Locarno 2019

The Last Black Man in San Francisco (2019)

Regie: Joe Talbot
Original-Titel: The Last Black Man in San Francisco
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: The Last Black Man in San Francisco


Da ist es nun, das erste absolute Glanzlicht des Locarno Filmfestivals: Joe Talbots eindringliches Debüt „The Last Black Man in San Francisco“. Ein poetischer, stellenweise witziger und (mir fällt kein anderes Wort ein) herzlicher Film über eine Freundschaft und dem Versuch, die eigenen Wurzeln zu bewahren, in dem aber zwischen den Zeilen noch so viel mehr gepackt ist. Jimmy Fails (auch im richtigen Leben Jimmy Fails) spielt dabei einen jungen Schwarzen, der mangels Alternativen bei seinem besten Freund Montgomery (Jonathan Majors) und dessen Großvater (Danny Glover) lebt. Regelmäßig fährt er vom Vorort in die Innenstadt, um ein altes Haus zu reparieren und auszubessern – sehr zum Missfallen der Besitzerin. Was die jedoch nicht weiß: Das Haus ist jenes, in dem Jimmy seine Kindheit verbracht hat und das von seinem Großvater selbst gebaut wurde. Eines Tages muss die Besitzerin aufgrund eines Erbschaftsstreits ausziehen, und Jimmy packt die Gelegenheit beim Schopf und zieht mit Montgomery in das leerstehende Haus ein. „The Last Black Man in San Francisco“ ist ein zutiefst berührender Film über die Freundschaft zwischen Jimmy und Montgomery und über den Traum von Heimat. Es ist aber auch ein Film über die schleichende Gentrifizierung, über Alltagsrassismus, über den Verlust von Identität, indem man mehr und mehr nach den Vorurteilen der Anderen lebt. Das alles erzählt Joe Talbot aber nicht rational-kühl, sondern mit den Mitteln der Poesie. Seine Kompositionen in warmen Farben, in denen Bild und Musik ineinandergreifen, lassen den Zuseher den Film sinnlich erfassen. In dieser Beziehung ähnelt „The Last Black Man in San Francisco“ dem von mir so heiß geliebten „Beasts of the Southern Wild“ oder auch If Beale Street Could Talk. Vor allem beim Soundtrack musste ich sehr an „Beale Street“ denken.) Dabei geht Talbot mit seinem Film allerdings ganz eigene Wege und schafft etwas sehr Eigenständiges, Individuelles. Für mich schon ein klarer Kandidat für einige Oscarnominierungen nächstes Jahr. Ich würde es dem Film von Herzen gönnen.


8,5
von 10 Kürbissen

Aus dem Osten (1993)

Regie: Chantal Akerman
Original-Titel: D’Est
Erscheinungsjahr: 1993
Genre: Dokumentation, Experimentalfilm
IMDB-Link: D’Est


Anfang der 90er fährt Chantal Akerman nach Russland, um Leute anzuschauen. Und das ist dann auch schon der ganze Film. Seitwärts patrouilliert die Kamera Straßen entlang, um Menschen, die (zumeist mit ausdruckslosem Gesicht) herumstehen, abzufilmen. Kaum jemand spricht, kaum jemand geht – es wirkt so, als hätte Akerman in Moskau die frühe Version von Flashmobs gefunden, zu denen sich an beliebigen Orten im Winter Leute zusammenfinden, um pelzmützenbewehrt auf etwas zu warten, was dann doch nicht kommt. Das Ganze ist ja für eine Weile recht lustig anzusehen, und man beginnt darüber zu sinnieren, dass irgendeine Firma in Russland wohl den großen Reibach mit Pelzmützen gemacht hat, denn die sehen tatsächlich alle gleich aus. Aber dann wandern die Gedanken langsam ab, von Pelzmützen zu Einkaufslisten, zu der Freundin, die zuhause in Wien sitzt, während man selbst in Locarno auf Pelzmützen im Moskauer Winter starrt, zu der Frage, ob man sich zu Abend eine Pizza gönnen soll oder lieber nicht, um irgendwann doch wieder zum Film zurückzukehren – nämlich der spannenden Frage, ob die Damen und Herren, die da abgefilmt wurden, ihre eigenen Pelzmützen mitgebracht haben oder ob die von der Produktionsfirma gestellt wurden – quasi der Obolus für das Mitwirken am Film. Ein paar Reihen weiter hinten schnarcht ein Zuseher friedlich vor sich hin, wer noch die Kraft hat, hievt sich aus dem Sessel und schleppt sich aus dem Saal, und nein, ich hatte zu Abend keine Pizza mehr, sondern eine Minestrone und danach ein Glas Montepulciano d’Abbruzzo. Und im Gegensatz zum Film war dieser vorzüglich.


