auf: Ein Mensch ist ein Mensch. Unabhängig von Herkunft, Rasse, Religion, Geschlecht sind wir alle den Widrigkeiten und Zufällen des Lebens ausgesetzt, die uns mal mehr, mal weniger treffen. Hinter jeder Tür verbirgt sich eine Geschichte, die es wert ist, dass man sie anhört. Ein schöner, stimmiger und in seiner Kernaussage auch unglaublich positiver Film, den es gerade in Zeiten wie heute wohl mehr denn je braucht.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Lakeside Camping (2023)

Regie: Éléonore Santaignan
Original-Titel: Camping du lac
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Camping du lac


Camping klingt in der Theorie ja wunderbar: Man entspannt in der freien Natur, vorzugsweise an den Ufern eines hübsch gelegenen Sees, man ist eins mit der Umgebung, nichts stresst und am Abend gibt’s Marshmallows am Lagerfeuer und irgendeiner holt die Gitarre heraus und singt Kumbaya. So friedlich, so idyllisch. In der Praxis läuft es aber eher darauf hinaus, dass die Hygiene leidet, es sowieso immer regnet und in der Nacht fressen einen die Mücken. Und fad ist es auch. Jedenfalls das Hygieneproblem hat Éléonore Santaignan, die in ihrem Debütfilm „Camping du lac“ gleich auch die Hauptrolle übernimmt, nicht, denn die aufgrund einer Autopanne am Campingplatz Gestrandete kriegt dort eine komfortable Hütte zugewiesen. Außer ihr sind nicht viele andere Menschen an diesem entlegenen See, von dem es heißt, dass der beste Buddy des Heiligen Corentin, ein Fisch, immer noch seine Kreise durch das Wasser zieht, ohne dass man ihn jemals zu Gesicht bekommen hätte. Quasi die Nessy der Bretagne. Die Dauercamper (allesamt Laiendarsteller:innen), zu denen auch bald Éléonore gehört (wohl die längste Autoreparatur der Filmgeschichte), züchten und schlachten Hühner, singen Countrysongs und fadisieren sich gemeinsam durch den Tag. Auch Éléonore entdeckt bald einen Zeitvertreib für sich: Mittels Richtmikrofon lauscht sie dem Gesang von Vögeln und nebenbei auch den banalen Gesprächen der Nachbarn. Nichts passiert, bis eines Tages dann doch eine Sichtung des mythologischen Fisches vermeldet wird und die Touristenhorden einfallen. In der wohl stärksten Sequenz des Films singt der alte, ausgewanderte Amerikaner einen Song mit seiner Tochter, von der er sich entfremdet hat und die in den USA zurückgeblieben ist, doch mit anderen Touristen angeschwemmt wird. Diese Szene ist emotional stark und geht unter die Haut, schafft es Santaignan doch mit nur einem Lied, ein Fundament für eine fragile Beziehung zu schaffen. Darüber hinaus gelingt es aber Santaignan leider nicht, das Interesse des Publikums zu gewinnen und zu halten. Es passiert einfach nichts, die Hauptfigur ist im Grunde nur eine Erzählerin aus dem Off ohne eigene Persönlichkeit, und auch die anderen Figuren bekommen, mit Ausnahme des Amerikaners, nicht genügend Raum, um interessant zu werden. Wie schon gesagt: Camping ist fad.


4,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Europa (2023)

Regie: Sudabeh Mortezai
Original-Titel: Europa
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Politfilm
IMDB-Link: Europa


