Viennale

Sweet Country (2017)

Regie: Warwick Thornton
Original-Titel: Sweet Country
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Western, Krimi
IMDB-Link: Sweet Country


Das australische Outback in den 20er Jahren. Kein angenehmer Ort. Vor allem nicht, wenn man den Aborigines angehört. Diese werden als Sklaven gehalten. Eine Ausnahme ist hierbei Sam mit seiner Ehefrau Lizzie und seiner Nichte Lucy. Sie leben auf der Farm des Predigers Fred Smith, der sie als gleichberechtigt betrachtet. Nützt ihnen aber auch nichts, als Fred Smith eines Tages in die Stadt muss, und durch eine Verkettung unglücklicher Umstände der rassistische Trunkenbold Harry Marsh, der gerade in die Gegend gezogen ist, einen entlaufenen Aborigines-Jungen bei Sam vermutet und diesen attackiert. Sam hat keine andere Wahl, um sich und seine Frau zu schützen – er erschießt Harry Marsh. Sofort machen sich Sam und Lizzie auf die Flucht ins Outback. „Warum?“, wird er später gefragt werden. „I shot a Whitefella.“ Und damit ist für alle Beteiligten die Schuldfrage ausreichend geklärt. Ein Schwarzer hat einen Weißen erschossen, der Schwarze muss hängen. So sieht das auch der Sergeant der Stadt, der sich dem flüchtigen Ehepaar auf die Fersen heftet. „Sweet Country“ ist eine Mischung aus „12 Years a Slave“, „Quigley, der Australier“ und klassischen Western. Gegen Ende wird er auch noch zum Justizdrama. Nur von einer Australien-Romantik a la „Crocodile Dundee“ ist hier aber weit und breit nichts zu sehen. Das Land ist so unfreundlich wie die Herzen der Männer, die es bevölkern. Und kaum vermeint man einen Hoffnungsschimmer am Horizont zu erkennen, macht der Film wieder eine Wendung hin zum Schlechten. Dabei überdramatisiert der Film sein Thema allerdings nicht. Im Gegenteil. „Sweet Western“ wird sehr nüchtern und zurückhaltend erzählt – manchmal an der Grenze zur Langatmigkeit. Vielleicht hätte man ihn tatsächlich an der einen oder anderen Stelle straffen können, aber im Großen und Ganzen ist er sehr gut gelungen. Dass dermaßen viele ambivalente Fragen aufgeworfen und an den Zuseher zurückgeworfen werden, ohne dass sich der Film anmaßt, eine Antwort darauf vorzuschlagen, ist schon große Erzählkunst.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Thimfilm)

Loveless (2017)

Regie: Andrei Petrowitsch Swjaginzew
Original-Titel: Nelyubov
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama
IMDB-Link: Nelyubov


Vor zwei Jahren konnte mich Andrei Petrowitsch Swjaginzew mit seinem Film „Leviathan“ begeistern. Sein nächstes Werk „Nelyubov“ (englischer Verleihtitel auf diversen Festivals: „Loveless“) konnte ich nun im Rahmen der Viennale sichten – und ich wurde nicht enttäuscht. Swjaginzew erzählt die Geschichte einer Scheidung. Mann und Frau haben sich nicht nur einander entfremdet (und sind mittlerweile in neuen Beziehungen), sondern haben auch einen tiefen Hass aufeinander entwickelt. Ausbaden muss das der zwölfjährige Sohn Aljoscha, der eines Abends unfreiwillig Ohrenzeuge davon wird, wie die Eltern davon reden, ihn in ein Internat zu stecken, da keiner der beiden das Sorgerecht übernehmen möchte bzw. jeder den Anderen dafür in der Pflicht sieht. Am Tag darauf ist Aljoscha weg – was allerdings erst noch einen Tag später auffällt, da sowohl die Mutter als auch der Vater bei ihren neuen Geliebten waren. Anfangs wird der Fall des Ausreißers noch von den Behörden belächelt, doch als sich auch mehrere Tage später keine Spur von Aljoscha finden lässt, wird schließlich eine groß angelegte Suchaktion eingeleitet. Der Film konzentriert sich zum größten Teil auf diese Suchaktion und wie sich diese auf das Leben der beiden Eltern auswirkt, die zunächst gleichgültig wirken, dann panisch, und dann tauchen allmählich die Schuldgefühle auf. „Nelyubov“ erzählt seine Geschichte von Lieblosigkeit und Kaltherzigkeit sehr indirekt, aber nichtsdestotrotz packend und verstörend. Eine Familie geht zugrunde, doch die blutenden Wunden fühlen weniger die Figuren als der Zuseher selbst.