2,0
von 10 Kürbissen

Instinct (2019)

Regie: Halina Reijn
Original-Titel: Instinct
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Thriller, Drama
IMDB-Link: Instinct


Instinkte sind schon etwas Nützliches. Man sollte nur darauf hören. Diese Erfahrung macht Psychologin Nicoline (Carice van Houten, die Zauberkünste aus Game of Thrones hätte ihre Figur brauchen können), die sich um die Wiedereingliederung verurteilter Sexualstraftäter kümmert und in dem manipulativen Idris (Marwan Kenzari) einen interessanten Fall hat. Und natürlich – der charismatische junge Mann erregt nicht nur ihre Aufmerksamkeit, sondern auch bald schon ihre Libido. Ein gefährliches Spiel beginnt, wobei nicht immer klar ist, wer mit wem spielt. Das Thema selbst ist natürlich ein alter Hut. Und dem kann „Instinct“ von Halina Reijn auf nichts Neues hinzufügen, auch wenn er knackig inszeniert ist und in keinem Moment langweilt. Allerdings kann Reijn einer starken Besetzung, jedenfalls in den Hauptrollen, vertrauen. Carice van Houten legt sowohl Stärke als auch Verletzlichkeit (und gelegentliche Hinweise auf frühere Verwundungen) in ihre Figur. Doch auch wenn ihre Nicoline das emotionale Zentrum des Films ist, so ist es doch Marwan Kenzari zu verdanken, dass er funktioniert. Sein Idris ist betörend, sexy, geheimnisvoll, vieldimensional und dabei doch zutiefst nachvollziehbar. Es gibt sie schließlich wirklich da draußen, die Menschen, bei denen die Instinkte versagen, da sie sich nicht greifen lassen. Oder bei denen man wider besserer Instinkte handelt. So ist aus „Instinct“ zwar ein relativ gewöhnlicher, nicht sonderlich origineller Thriller geworden, aber sehenswert ist der Film allemal.


6,5
von 10 Kürbissen

The Tree House (2019)

Regie: Minh Quy Truong
Original-Titel: Nhà Cây
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Nhà Cây


Im Jahr 2045 befindet sich ein einsamer Vietnamese auf dem Mars. Als Erinnerung an die Erde hat er eine Kamera und Kassetten dabei. Damit versucht er, die Einsamkeit zu überbrücken und das Gedächtnis an die Menschen, mit denen er gelebt hat, zu pflegen. Soweit die nicht uninteressante Ausgangsbasis von Minh Quy Truongs inszeniertem Dokumentarfilm, denn ums Erinnern geht es. Und um das Ursprüngliche im Menschen und im Leben. In losen Monologen erzählen Menschen von ihrer Kindheit. Diese Erzählungen werden mit grobkörnigen Bildern unterlegt. Das Aufwachsen fern von jeglicher Zivilisation ist schließlich das, was Minh Quy Truong interessiert. Die Frau, die ihre ersten Lebensjahre mit ihrer Familie in einer Steinhöhle gelebt hat. Der Mann, der 45 Jahre lang allein mit seinem Vater bis zu dessen Tod im Wald gelebt hat. Außenseiter von Außenseitervölkern, deren Erzählungen uns so fremd sind und in denen doch das Urmenschliche durchklingt, was wir selbst vielleicht schon zur Gänze verloren haben, aber an das wir uns erinnern als kollektiver Bestandteil unserer Herkunft. Allerdings hat „The Tree House“ ein gewaltiges Problem: Er ist zäh wie Strudelteig, denn die Erinnerungen und Sequenzen und Montagen mögen – auch wenn sie per se interessant sind – nicht zueinander finden. Und so bekommt man Stück für Stück für Stück vorgesetzt, und alles sieht irgendwie gleich aus, keinerlei Entwicklung ist zu spüren. Der Film läuft ins Leere. Und vielleicht ist das ja auch so mit den Erinnerungen – auch sie haben keinen Anfang und kein Ende. Formal mag Minh Quy Truongs Film damit durchaus gut gemacht sein, aber wenn man bereits nach einer halben Stunde die Aufmerksamkeit seines Publikums verliert, die dann nur gelegentlich bei einzelnen gelungenen Sequenzen aufploppt, dann hat man halt nicht alles richtig gemacht. Sondern einen faden Film gedreht.


