Viennale

The White Girl (2017)

Regie: Jenny Suen und Christopher Doyle
Original-Titel: The White Girl
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama
IMDB-Link: The White Girl


Im Rahmen von Filmfestivals wie eben der Viennale stößt man immer wieder auf Filme aus anderen Ländern und Kulturkreisen, die wahnsinnig interessant sind und die man gerne ansieht, die aber einfach keinen Sinn ergeben. „The White Girl“ ist so ein Fall. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens in einem der letzten Fischerdörfer Hongkongs, das allein mit ihrem Vater in einer Baracke lebt, da die Mutter kurz nach der Geburt des Mädchens an einer seltsamen Krankheit verstorben ist, die sie an ihre Tochter weitervererbt hat: So darf die Tochter, eben the White Girl, nicht mit direkten Sonnenstrahlen in Berührung kommen. Sagt der Vater. Eines Tages kommt ein Fremder in das Dorf, nistet sich in einer Ruine im Wald ein und beobachtet von dort mittels einer Art Teleskop die Geschehnisse im Dorf und auch das Mädchen. Er knüpft Kontakt zu dem Mädchen, das sich erstmals nicht wie ein Geist fühlt, sondern tatsächlich gesehen und wahrgenommen wird. Er schließt zudem Freundschaft zu einem aufgeweckten Jungen und gemeinsam kommen sie einem Komplott auf die Schliche, das die Existenz des Dorfes gefährdet. „The White Girl“ hat somit irgendwie von allem ein bisschen was: Kapitalismuskritik. Coming of Age-Inhalte. Eine sich anbahnende Liebesgeschichte. Eine Buddy-Geschichte. Und teilweise Slapstick-Humor, wenn beispielsweise ein bastelwütiger Priester aus Schrott obskure mechanische Gimmicks baut oder wenn der Dorfvorsteher mit Spielzeugbaggern, die er über eine Karte fahren lässt, seinem Geldgeber die Erweiterungspläne für das Dorf vorstellt. Aber irgendwie greifen diese Räder einfach nicht ineinander. Keine Geschichte wird tatsächlich befriedigend aufgelöst, eine große Erkenntnis gibt es auch nicht – auch wenn der Film am Ende versucht, aus dem Off noch pseudophilosophische Botschaften an den Mann und die Frau zu bringen. Immerhin hat „The White Girl“ viele sehr schöne Bilder. Dass ein Großteil des Films – bedingt durch den Zustand der Hauptfigur – in der Dämmerung spielt, sorgt für eine ganz eigene, etwas mysteriöse Ästhetik. So kann man sich „The White Girl“ ganz gut anschauen, aber wer eine tatsächliche Geschichte darin findet, vielleicht gar eine interessante Erkenntnis, der möge sich bitte bei mir melden.


5,0
von 10 Kürbissen

Casting (2017)

Regie: Nicolas Wackerbarth
Original-Titel: Casting
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Komödie
IMDB-Link: Casting


Die Regisseurin Vera möchte eine Neuverfilmung von eines Fassbinder-Films realisieren. Sie kommt aus dem Dokumentarbereich und hat klare Vorstellung, wie für sie die Hauptrolle der Petra von Kleist gespielt werden soll. Das Problem: Die Schauspielerinnen, die sie zum Casting einlädt, entsprechen dieser Vorstellung nicht, sehr zum Missfallen von Produzenten und Castingdirektorin, die den Drehbeginn in wenigen Tagen stark gefährdet sehen. Die Nerven liegen blank im Studio. Nur dem Anspielpartner Gerwin, der bis zum Eintreffen der männlichen Hauptrolle in den Castings die Rolle übernimmt, kann das nur recht sein – denn während er an der Rolle des Karl arbeitet, stellt er fest, wie viel Spaß es ihm macht und dass es ja eigentlich ganz nett wäre, selbst mal wieder vor der Kamera zu stehen.