7,5
von 10 Kürbissen

 

A Man of Integrity (2017)

Regie: Mohammad Rasulof
Original-Titel: Lerd
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama
IMDB-Link: Lerd


„Entweder bist du der Unterdrückte, oder du bist der Unterdrücker.“ Dieser Satz, der irgendwann in der Mitte des iranischen Dramas „Lerd“ fällt, fasst die Prämisse des Films sehr gut zusammen. Es geht um einen Goldfischfarmer Reza, der Probleme mit dem örtlichen Konzern hat. Dieser – vertreten durch den windigen Abbas, der auch sonst überall seine Finger im Spiel hat – ist nämlich scharf auf Rezas Grundstück. Und um dieses zu bekommen, wird Reza auch kurzerhand schon mal das Wasser abgedreht. Als er sich eigenmächtig dagegen wehrt, hat er nicht nur den Konzern und seine Schergen am Hals, sondern auch die Justiz – denn wer zahlt, schafft an. Immer enger wird die Schlinge um Rezas Hals, der heillos überschuldet ist und als aufrechter und ehrlicher Mann nicht den Weg gehen möchte, den alle gehen – über Bestechung und Falschaussagen. Er hat es aber schwer als Einziger, der fair spielt in einem Spiel, in dem es sonst nur Falschspieler gibt, und das belastet zunehmend auch sein Familienleben. „Lerd“ erzählt neben der Geschichte von Korruption und Unterdrückung in einem unfreien Land auch die Geschichte von persönlicher Moral, und wie diese angesichts der Umstände und der Repressalien, denen man sich durch die unterdrückenden Mächtigen ausgesetzt sieht, zu bröckeln beginnt. „Lerd“ ist damit gleichzeitig ein politischer wie auch humanistischer Film, denn die Werte des zwischenmenschlichen Zusammenlebens werden hier hart auf die Probe gestellt. Leider weist der Film über zwei Drittel seiner Laufzeit zwar einen interessanten Plot auf, ist aber dermaßen unspektakulär und subtil erzählt, dass es schon ein bisschen Mühe kostet, der Handlung zu folgen. Im letzten Drittel allerdings dreht der Film allerdings auf, gemeinsam mit seiner Figur Reza, und findet ein starkes und erschütterndes Abschlussbild für den Kampf des aufrechten Mannes um seine Würde. Ein guter, ein wichtiger Film. Allerdings braucht man etwas Geduld dafür.


6,5
von 10 Kürbissen

Raw (2016)

Regie: Julia Ducournau
Original-Titel: Grave
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Horror
IMDB-Link: Grave