Die fiktive Organisation EUROPA verteilt in Albanien großzügig Stipendien an Studierende aus sozial schwächeren Schichten und bietet Dorfbewohnern in entlegenen Gegenden viel Geld für ihr Grundstück, um ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Willkommen in Sudabeh Mortezais Europa, das die europäische Gemeinschaft heraufbeschwört und unter diesem Mäntelchen neoliberale, kapitalistische Interessen verbirgt. Verkörpert wird dieses doppelte Spiel von der deutschen Managerin Beate Winter (Lilith Stangenberg), die den albanischen Dorfbewohnern ihr Land abknöpfen soll. Sie versucht dies mit viel Zureden, mit freundlich-aufgesetzter Mimik, mit dem einen oder anderen Schluck Raki, den sie aus gutem Willen mit ihren Gesprächspartnern trinkt, doch stoßen hier zwei Welten aufeinander: Eine sehr traditionelle, auf religiösen und familiären Werten fußende, die nur die eigenen Nöte des Überlebens kennt, und die großkapitalistische, in der man meint, mit Geld oder Gewalt oder beidem alles erreichen zu können. Das Machtgefälle ist groß, und doch entspinnt sich zunächst ein zähes Ringen um Land und Boden. „Europa“ ist Kapitalismuskritik und ein zutiefst politischer Film, der sein Anliegen aber im Kleinen verarbeitet und sichtbar macht. Hier wird ein Stellvertreterkrieg geführt. Mortezais Arbeitsweise ist eine gesonderte Erwähnung wert: Auf die renommierte Darstellerin Stangenberg trafen fast ausschließlich Laiendarsteller:innen aus der Region, die nicht einmal das Drehbuch zu lesen bekamen, sondern in den Szenen improvisierten. Diese Kluft aus der Arbeitsweise heraus überträgt sich auf die Figuren, wobei es Stangenberg gelingt, ihrer starren Figur, die so sichtbar eine Rolle spielt, in der sie sich auch immer wieder mal unwohl fühlt, eine Brüchigkeit zu verleihen, die das Spiel mit den Rollen umso deutlicher hervortreten lässt. In diesem Sinne betrachtet „Europa“ auch die Zwänge, die in führenden Positionen großer Unternehmen oder Organisationen existieren. Ein spröder, aber ungemein genau beobachteter und stringent erzählter Film.


6,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Club Zero (2023)

Regie: Jessica Hausner
Original-Titel: Club Zero
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Satire
IMDB-Link: Club Zero


So, der Kürbis eures Vertrauens haut jetzt mal ein Statement heraus, an dem ihr euch reiben könnt: Die Fachkritik in Cannes kennt sich nicht aus. Die mochte nämlich Jessica Hausners neusten Film „Club Zero“, der immerhin in den offiziellen Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes eingeladen wurde, so überhaupt nicht. Ich sage ja nicht, dass der Film den Wettbewerb hätte gewinnen sollen, aber die miesen Kritiken scheinen, so deucht es mir nach einigem Überlegen, einen wesentlichen Aspekt des Films zu missverstehen. Es geht darin nämlich gar nicht um einen Diskurs über Essstörungen von Jugendlichen, es geht nicht um eine realistische Bearbeitung dieses schwierigen Themas, sondern „Club Zero“ ist vielmehr eine bitterböse, schwarzhumorige Satire über Manipulation, Gruppenzwang, Leichtgläubigkeit und Obrigkeitshörigkeit, wobei die Obrigkeit nicht unbedingt im Gewand einer staatlichen Autorität gekleidet sein muss, sondern viele Erscheinungsbilder haben kann – es können auch Werte, die man mal wo aufgeschnappt hat, sein. Und wenn man das alles weiterdenkt, landet man bei dem Wort „Zeitgeist“, den Hausner mit ihrem Film kritisch und grimmig betrachtet. Sie nutzt die Geschichte einer etwas esoterisch angehauchten Lehrerin für Ernährung (Mia Wasikowska) an einer Elite-Schule, die den Schülerinnen und Schülern achtsames Essen beibringen möchte und das in immer extremere Gefilde führt, für einen formalistisch streng durchkomponierten Meta-Film über Dogmatismus und dessen Auswüchse. In diesem Film bleibt einem nicht nur das Essen, sondern auch das Lachen im Hals stecken. Und apropos Essen: Wer einen schwachen Magen hat, sollte vielleicht mit Vorsicht an „Club Zero“ herangehen und sich mit einem dieser unauffälligen Papiertütchen, die immer noch in Flugzeugen verteilt werden, für den Kinobesuch ausstatten. Zum Schutz der Kapuze des Vordermanns warat’s.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Daaaaaali! (2023)

Regie: Quentin Dupieux
Original-Titel: Daaaaaali!
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie
IMDB-Link: Daaaaaali!