„Casting“ von Nicolas Wackerbarth ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Film: Zum Einen, weil es nur ein Treatment, aber kein fest vorgegebenes Drehbuch gab. Fast alles war Improvisation. Zum Anderen, weil der Film sehr mit doppelten Böden arbeitet. Immer wieder greifen die gespielten Casting-Szenen und die Realität der Figuren ineinander. Welche Emotion ist echt, welche nur gespielt? Und auch die Tatsache, dass mit Ausnahme des von Andreas Lust gespielten Gerwig (der offen schwul ist) alle Hauptrollen mit Frauen über 40 besetzt sind, hebt den Film wohltuend von vielen anderen Werken ab. Der Film reflektiert über den künstlerischen Schaffensprozess, über die Lücke zwischen Anspruch und Realisierbarkeit und wie diese Lücke zu einer Entscheidungsunwilligkeit führen kann, die den Prozess weiter hemmt, über Träume und Ziele und gleichzeitig über Illusionen. Dabei ist „Casting“ wahnsinnig komisch und hintergründig, was vor allem dem gut aufgelegten Cast zu verdanken ist. Zwar ist der Film nicht ganz frei von Klischees, aber klug genug, diese zu bemerken und mit ihnen zu spielen. Ein gut unterhaltender Meta-Film über das Filmemachen.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Stadtkino Filmverleih)

Person to Person (2017)

Regie: Dustin Guy Defa
Original-Titel: Person to Person
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Episodenfilm, Komödie
IMDB-Link: Person to Person


„Person to Person“ von Dustin Guy Defa ist ein Film, der ein wenig aus der Zeit gefallen scheint. Die Art und Weise, wie sich die Charaktere anziehen, mit welchen Dingen sie zu tun haben (analoge Uhren, Schallplatten, uralte Vespas), die Unschuld, die durch ihre Handlungen und Dialoge schimmert, wenn zB der Schallplattensammler den auf einem Fahrrad flüchtenden Typen, der ihn übers Ohr gehaut hat, ebenfalls mit dem Fahrrad verfolgt, die Musik und schließlich die Tatsache, dass auf Filmrolle gedreht wurde, verortet den Film eher in den 70ern als in der heutigen Zeit. Auch wenn das vom Regisseur, wie er im Q&A freimütig zugab, gar nicht geplant war. Und vielleicht unterstreicht das auch die Ursache für das Hauptproblem, das der in New York angesiedelte Episodenfilm hat: Er wirkt etwas unfokussiert. Eh alles ganz nett und erbaulich, sehr sympathisch auch, dieses Understatement in den stilisierten Dialogen, diese teils recht schrulligen Charaktere – ja, dem sieht man gerne zu. Aber man fragt sich am Ende doch: Wozu? Was war jetzt die Geschichte? Da gibt es die schon erwähnte Episode mit dem Schallplattensammler, der geprellt wird. Da gibt es das altkluge, leicht misanthropische Mädchen, das eher auf Mädchen steht und nicht ganz verkraftet, dass ihre beste Freundin mit ihrem neuen Freund herummacht, während sie auf der Couch hockt. Dann den Burschen, der – aus welchen Gründen auch immer – Nacktfotos seiner Freundin ins Internet gestellt hat und das nun bitterlich bereut. Da gibt es die Möchtegernjournalistin an ihrem ersten Tag und ihren seltsamen, nerdigen Boss, die einen Mordfall aufdecken möchten, und die Neue stellt bald fest, wie wenig ihr das Schnüffeln liegt. Und am Ende des Films und damit aller Episoden steht bei jedem so eine kleine positive Erkenntnis. Wie gesagt: So sympathisch der kleine New York-Film auch wirkt, so harmlos und letztendlich belanglos ist er auch.


5,5
von 10 Kürbissen

Mr. Long (2017)

Regie: SABU
Original-Titel: Ryu San
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie, Thriller
IMDB-Link: Ryu San