Als „Raw“ 2016 in Toronto auf dem Filmfestival gezeigt wurde, fielen einige Zuseher in Ohnmacht und mussten medizinisch versorgt werden. Das Stadtkino-Publikum gestern hatte stärkere Mägen, und die Reaktionen auf den Film beschränkten sich auf entsetztes Aufstöhnen, gefolgt von hysterischem Gelächter. Aber die Reaktionen in beiden Fällen zeigen: „Raw“ ist heftig und bricht Tabus. Der Film handelt von der jungen Vegetarierin Justine, die an der Universität, auf der auch schon ihre ältere Schwester eingeschrieben ist, das Studium der Veterinärmedizin aufnimmt. Dabei muss sie mühsame und seltsame Initiationsriten durchlaufen – was darin gipfelt, dass sie als Vegetarierin rohe Hasennieren essen muss. Ihre Schwester nötigt sie dazu und enthüllt dadurch, dass sie selbst keine Vegetarierin mehr ist. Justines Reaktion auf das ungewohnte Fleisch fällt heftig aus: Sie bekommt überall am Körper einen juckenden Ausschlag. Und sie entwickelt seltsame Gelüste – auf Fleisch. Dieser Hunger lässt sich nur schwer stillen, wie sie herausfindet. Bald reicht ihr der Hamburger nicht mehr, und sie beißt in das rohe Putenfilet. Und als bei einem Unfall ihre Schwester einen Finger verliert, erweist sich dieser als schmackhaft wie ein Hühnerhaxen. Die Büchse der Pandora ist damit endgültig offen. „Raw“ ist eine etwas andere Coming of Age-Geschichte. Hinter dem Topos des Horrorfilms verbirgt sich nämlich die Frage nach verborgenen (und verbotenen) Gelüsten und Selbstkontrolle. Der Film taucht damit tief in die menschliche Natur ein. Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn alle Menschen einfach nur ihren Trieben und Gelüsten nachgeben würden? In Extremsituationen sieht man oft, wie die gesellschaftlich konstituierte Schranke, die unsere niederen Triebe zurückhält, eingerissen wird. „Raw“ macht im Grunde das Gleiche – nur auf eine drastischere Weise, nämlich losgelöst von der Extremsituation, ins Symbolhafte gedreht und projiziert auf eine absolute Sympathieträgerin, denn die nerdige, fleißige, unschuldige und hübsche Studentin, die Tierärztin werden möchte, ist jene Figur, die man am weitesten entfernt von solchen extremen Gelüsten glaubt. Das macht es umso unangenehmer, wenn sie gierig das aus dem Fingerstumpen ihrer Schwester tropfende Blut aufleckt. Fazit: Nur etwas für Saumägen.


7,0
von 10 Kürbissen

Last Flag Flying (2017)

Regie: Richard Linklater
Original-Titel: Last Flag Flying
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Roadmovie, Komödie
IMDB-Link: Last Flag Flying


Dezember 2003. Der zurückhaltende „Doc“ Larry Shepherd (Steve Carell) taucht in Sal Nealons (Bryan Cranston) Bar auf. Die beiden kennen sich aus Vietnam, waren dort Freunde und haben gemeinsam gekämpft. Der Grund für dieses Zusammentreffen nach Jahrzehnten ist aber ein trauriger. Nachdem Doc seine Frau an Krebs verloren hat, wurde sein einziger Sohn in Vietnam erschossen. Nun bittet Doc seinen alten Gefährten – und auch einen weiteren Freund von damals, Richard Mueller (Laurence Fishburne), der in der Zwischenzeit zu Gott gefunden hat und Pastor einer kleinen Gemeinde ist – ihn zu begleiten und den Leichnam seines Sohns in Empfang zu nehmen und zu beerdigen. Da Doc allerdings ein ziviles Begräbnis für seinen Sohn wünscht und kein Ehrenbegräbnis am Militär-Friedhof von Arlington, wie es eigentlich vorgesehen wäre, wird die Fahrt bald zu einer Überführung des toten Sohnes in die Heimat – mit diversen Hindernissen. Auf dem Weg kommen sich die alten Gefährten, die sich fremd geworden sind, wieder näher, und gemeinsam reflektieren sie über die Vergangenheit und auch die Frage von Schuld und Unschuld – Themen, die angesichts des toten Jungen wieder präsent werden.

Linklaters „Last Flag Flying“ ist die meiste Zeit über eine stille, pietätvolle Dramödie, wobei Bryan Cranston als trinkfreudiger Lebemann Sal für die humorvollen Momente sorgt, während sich im Gesicht von Steve Carell (unglaublich gut und meiner Meinung nach Oscar-würdig) das Drama abspielt. Laurence Fishburne steht zwischen den beiden Polen. Diesem Trio mit der gemeinsamen Geschichte sieht man sehr gerne zu, und wie eigentlich immer bei Linklater ist der Blick auf die Figuren ein sehr ehrlicher. Allerdings kann man das Grundthema des Films selbst, diesen ganze Ehren- und Patriotismuszeug, nur mit einem anthropologischen Blick betrachten. Zu fremd ist mir dieses „Sterben für das Heimatland“-Thema, als dass ich dazu einen Bezug aufbauen könnte. Dabei bezieht der Film durchaus an der einen oder anderen Stelle eine kritische Position, wenn nach dem Sinn des Vergeudens von Leben gefragt wird und man darauf keine Antwort findet – nur hält der Film diese Haltung leider nicht bis zum Schluss durch. Insofern ist „Last Flag Flying“ ein zutiefst amerikanischer Film, der dort wohl auch besser funktionieren wird als hier bei uns. Erfreuen kann man sich aber an den großartigen Darstellerleistungen.