3,5
von 10 Kürbissen

Wonders in the Suburbs (2019)

Regie: Jeanne Balibar
Original-Titel: Merveilles à Montfermeil
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Satire, Politfilm, Komödie
IMDB-Link: Merveilles à Montfermeil


Wow! Da hat man so einen Cast beisammen (neben Regisseurin und Darstellerin Jeanne Balibar selbst Emmanuelle Béart, Mathieu Amalric, Ramzy Bedia uvm.) und fährt das Ding dermaßen an die Wand, dass nicht einmal verwertbare Brösel übrigbleiben. Voilà, Mesdames et Messieurs, das ist „Merveilles á Montfermeil“ oder was die Franzosen unter politischer Satire verstehen. Hysterie. Gekreische. Völlig unlustiges Massensummen. Noch unlustigere Gags mit der Garderobe. Hektik. Noch mehr Hysterie und Gekreische. Second Live-Avatare, die miteinander kopulieren. Frauen in Marshmallowman-Kostümen. HYSTERIE! GEKREISCHE! Die Story ist eigentlich wurscht, denn sie ist quasi nichtexistent. Jede Menge Trubel um die Bürgermeisterin (Emmanuelle Béart) und ihr Team in der Kleinstadt. Jeder will mit jedem ins Bett (womit der geneigte Cineast sofort erkennt, ah, er befindet sich in einem französischen Film), aber wenn es dann mal ernst werden könnte, fangen sie lieber an zu reden oder zu tanzen. Kaum ein anderer Film auf den diversen Festivals, die ich in den letzten Jahren besucht habe, hat so konsequent den Saal leergespielt wie dieser. Und auch ich war mehrmals knapp dran, mich aus dem Kinosaal zu extrahieren und in eine hübsche Wiese mit Blick auf den Lago Maggiore zu pflanzen. Arg verschwendete Lebenszeit.


1,5
von 10 Kürbissen

Twelve Thousand (2019)

Regie: Nadège Trebal
Original-Titel: Douze mille
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Douze mille


Zugegeben, so einiges an „Douze mille“ von Nadège Trebal kann einem ziemlich auf die Nerven gehen. Zwei Wörter beschreiben den Film aber meiner Meinung nach sehr gut: Originell und lebendig. Das Thema klingt zunächst nach sozialpolitischem Drama. Ein arbeitsloser, sich mit Gaunereien über Wasser haltender Mann zieht los, um so schnell wie möglich 12.000 Euro zu verdienen, um damit gleich viel Geld zu haben wie seine Freundin. Dann nämlich sind sie sich ebenbürtig, und sie können endlich ihr gemeinsames Leben aufnehmen. Ich sehe schon, wie die Dardenne-Brüder bei dieser Synopsis zu sabbern beginnen. Tatsächlich schlägt aber Nadège Trebal, die auch eine der Hauptrollen, nämlich jene von Maroussia, der Frau, übernommen hat, einen gänzlich anderen Weg ein. Passend zu den linkischen Ambitionen des Pleitegeiers Franck (Arieh Worthalter) kommt auch der Film linkisch und mit doppelten Böden daher. Plötzlich wird die Frage der Treue verknüpft mit ökonomischen Überlegungen, der Dieb ruft bei der Firma, die er bestohlen hat, an und fragt nach einem Job, die resche, nihilistische Blondine mit dem rauchenden Sexappeal entpuppt sich als gewitzte Räuberin – Menschen und ihre Taten sind in diesem Film kaum zu durchschauen. Und genau das macht seinen Reiz aus. Selbst die absurdesten Szenen wirken so, als würden sie tatsächlich so aus den Figuren herauskommen, die mit einem Male ein Eigenleben entwickeln. (Was auch der grandiosen Leistung der Darsteller zu verdanken ist.) Dazu passt, dass gleich zu Beginn eine der ehrlichsten Sexszenen der jüngeren Filmgeschichte zu sehen ist – einfach pures Verlangen, das aber auch irgendwie besprochen und koordiniert werden muss. Ehrlich ist auch, dass die Beziehung zwischen Franck und Maroussia auf Sex basiert. Die Liebe ist ja trotzdem da. Insofern bietet der Film ein echtes Abenteuer mit vielen denkwürdigen Szenen, wenn man sich darauf einlässt. Dass nicht jede Idee aufgeht und Vieles auch unverständlich bleibt und nach menschlicher Logik nicht nachvollziehbar ist, ist dabei ein Risiko, dass Nadège Trebal in Kauf genommen hat und mit dem ich selbst auch gut leben kann.