Manchmal geht auch beim besten Auftragskiller etwas schief – und das bedeutet halt gleich mal Gefahr für Leib und Leben. So kann sich der stoische taiwanesische Killer Mr. Long bei einem missglückten Auftrag in Tokio nur knapp vor der japanischen Yakuza in Sicherheit bringen und landet verletzt in einem verlassenen Haus in einer Kleinstadt. Japanisch sprechen kann er nicht, doch unverhofft kommt oft – und so greift ihm bald ein kleiner Junge, der Sohn einer drogensüchtigen Ex-Prostituierten, unter die Arme. Und dann die ganze Nachbarschaft, als sie entdeckt, dass in Mr. Long ein begnadeter Koch schlummert. So verschiebt sich der Fokus des schweigsamen Helden allmählich von der Aufgabe weg, möglichst schnell genügend Geld zusammenzubekommen, um zurück nach Taiwan zu gelangen, und hin zur Frage, ob man hier nicht ein bisschen Ruhe und Frieden finden kann. Doch der Teufel schläft bekanntlich nicht, und das tun auch nicht die japanische Yakuza oder unerfreuliche Bekanntschaften der Mutter des Jungen aus der Vergangenheit. Die – an sich recht klischeehafte – Geschichte erzählt „Mr. Long“ als Mix diverser Genres, die fließend ineinandergreifen. Da ist am Anfang der blutige Thriller mit schwarzhumorigem Einschlag, der durchaus aus der Feder von Tarantino stammen könnte. Dann ist da die Andeutung eines Buddy-Movies zwischen Mr. Long und dem kleinen Jungen. Die Nachbarn sorgen für Slapstick-Humor. Und schließlich wird noch eine zarte, gefühlvolle Liebesgeschichte reingepackt, bevor es am Ende wieder blutig wird. Und das funktioniert überraschenderweise richtig gut. Denn in allen Aspekten entwickelt „Mr. Long“ einen unglaublichen Sog und teils eine große, emotionale Wucht im Kleinen – in den Gesten, wenn sich der eiskalte Killer Mr. Long beispielsweise über einen gelungenen Home-Run seines jungen Freunds beim Baseballspiel freut, sich dies aber, weil er ja als dieser knallharte, schweigsame Typ wirken will, nicht anmerken möchte. Auch ist der Film konsequent – in dem, was er seinen Figuren antut und auch in dem, was er ihnen vorenthält. Phasenweise wirkt „Mr. Long“ dennoch nicht ganz ausbalanciert, und die Genreklischees, auf die der Film aufbaut, sind manchmal auch ein bisschen gar überstrapaziert. Aber sei’s drum, auch mein zweiter Viennale-Film 2017 kann jedenfalls weiterempfohlen werden.


7,5
von 10 Kürbissen

https://www.youtube.com/watch?v=Kx-0VNUuT88

Lucky (2017)

Regie: John Carroll Lynch
Original-Titel: Lucky
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Lucky


Der Auftakt der diesjährigen Viennale ist ein ganz besonders intimer Film und gleich zu Beginn ein absolutes Highlight. „Lucky“ von John Carroll Lynch ist gleichermaßen eine Hommage an den im September verstorbenen Harry Dean Stanton wie auch dessen letztes großes Werk, mit dem der legendäre Nebendarsteller am Ende noch seinen großen Auftritt hat. Harry Dean Stanton ist Lucky. Lucky ist Harry Dean Stanton. Schwierig, die beiden auseinanderzuhalten, aber das ist auch gar nicht nötig. Eine Geschichte gibt es nicht wirklich. Lucky macht in der Früh seine Yoga-Übungen, bevor er sich eine Zigarette anzündet und durch die Kleinstadt in der Wüste schlendert. Er hat seine Rituale. Am Abend kippt er noch eine Bloody Mary in der Dorfkneipe und lauscht seinen Freunden, wie sie Geschichten erzählen über die Liebe und über Verlust. Es sind kleine existentialistische Schlaglichter, die John Carroll Lynch auf seinen Helden und dessen Umfeld wirft. Doch Lucky, der trotz seiner 90 Jahre und den vielen Zigaretten erstaunlich fit ist und auch im Krieg, obwohl er auf einem Panzerlandungsschiff, einem LST („Landing Ship Tank“, oder wie er es bezeichnet „Large Slow Target“), stationiert war, wie durch ein Wunder nie beschossen wurde, ein echter Glückspilz also, kippt eines Tages einfach um und stellt dabei fest, dass er alt ist. Der stoische Außenseiter, der generell ein wenig der Welt entrückt wirkt, wird plötzlich mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert und entdeckt etwas an sich, das ihm bis dato unbekannt war: Angst. Aber Lucky wäre nicht Lucky, wenn er sich nicht dennoch gleichmütig die nächste Zigarette anzünden und versuchen würde, das Beste aus seiner Situation zu machen. „Lucky“ ist ein warmherziger Film voller liebenswerter Figuren, und dennoch behandelt der Film – ohne Sentimentalität – die dringlichsten Fragen, denen wir uns alle ausgesetzt fühlen: Einsamkeit, Altern, dem Verschwinden. Was bleibt von uns, wenn die Momente, in denen wir existieren, übergehen in das große Nichts? Wie gehen wir damit um, dass letztlich alles bedeutungslos ist? Lucky findet seine Antworten, und wenn am Ende Harry Dean Stanton direkt in die Kamera lächelt, ist das etwas, das überdauern wird. Er dreht sich um und geht, und unsere Herzen gehen mit ihm.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)