6,5
von 10 Kürbissen

Mein Stern (2001)

Regie: Valeska Grisebach
Original-Titel: Mein Stern
Erscheinungsjahr: 2001
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Mein Stern


Auf Valeska Grisebach bin ich zuletzt aufmerksam geworden dank ihres grandiosen Films „Western„, der bei uns in Wien im November einen Kinostart bekommt. Dass die Viennale im Rahmen einer Werkschau ihre drei Filme zeigt, hat es mir ermöglicht, ihren Debütfilm „Mein Stern“ zu sichten, ihre Abschlussarbeit im Rahmen des Studiums an der Filmakademie in Wien. Und auch wenn man dem Film sein geringes Budget anmerkt und eben auch, dass die Regisseurin erst ganz am Anfang ihrer Karriere stand, so zeigt „Mein Stern“ schon ganz besondere Qualitäten, die ich auch in „Western“ bewundert habe. Die Story ist wirklich simpel und spielt in Berlin. Die 14jährige Nicole verliebt sich in den gleichaltrigen Christopher, genannt „Schöpsi“. Die beiden erleben eine Beziehung mit Höhen und Tiefen – und entwickeln sich damit weiter aus ihrer Kindheit heraus in Richtung Erwachsenenleben. Dabei sind sie zum Teil sehr unbeholfen. Ihre Emotionen finden oft keinen anderen Ausdruck als in ihren Gesichtern, wenn sie sich fragend, hoffend, fassungslos ansehen, unfähig, die Gefühle, die gerade aus ihrem Brustkorb drängen, in Worte zu kleiden. Gleichzeitig brennt bei beiden der Wunsch nach Zusammengehörigkeit, nach Vertrautheit, nach der großen Liebe. Grisebach findet dafür einen sehr authentischen Zugang, und geht als Regisseurin völlig auf in dem Umfeld, das sie zeigt. (Ähnliches ist mir auch bei „Western“ positiv aufgefallen: Grisebach zeigt die einsame Welt der Bauarbeiter auf eine ehrliche und empathische und so real anmutende Weise, dass man als Zuseher vergisst, dass der Film nicht von einem wortkarten, 50jährigen Bauarbeiter gedreht wurde. Auf ihre Weise ist Grisebach damit ein Gegenpol zu den von mir ebenfalls heiß geliebten Coen-Brüdern, deren Filmen man immer eine typische Coen’sche Haltung oder ihren Humor entnehmen kann, die Filme verweisen also auf ihre Macher, während Grisebach selbst völlig zurücktritt und unsichtbar wird.) „Mein Stern“ und „Western“ weisen zudem Parallelen auf in der Art und Weise, wie Kommunikation die Erfüllung des Zugehörigkeitswunsches erschwert. Bei „Western“ sind es Sprachbarrieren, die den Aufbau von Vertrautheit verkomplizieren, bei „Mein Stern“ ist es mangelnde Gesprächserfahrung der jungen Figuren, die auf Phrasen, die sie irgendwo einmal aufgeschnappt haben, zurückgreifen müssen – oder eben gänzlich verstummen. So zeigt sich auch schon beim Debütfilm das Thema, das Grisebach auch 16 Jahre später noch beschäftigen soll. Und die Umsetzung des Themas ist auch schon beim Debütfilm mehr als gelungen. Ab jetzt bin ich endgültig Grisebach-Fan.