6,5
von 10 Kürbissen

Notre dame (2019)

Regie: Valérie Donzelli
Original-Titel: Notre dame
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Komödie, Liebesfilm, Satire
IMDB-Link: Notre dame


Es wirkt zunächst fast ein wenig seltsam, die Kathedrale von Notre-Dame in Paris zu sehen, wie sie sich bester Gesundheit erfreut, wenn man doch weiß, dass sie vier Monate zuvor gebrannt hat und dieser Tage einen traurigen Eindruck erweckt. Aber so ist das, wenn das Leben die Kunst überholt und vice versa. Den fehlenden Realitätsbezug auf dieser Ebene kann man Valérie Donzelli, die auch gleich die Hauptrolle der angehenden Architektin Maud übernommen hat, jedenfalls nicht anlasten. Sehr wohl aber auf allen anderen Ebenen. Denn der Versuch, originell zu sein, gelingt leider nur in den seltensten Fällen, beschränkt sich eigentlich nur darauf, dass zur Trennung die Beteiligten anfangen, ein trauriges Lied zu singen, was sie nun nie mehr tun werden. Ja, das hat Stil, ist komisch und durch und durch französisch. Aber die Geschichte rund um Maud, die versehentlich und dank etwas Magie einen Architektenwettbewerb über die Neugestaltung des Vorplatzes von Notre-Dame gewinnt, verfällt immer wieder in Kindereien wie zum Beispiel willkürliche Ohrfeigen in der Öffentlichkeit, heftige Ohnmachtsanfälle beim Anblick des Ex-Geliebten und hysterischen Möchtegern-Anwältinnen, die sich beim Anblick eines schönen Mannes nicht mehr halten können und denen, was das eigentliche Kerngebiet der Jurisprudenz betrifft, von eben jenen, juristisch unbeleckten Schönlingen aus der Patsche geholfen werden muss. Vielleicht existiert noch irgendwo ein Dorf, in dem man über so etwas lacht, mir fällt nur im Moment keines ein. Sympathisch sind immerhin die Darstellerinnen und Darsteller, die ihre Sache gut machen – soweit sie halt gegen diese Blödeleien ankämpfen können. Aber am Ende werden vielleicht zwei, drei gute Szenen, in denen der Film ausnahmsweise mal funktioniert hat, in Erinnerung bleiben und das vage Gefühl, dass man viel Potential verschenkt hat durch Hysterie und Volksschulhumor.


4,0
von 10 Kürbissen

Giraffe (2019)

Regie: Anna Sofie Hartmann
Original-Titel: Giraffe
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: Giraffe


Was das Tier, das in der ersten Einstellung so entspannt und fotogen sein Grünzeug kaut, mit dem Film zu tun haben soll, das erschließt sich bis zum Ende nicht. Aber die titelgebende Giraffe ist nicht das einzige Bild, das aus dem Kontext gerissen scheint. Vielmehr ist es Anna Sofie Hartmanns Stil, ihre Geschichte in Momentaufnahmen zu erzählen, die mal mehr, mal weniger zusammenhängen. Es geht um Grenzen – zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen. Erzählt wird die Geschichte der Dänin Dara (Lisa Loven Kongsli), die Menschen und ihre Häuser festhält, ehe sie vom Fortschritt, der als gewaltiges Tunnelprojekt zwischen Dänemark und Deutschland daherkommt, hinweggespült werden. Ihr Interesse gilt dem Bewahren, gilt der Erinnerung. Dabei trifft sie auf den jüngeren polnischen Bauarbeiter Lucek (Jakub Gierszal). Dieser lebt in einer WG mit seiner polnischen Kollegen und bereitet die Baustelle für den Tunnelbau vor. Da beide nur temporär an diesem Ort sind – Dara lebt eigentlich in Berlin, wo sie auch einen Freund hat, Lucek vermisst Polen und ist nur für dieses Projekt hier – lassen sie sich auf eine Affäre ein. Unaufgeregt und in beinahe zufällig wirkenden Bildern überlässt es Regisseurin Hartmann dem Publikum, sich diesen Film zu erarbeiten. Am besten ist der Film, wenn er den polnischen Bauarbeiter folgt, ihrer lockerer Interaktion, in der die Entwurzelung aber stets präsent ist. In diesen Momenten erinnert der Film an den grandiosen Western von Valeska Grisebach. Leider aber hält der Film dieses Niveau nicht durchgängig, und viele Leerstellen führen zur Ermüdung. Eine interessante Erfahrung? Durchaus. Aber keine, die danach schreit, wiederholt werden zu müssen.