99 Homes – Stadt ohne Gewissen (2014)

Regie: Ramin Bahrani
Original-Titel: 99 Homes
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Drama
IMDB-Link: 99 Homes


Dieses US-amerikanische Independent-Drama zeigt so ziemlich die Quintessenz des amerikanischen (bzw. westlichen) Kapitalismus auf. Ein junger Mann der Hard Working Class (Andrew Garfield), gerade arbeitslos geworden, wird zusammen mit seinem kleinen Sohn und seiner Mutter aus seinem Haus geworfen, da er sein Darlehen nicht zurückzahlen konnte und von der Bank enteignet wurde. Der Mann, in dessen Auftrag das Haus zwangsgeräumt wird (Michael Shannon, eine schauspielerische Urgewalt), ist Immobilienbroker und verdient sich eine goldene Nase mit Zwangsräumungen. Wie es das Schicksal so will, kommen die beiden zusammen, als der Makler dem Jungen die Chance gibt, für ihn zu arbeiten. Es entspinnt sich eine Art „Wall Street“ (der 80er-Film mit Michael Douglas und Charley Sheen) im Immobilienmarkt. Allmählich verschwimmen die Grenzen der Legalität und das Big Money nimmt Konturen an. Es kommt, wie es kommen muss: Der Junge verstrickt sich immer mehr in den windigen Geschäften des Maklers und wird vor ein moralisches Dilemma gestellt: Geld einstreifen und eventuell doch das Haus für seinen Sohn und seine Mutter retten, oder aussteigen aus dem unmenschlichen Geschäft, in dem alte, verwirrte, einsame Männer kaltblütig aus ihrem Haus geschmissen und auf die Straße gesetzt werden, wenn sie mit ihrem Darlehen in Verzug sind. „99 Homes“ ist ein guter und wichtiger Film, der von zwei richtig tollen Hauptdarstellern getragen wird und in vielen Szenen ordentlich an die Nieren geht. Das Ende ist dann ein bisschen zu Hollywood-like und kommt auch wenig überraschend. Dennoch ein insgesamt sehr sehenswerter Film, wenngleich er einer von jenen ist, die man kein zweites Mal sehen möchte.


7,0
von 10 Kürbissen

https://www.youtube.com/watch?v=sfttvNCIJvE

The Diary of a Teenage Girl (2015)

Regie: Marielle Heller
Original-Titel: The Diary of a Teenage Girl
Erscheinungsjahr: 2015
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: The Diary of a Teenage Girl