7,0
von 10 Kürbissen

Marvin (2017)

Regie: Anne Fontaine
Original-Titel: Marvin
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama
IMDB-Link: Marvin


(Disclaimer: Beim Betrachten dieses Films hatte der Rezensent nach einer Nacht (bzw. einem Vormittag) mit nur drei Stunden Schlaf und der Tatsache, dass es sich beim Screening von Anne Fontaines „Marvin“ um den bereits dritten Film des Tages, und das um 21 Uhr abends, handelte, ziemlich mit der Müdigkeit zu kämpfen und hat daher wahrscheinlich trotz durchgängig offener Augen die eine oder andere Untertitel-Zeile schlicht verpasst. Diese Review ist also unter erschwerten Bedingungen zustande gekommen. #DieViennaleFordertIhreOpfer)

Marvin kommt aus einem kleinen französischen Dorf und hat heftig zu kämpfen – mit den homophoben Mitschülern, die ihn als verweichlicht betrachten und ihn daher heftig mobben, mit den Eltern, einfache Menschen, die ebenfalls mit ihren Vorurteilen nicht hinterm Berg halten, mit den Geschwistern, die ihn in den Hintergrund drängen. Im Schauspielkurs seiner Schule findet er eine Insel, auf der er diese ganzen Sorgen ein Stück weit loslassen kann. Später als junger Mann besucht er die Schauspielschule in Paris, freundet sich mit anderen Künstlern an, trifft auf Isabelle Huppert, gewinnt sie dafür, in seinem eigenen Stück, das seine Lebensgeschichte erzählt, die weibliche Hauptrolle zu übernehmen. „Marvin“ ist ein sehr klassisches, langsam und figurenzentriert erzähltes Coming of Age-Drama über einen Außenseiter in einer ihm feindlich gesinnten Gesellschaft. Nach und nach erkämpft er sich Akzeptanz. Das ist schön, solche Filme braucht es. Aber warum müssen dann fast alle Nebenfiguren ans Lächerliche grenzende Stereotypen sein? Der dicke, schnauzbärtige, cholerische und chauvinistische Vater? Die sich unterbuttern lassende, devote Mutter? Das schwule Künstlerpaar, die Marvin als einen der ihren aufnehmen? Dadurch, dass hier wirklich jede Nebenfigur in ihrer Ausgestaltung und ihren Handlungen vorhersehbar ist, nimmt sich der Film viele Möglichkeiten – und wird langweilig. Und diese Langeweile ist nicht ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass ich ihn müde gesehen habe, sondern begründet sich eben in dem strukturellen Problem, dass Marvin, die Hauptfigur, zwar recht nachvollziehbar gezeichnet ist (auch wenn Vieles in dessen Entwicklung bloße Behauptung bleibt, die nicht mit den entsprechenden Bildern oder Szenen unterfüttert wird), aber alles rund um ihn herum pures Klischee zu sein scheint. Selbst Isabelle Huppert spielt Isabelle Huppert so, wie man sich das Klischee von Isabelle Huppert vorstellt. Immerhin ist der Film konsequent darin.


5,0
von 10 Kürbissen

Battle of the Sexes – Gegen jede Regel (2017)

Regie: Jonathan Dayton und Valerie Faris
Original-Titel: Battle of the Sexes
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Komödie, Sportfilm, Biopic
IMDB-Link: Battle of the Sexes