Die letzten Jahre habe ich bei aller Liebe zur Viennale auch immer wieder kritisiert, dass der Spaß unter der kompetenten Leitung von Eva Sangiorgi zu kurz kommt, dass die anarchischen kleinen Filme, die die schwere Kost auflockern, fehlen. Doch blickt man auf das diesjährige Programm, gibt es absolut nichts zu meckern. Man muss sich nur solche Kleinode wie „Daaaaaali!“ von Quentin Dupieux heraussuchen, und schon sitzt man 80 Minuten lang kichernd im Kinosaal. Salvador Dalí muss man, denke ich, nicht groß vorstellen. Jedes Jahr wird man mindestens im Frühjahr und im Herbst, wenn man die Uhr umstellt, seiner erinnert. Und so erspart sich Dupieux auch die Mühe, ein ausgereiftes Biopic zu drehen, das dieser exzentrischen Künstler- und Kunstfigur ohnehin kaum gerecht werden kann, sondern folgt lieber den Spuren des Surrealisten, indem er Künstler und Werk ineinander verschmelzen lässt. „Daaaaaali!“ ist selbst ein surreales, liebevoll chaotisches Werk, indem eine zunehmend verzweifelter werdende Journalistin (Anaïs Demoustier) versucht, ein Interview mit dem gefeierten Künstler zu bekommen. Doch dieser entzieht sich immer wieder auf höchst amüsante und überaus exzentrische Weise diesem Vorhaben. Das ist dann eigentlich auch schon der ganze Plot des Films, doch das reicht aus, denn Dupieux ist, wie schon gesagt, gar nicht an der Person von Dali und auch nicht an jener der Journalistin interessiert, sondern nutzt das Setting vielmehr für einen lang angelegten Sketch, der immer absurder und grotesker wird bis zum dann in diesem ganzen Wahnsinn wieder konsequenten Ende. Oder war es doch nicht das Ende? „Daaaaaali!“ ist sicherlich kein großer Film, er vermittelt keine tiefgreifende Botschaft, über die man dann spätabends leicht illuminiert im Freundeskreis diskutieren kann, aber er ist ein höchst unterhaltsamer Schabernack, den sich sich Dupieux macht. Allein schon die Entscheidung, die Rolle des Dali mit insgesamt fünf verschiedenen Schauspielern zu besetzen (Gilles Lellouche, Édouard Baer, Jonathan Cohen, Pio Marmaï und Didier Flamand), steckt das Feld gleich zu Beginn gut ab und zeigt, wohin die Reise geht: in einen komischen Irrsinn, an dem Dalí selbst wohl seine Freude gehabt hätte.


6,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Three Sad Tigers (1968)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Tres tristes tigres
Erscheinungsjahr: 1968
Genre: Drama
IMDB-Link: Tres tristes tigres


Die diesjährige Retrospektive der Viennale ist dem chilenischen Filmemacher Raúl Ruiz gewidmet. Und da ich bislang noch keinen einzigen Film aus seinem doch recht umfangreichen Schaffen gesehen habe, steht nun auch Ruiz in meinem persönlichen Festivalprogramm. Sein Debütfilm, „Tres tristes tigres“, konnte 1969 gleich mal den Goldenen Löwen in Locarno gewinnen. Der Titel bezieht sich auf einen spanischsprachigen Zungenbrecher, und so unaussprechlich wie dieser ist es für mich auch unmöglich, eine kohärente Inhaltsangabe zu geben. Ein Typ namens Tito arbeitet für einen Rodolfo, den alle Rudi nennen, und zieht mit seiner Schwester Amanda und einem Don Lucho um die Häuser, ehe er Amanda, eine Nachtclubtänzerin, an Rudi verscherbeln will, weil der unzufrieden mit seiner Arbeit ist. Dass Rudi eigentlich Autos verkauft, habe ich erst nach dem Film kapiert, ich hielt ihn für einen Unterwelt-Boss, doch vielleicht war er das ja auch. Alles denkbar in diesem Film, in dem Leute einfach nur in Bars sitzen und über alles Mögliche reden, nur nicht über das, was eventuell Licht auf die Handlung werfen könnte. Dass „Tres tristes tigres“ trotz dieses inhaltlichen Unverständnisses meinerseits nicht zum Totalausfall gerät, liegt am dann doch faszinierenden Blick, den Ruiz auf die Schattenwelt von Santiago Ende der 60er Jahre und die mit Machogehabe ihre eigenen Unsicherheiten überdeckenden Männer wirft. Man versteht seine Figuren nicht, man findet sie wohl nicht einmal sympathisch, und doch folgt man ihnen neugierig, wenn sie durch die Nacht wandeln und sich hemmungslos betrinken. Ein Film wie ein Fiebertraum – unverständlich (jedenfalls für mich aus heutiger Sicht), mit harten Schnitten, die die Handlung springen lässt und Figuren, die man immer wieder mal durcheinanderbringt, und doch kehrt man, nachdem das Licht wieder an ist, immer wieder dorthin zurück, wenn auch nur in der (vergeblichen) Hoffnung, doch mehr als zwei Puzzleteile zu finden, die zueinander passen.


5,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)