Es sind die 70er. Die koksende, ständig Party machende Hippie-Mutter (Kristen Wiig) hat einen etwas jüngeren Lover in seinen Dreißigern (Alexander Skarsgaard), die 15jährige Tochter Minnie (herausragend und mit vollem Einsatz gespielt von Bel Powley) zeichnet Comics, versucht, die Welt zu verstehen und noch mehr das postpubertäre Gefühlschaos in ihr selbst. Der Lover der Mutter sieht ja eigentlich recht schnuckelig aus und plötzlich hat sie bei einem gemeinsamen Barbesuch seinen Finger im Mund und feuert laszive Blicke auf ihn ab, was ihn (und andere Teile seines Körpers) sichtlich … aufschreckt. Und da der junge Mann selbst irgendwie verloren wirkt, als wäre er noch ein Teenager, dem einfach zu schnell der Bart gewachsen ist, landen die beiden in der Kiste. Minnie erlebt ihr erstes Mal also mit dem Freund ihrer Mutter. Und ihr zweites Mal. Und drittes Mal. Und so weiter. Mit dem sexuellen Erwachen folgen interessante Experimente in den interdisziplinär verschränkten Fächern „Party machen“ und „Drogen konsumieren“, aber allmählich kippt das alles. Der Teenager ist mit der Situation zusehends überfordert (der Lover ist es schon längst), und dass es nicht ganz risikofrei ist, mit dem Freund der Mutter zu schlafen, sollte eigentlich auch klar sein. Die leichte Independent-Komödie kippt allmählich ins Dramatische, zwinkert aber auch da immer noch fröhlich mit den Augen – man ist ja schließlich in den 70ern, und da waren die Menschen lebenslustiger, gell? Und das ist auch mein Hauptkritikpunkt am Film. Zwar transportiert der Film ein bestimmtes Lebensgefühl sehr überzeugend und wirkt (dank großartiger Kameraarbeit, tollen Kostümen und einer bis ins kleinste Detail durchdachten Deko) tatsächlich aus der Zeit gefallen, aber die 70er werden mir dennoch zu stark auf Sex, Party und Drogen reduziert. Ich glaube, der einzige Protagonist, der kein mittelschweres Drogenproblem hatte, war die Katze. Und selbst die war wahrscheinlich massiv auf Katzenminze. Auch das Thema selbst, das hemmungslose Verhältnis einer 15jährigen mit einem 35jährigen, war für mich teils zu fröhlich dargestellt. Eigentlich hätte ich erwartet, dass die Protagonistin von der ganzen Geschichte einen massiven Knacks bekommt. Großartig hingegen das Spiel und die für Hollywood rotzfreche Umsetzung mit viel nackter Haut. Ja, es geht um Sex, also wird auch Sex gezeigt. Und da sind die Menschen nun mal nicht stets züchtig in weiße Bettlaken eingewickelt. Ich hätte dem Film gern eine höhere Wertung gegeben, aber unterm Strich blieb er für mich – trotz großartiger Umsetzung – zu leichtgewichtig, zu naiv. Aber gut, im Vergleich zu den Menschen in den 70ern sind wir heute wahrscheinlich ziemliche Spießer. Und als solcher Spießer bewerte ich eben auch den Film.


6,5
von 10 Kürbissen

La La Land (2016)

Regie: Damien Chazelle
Original-Titel: La La Land
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Musikfilm / Musical
IMDB-Link: La La Land


Diese Rezension wurde verfasst im Rahmen der Viennale 2016.

Das Beste kommt zum Schluss. Ein sehr guter Viennale-Jahrgang wird beendet mit einer quietschvergnügten und knallbunten Explosion. „La La Land“ von Damien Chazelle, der mich schon mit seinem Erstling „Whiplash“ begeistert hat, ist so ganz anders als das sinistere Psychospiel, weist aber die gleichen Tugenden auf (das hohe Tempo, die großartigen Bilder, das gewitzte Spiel mit Licht und Schatten) und macht so ziemlich alles richtig. Ryan Gosling macht eine wunderbare Wandlung vom bemitleidenswerten Fiesling zum absoluten Sympathieträger durch, und Emma Stone ist überragend. Smells like Oscars, jedenfalls für Emma Stone. Die Story ist zwar recht konventionell und weitestgehend überraschungsfrei (mein einziger größerer Kritikpunkt), aber das bunte und laute Abenteuer macht einfach Spaß. Nach den vielen stillen und subtilen Filmen der letzten Tage kam dieser Knall zum Abschluss gerade recht. „La La Land“ ist ganz klar kein Film, der sich an seine Zuseher heranschleicht, sondern er kommt mit Pauken und Trompeten, nein, einer ganzen Blasmusikkapelle. Kitsch? Ja, klar – und wie! Mich hat es mitgerissen, ich bin hingerissen.

Nachtrag:

„La La Land“ hat auch beim zweiten Ansehen großartig funktioniert – jedenfalls für mich. Ich verstehe, warum dieser Film polarisiert, warum ihn viele als belanglos halten. Er behandelt kein wichtiges politisches oder soziales Thema, sondern ist einfach nur eine Liebesgeschichte mit Musik und Tanz. Aber hey – sind es nicht die banalen Dinge wie Musik und Tanz und ist es nicht das große, allumfassende Gefühl der Liebe, was uns Menschen schließlich ausmacht? „La La Land“ wird bei den Oscars durchmarschieren, und das passt schon so.