Der diesjährige Viennale-Überraschungsfilm war „Battle of the Sexes“, was mich sehr gefreut hat, denn diesen Film wollte ich definitiv sehen. Steve Carell und Emma Stone kommen ja, wie man im Vorfeld vor der Veröffentlichung des Films gehört hat, durchaus wieder für Oscarnominierungen in Frage mit ihren Darstellungen von Billie Jean King und Bobby Riggs, die Anfang der 70er im Tennis-Schaukampf „Battle of the Sexes“ gegeneinander angetreten sind. Mitten hinein also in den Kampf um Gleichberechtigung. Gerade sind die weltbeste Tennisspielerin Billie Jean King und einige ihrer Kolleginnen mehr oder weniger unfreiwillig aus der USLTA, der United States Lawn Tennis Association, ausgetreten und haben die WTA, die Women’s Tennis Association, gegründet, da sie für eine Gleichbezahlung von Männern und Frauen im Tennis eingetreten sind, was ihnen vom Verband schlicht verweigert wurde. Mitten in diesen gesellschaftlichen Wandel hinein platzt Bobby Riggs, ehemaliger Tennisprofi, der Wimbledon und die US Open gewonnen hat, allerdings nun im Alter von 55 Jahren schwer spielsüchtig ist und eine ungewöhnliche Wette vorschlägt: Ein Tennismatch Mann gegen Frau, oder, wie er es bezeichnet, männliches Chauvinisten-Schwein gegen weibliche Emanze. Bobby Riggs ist vor allem eins: Ein Show-Man, der seine Chance auf ein großes Publikum und das ganz große Geld wittert. Zunächst steigt Billie Jean King, die gerade auch persönlich einiges an verwirrender Veränderung durchläuft, als sie die attraktive Friseurin Marilyn kennenlernt, zu der sie sich – Ehemann Larry hin oder her – sehr hingezogen fühlt, auf Bobbys Vorschlag nicht ein. Sie weiß, dass die Öffentlichkeit, wenn sie verliert, ihren Kampf um Gleichberechtigung ins Lächerliche ziehen wird. Ihre Kollegin Margaret Court hingegen, die sie als Nummer 1 der Tenniswelt ablöst, hat hier allerdings keine Berührungsängste und stellt sich Bobby Riggs – mit fatalen Folgen, als er sie vernichtend schlägt. Nun ist doch Billie Jean King wieder gefordert, und sie nimmt den Kampf an.

„Battle of the Sexes“ ist unglaublicherweise heute fast relevanter denn je. Der Kampf um Gleichberechtigung, sei es um die Gleichberechtigung der Geschlechter, der sexuellen Ausrichtung, der ethnischen Herkunft, des Glaubens – all das wird in den Zeiten, in denen Populisten das Steuer übernehmen, neu ausgefochten. Der Film von Jonathan Dayton und Valerie Faris, der in anderen Zeiten vielleicht nicht mehr gewesen wäre als eine nette, harmlose Sportkomödie, die halt auf wahren Begebenheiten beruht, erhält so plötzlich eine große gesellschaftliche Relevanz und ist auch als Kommentar auf die Fehlentwicklungen der letzten Jahre zu sehen. Wenn man allerdings nur den Film für sich betrachtet, dann ist „Battle of the Sexes“ halt eben nur diese routinierte, solide Sportkomödie, gut gemacht und sehenswert, allerdings abgesehen von den darstellerischen Leistungen von Emma Stone und Steve Carell nirgends wirklich überdurchschnittlich. Vielleicht hätte dem wichtigen Thema ein etwas seriöserer Film gut getan – allerdings hat natürlich die Figur des Bobby Riggs, der sich selbst nicht ernst genommen hat, dazu eingeladen, eine leichte Komödie daraus zu basteln.


6,5
von 10 Kürbissen

Daphne (2017)

Regie: Peter Mackie Burns
Original-Titel: Daphne
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Daphne