5,5
von 10 Kürbissen

The Fever (2019)

Regie: Maya Da-Rin
Original-Titel: A Febre
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: A Febre


Locarno. Die Stadt der omnipräsenten gelben Leoparden. Irgendwie passend, dass mein Auftaktfilm des Festivals der Film „The Fever“ von Maya Da-Rin war, der in Manaus im Amazonasgebiet spielt. Ein Tier schleicht dort umher und reißt Schweine, ein Jaguar vielleicht. Die Probleme des indigenen Justino (Regis Myrupu) sind jedoch anders gelagert. Der nicht mehr ganz gute Mann arbeitet als Sicherheitskraft im Hafen von Manaus und wird von einer unerklärlichen Müdigkeit und einem gelegentlich auftretenden Fieber geplagt. Dass seine Tochter Vanessa (Rosa Peixoto) ein Stipendium für ein Medizinstudium in der weit entfernten Hauptstadt Brasilia bekommen hat, macht ihn zwar stolz, trägt aber zu seinem Kummer bei. Als dann die Verwandtschaft aus dem Dorf in die Stadt kommt und ihm seine Wurzeln vorführen, wird schließlich ein Prozess angestoßen, der sich zwar den ganzen Film lang unterschwellig ankündigt, aber dann in einfacher Klarheit überzeugt. Überhaupt ist Klarheit das bestimmende Merkmal von Maya Da-Rins Regiearbeit. Dieser Film hat kein Gramm Fett zu viel. Gleichzeitig lebt er von den Zwischentönen, vom Ungesagten, wenn Justino beispielsweise nach einem harten Arbeitstag mit dem Teller fürs Abendessen im Türrahmen steht und beim Essen still auf den gewaltigen Regenschauer blickt, der sich über die Stadt ergießt. Hier merkt man eine Sehnsucht nach etwas, das er, Justino, selbst nicht benennen kann. Überhaupt ziehe ich meinen Hut vor Regis Myrupu. So spärlich seine Mimik und Gestik auch sind, es gelingt ihm mit wenigen, sparsam eingesetzten Mitteln zu jedem Zeitpunkt, seinen Justino facettenreich darzustellen. Ein Lächeln genügt, und man blickt tief in die Seele. Ein gelungener Auftakt zu meinem persönlichen Locarno-Abenteuer.


7,5
von 10 Kürbissen

Located in Locarno: Ein Filmkürbis

Meine werten Damen und Herren, der Filmkürbis betritt neues Festivalterritorium. Und zwar wage ich mich zum ersten Mal aus der deutschsprachigen Komfortzone hervor und krame meine tief verschütteten Italienisch-Kenntnisse hervor, wenn ich im August das schöne Tessin besuche. Das Filmfestival in Locarno steht sehr weit oben auf meiner Liste der Festivals, die ich mal besuchen möchte – und dieses Jahr ist es soweit. Soeben habe ich erfahren, dass mein Antrag auf eine Presseakkreditierung durchging. Flüge und Unterkunft habe ich eh schon organisiert (I’m a gambling man), und nun habe ich auch meinen Deckel. Äh … mein Badge. Das Festivalprogramm habe ich schon mal gustiert. Da sind ein paar schmackhafte Filme dabei. Vor allem der Fokus auf Black Cinema im Rahmen einer breit angelegten Retrospektive taugt mir. Ihr werdet hier davon lesen. Am 10. August geht es los.