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Constantin)

20,000 Days on Earth (2014)

Regie: Jane Pollard und Iain Forsyth
Original-Titel: 20,000 Days on Earth
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: 20,000 Days on Earth


Ich bin kein ausgewiesener Fan von Nick Cave & The Bad Seeds. Ich mag die Musik, aber es ist nicht so, dass der melancholische Australier bei mir in der Dauerschleife läuft. Dennoch: Als der Film 2014 auf der Viennale gezeigt wurde, war mir klar, dass ich den sehen muss. Denn der Ansatz dieser Dokumentation ist speziell: Jane Pollard und Iain Forsyth zeigen in enger Zusammenarbeit mit Nick Cave den (fiktiven) 20.000sten Tag seines Lebens. Nick Cave ist real, der Tag ist es nicht, und dennoch entsteht auf diese Weise durch ein wahrlich poetisches Konzept ein Blick hinter die Kulissen, der den Künstler als Mann zeigt, als Familienmensch, verletzlich, kreativ, reflektiv. Nick Cave ist ein Entdecker, ein Erforscher der menschlichen Seele. Alte Weggefährten wie Blixa Bargeld oder Kylie Minogue tauchen auf, fahren kurz mit ihm im Auto mit und lassen die gemeinsame Zeit im Guten wie im Schlechten Revue passieren. Manche Erinnerungen tun auch weh, aber es wird nichts ausgespart. Was am Ende bleibt, ist das Porträt eines vielseitigen Suchenden, der nie aufgehört hat, seinem Herz zu folgen, auch wenn es ihn in die tiefsten Abgründe gezogen hat. Und dazu gibt es großartige, mitreißende Musik. Poesie in Wort, Bild und Klang.


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Stadtkino)

Das blaue Zimmer (2014)

Regie: Mathieu Amalric
Original-Titel: Le Chambre Bleue
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Drama, Erotik, Krimi
IMDB-Link: Le Chambre Bleue


Ah, ein französischer Film: Es wird zu Violinen gevögelt, es gibt Close-Ups von nackten Schenkeln in schummrigem Licht, und man wirft sich bedeutungsvolle Blicke zu, ehe man eben jene in die Ferne schweifen lässt und seufzt: „Abe isch abe sie geliebt“. Mathieu Amalric, Bond-Bösewicht und Locked-In-Patient in „Schmetterling und Taucherglocke“, übernimmt hier nicht nur die Hauptrolle, sondern auch die Regie und sich selbst. „Le Chambre Bleue“ will dramatisches, prickelndes, aufregendes Kino sein. Es geht um eine ungesunde Affäre (nicht nur, weil die Herzensdame dem untreuen Seitenspringer gerne mal die Lippen blutig beißt), in die ein Krimi gestrickt wird, der von Motiven der Leidenschaft (man darf sich das Wort mit französischem Akzent ausgesprochen denken) erzählt und mit viel nackter Haut gewürzt ist. Das Problematische bei solchen Erotik-Thrillern und -Krimis und -Dramen und dergleichen ist, dass es heutzutage echt niemanden mehr schockiert, wenn mal Nippel zu sehen sind – aber die Filme tun gerne so, als würde es tatsächlich noch einen Unterschied machen, und Sex wäre nichts allzu Menschliches, sondern etwas Ungeheuerliches. Gut, die Resi-Tant‘ wird vielleicht beim Anblick des Koitus damenhaft erröten, den Kopf schütteln, irgendwas murmeln von wegen „früher hätt’s des net geben“ – und dann trotzdem gebannt das Popcorn in sich hineinschieben – aber hey, ich habe „Love 3D“ von Gaspar Noé auf der riesigen Gartenbaukino-Leinwand gesehen, was wollt ihr noch? Amalric verdreht in der Ekstase der Lust die Augen? Ja, eh. Ein bisserl weniger Bettlakenwühlerei, ein bisschen raffinierte Psychologie, und es hätte ein guter Film werden können. So bleibt im Zeugnis stehen: „Er hat sich stets bemüht.“


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)