Daphne, großartig gespielt von Emily Beecham, ist eine junge Frau, 31 Jahre alt, in London, wo sie in einer kleinen Wohnung mit ihrer Schlange wohnt, als Köchin arbeitet und niemanden so richtig an sich heranlässt. Sie ist nicht unzugänglich oder verschlossen, nur etwas eigenbrötlerisch und zynisch. Mit ihrer Mutter, die sie im Handy als „Mothership“ eingespeichert hat, hat sie eine fragile und eher distanzierte Beziehung, auch weil sie die Krebserkrankung ihrer Mutter, die damit recht locker umgeht, nicht wirklich verkraftet. Männer spielen in ihrem Leben eigentlich nur als Gebrauchsgegenstand eine Rolle. Sie ist nicht unfreundlich oder gar asozial, sondern eben nur eine junge, toughe Frau, die Emotionen nicht wirklich an sich heranlässt. Da wird sie eines Nachts Zeugin eines Überfalls auf einen kleinen Laden, und im Zuge dessen wird der Besitzer niedergestochen. Daphne hilft ihm, er wird abtransportiert, und das Leben geht für sie normal weiter. Schnell versucht sie, diesen Vorfall abzulegen und sich nicht weiter damit zu beschäftigen. Doch muss sie bald merken, dass manche Ereignisse nicht so leicht abzuschütteln sind, dass sie Spuren hinterlassen und uns verändern. Das ist die Geschichte, die Peter Mackie Burns‘ Film „Daphne“ unaufgeregt und mit viel Sympathie für seine Hauptfigur erzählt. Psychologisch ist das alles auch schlüssig und gut geschrieben. Die Veränderungen zeigen sich im Kleinen, im fast Mikroskopischen, an der Art beispielsweise, wie Daphne blickt, oder wenn sie einen jungen Mann anruft, der ihr seine Nummer aufgedrängt hat, und den sie, obwohl sie ihn anziehend und nett findet, wohl vor dem Ereignis noch links liegen gelassen hätte. Allerdings bleibt „Daphne“ dadurch als Film auch ein wenig unverbindlich. Gut gemacht und gut gespielt, auch sehr sympathisch und damit sehenswert, allerdings nichts, was wohl dauerhaft im Gedächtnis bleibt und den Zuseher noch lange beschäftigt. Dazu ist die Geschichte am Ende dann doch etwas zu alltäglich.


6,5
von 10 Kürbissen

The Florida Project (2017)

Regie: Sean Baker
Original-Titel: The Florida Project
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: The Florida Project


In Sichtweise zu Disney World in Orlando stehen einige recht billige, in knallbunten Farben angemalte Motels, die als Ausweichstelle für Touristen dienen, wenn die Hotels ausgebucht sind, und in denen aber auch sozial schwache Familien leben, wie die junge, alleinerziehende Mutter Halley mit ihrer sechsjährigen Tochter Moonee. Moonee ist eine Naturgewalt. Mit ihren Freunden Scooty, Dicky und der neu gewonnenen Freundin Jancey verbringt sie die Sommerferien hauptsächlich damit, Unfug anzustellen. Da gibt es schon mal einen Weitspuckwettbewerb von der Brüstung auf die parkenden Autos. Oder man schleicht sich in den Geräteraum und kappt den Strom, was die ganze Anlage in helle Aufregung versetzt und den Manager Bobby (Willem Dafoe mit einer der besten Leistungen seiner Karriere) ins Schwitzen bringt. Überhaupt Bobby: Der grummelige und pflichtbewusste Mann, der hier für Ordnung sorgen soll – was ihm angesichts des Energielevels der Kinder mehr schlecht als recht gelingt – hat sein Herz am rechten Fleck und versucht, den Mietern im Rahmen seiner Möglichkeiten beizustehen. Und da gibt es einiges zu tun, denn wie sich allmählich aus dem Film herausschält, hat Moonees Mutter gröbere Probleme. Sie hat ihren Job verloren, ist auf die Ausspeisung der Kirche angewiesen und chronisch pleite. Dazu ist sie selbst ein halbes Kind – und ihr Ansatz der Kindererziehung besteht darin, jede Kinderei einfach mitzumachen und selbst keine Verantwortung zu übernehmen. Dabei merkt man aber gleichzeitig, wie viel Liebe sie für ihre Tochter empfindet – nur ist sie eben völlig überfordert. Das alles wird aus der Sicht der Kinder erzählt, die trotz allem eine Zeit der Unschuld und des Vergnügens genießen – dank der Illusionen, die sie sich mittels ihrer kindlichen Fantasie bauen können. Wenn sie sich keinen Urlaub leisten können, muss halt der Besuch der Rinderweide als Safari herhalten. „The Florida Project“ ist lebensbejahend und bunt und witzig und unschuldig und voller Optimismus, und dahinter verbirgt sich ein Drama, das zu Herzen geht, dessen Auswirkungen Moonee wohl erst als Jugendliche oder Erwachsene spüren wird. Ganz großes Kino – ein Highlight nicht nur der diesjährigen Viennale, sondern des gesamten Filmjahrs.


9,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Thimfilm)