2023

Die Schneegesellschaft (2023)

Regie: J. A. Bayona
Original-Titel: La sociedad de la nieve
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: La sociedad de la nieve


Die Geschichte ist so unglaublich, dass sie nur wahr sein kann: Anfang der 70er Jahre stürzte eine Rugbymannschaft aus Uruguay auf dem Weg nach Chile über den Anden ab. Auf einem Berggipfel im Nirgendwo gestrandet, ohne Aussicht auf Hilfe oder Rettung, gingen die Überlebenden durch unfassbares Leid und standen vor der schwierigen moralischen Entscheidung, die toten Kameraden zu essen, um zu überleben, ehe sie nach über zwei Monaten im Eis wie durch ein Wunder doch noch geborgen wurden. Noch in den 70ern wurde diese Geschichte unter dem Titel „Überleben!“ verfilmt. J. A. Bayona, der sich mit Das Waisenhaus einen Namen gemacht hatte, ehe er ihn mit Jurassic World: Das gefallene Königreich wieder in den Sand setzte, gelingt nun mit der Neuverfilmung dieses Survival-Dramas ein eindrucksvolles und mittlerweile Oscar-nominiertes Comeback im Regiestuhl. Sein Geheimrezept sieht vor, sich nicht auf den reißerischen Aspekt der Geschichte, besagtes moralische Dilemma, zu konzentrieren, sondern die Gemeinschaft in den Vordergrund zu rücken, den Halt, den sich die jungen Männer in dieser Ausnahmesituation geben, und den schieren Überlebenswillen, der aber nicht niedrigste Instinkte zutage fördert, sondern sich immer noch innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens bewegt. Bayona erzählt diese Geschichte dabei in einem visuell mitreißenden, ultrarealistischem Stil und behält somit Distanz zu dem Geschehen, was angesichts der unglaublichen Ereignisse auch geboten ist, um eben nicht zu reißerisch zu werden. Andererseits birgt diese nachvollziehbare Entscheidung auch eine Schwäche: Mit der Distanz der Geschichte bleiben auch die Figuren distanziert, was den Film vor allem zu Beginn stellenweise doch ein wenig zäh werden lässt. Dennoch Hut ab vor Bayonas Regie und der stimmigen Umsetzung einer wundersamen Geschichte, die sich kein Autor jemals so hätte ausdenken können.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: http://www.imdb.com)

No Hard Feelings (2023)

Regie: Gene Stupnitsky
Original-Titel: No Hard Feelings
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Komödie
IMDB-Link: No Hard Feelings


Jennifer Lawrence ist vielleicht eine der lustigsten Personen in Hollywood, was unzählige Blooper und Interviews beweisen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich in ihrer Vita kaum Komödien befinden. Mit „No Hard Feelings“ landete sie 2023 jedoch einen veritablen Komödien-Hit. Die von ihr gespielte Uber-Fahrerin Maddie Barker hat darin ein kleines Problem: Nämlich kein Auto mehr. Das wurde kurzerhand gepfändet, da sie die Steuern auf ihr Haus nicht zahlen konnte. Für eine Uber-Fahrerin ist das Fehlen eines fahrbaren Untersatzes natürlich suboptimal, und so ergreift sie eine unorthodoxe Maßnahme, um diesen Umstand zu ändern und sich ihr Einkommen zu sichern: Sie reagiert auf die Kleinanzeige der Helikoptereltern Laird und Allison (Matthew Broderick und Laura Benanti), die eine Freundin für ihren introvertierten Mustersohn Percy suchen, ehe dieser aufs College geht. Ohne Erfahrungen mit Sex und Alkohol kann sich dieser dort ja nicht blicken lassen. Maddie ist zwar in einem Alter, in dem sie selbst fast die Mutter des 19jährigen sein könnte, siehe „Teenager werden Mütter“, doch verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen, und so schmeißt sie sich dem schüchternen Kerl an den Hals. Dieser ist von ihren Avancen sichtlich überfordert, und die Mission gestaltet sich schwieriger, als sich dies Maddie ausgemalt hat. Prinzipiell ist „No Hard Feelings“ eine gelungene Komödie: leichtfüßig, leicht schlüpfrig (aber dabei immer noch hollywood-typisch gesittet – von einer höchst amüsanten Ausnahme am Strand abgesehen) und mit einer Jennifer Lawrence in sichtlicher Spiellaune. Allerdings hat der Film ein fundamentales Problem, nämlich Andrew Barth Feldman als Percy bzw. dessen Chemie mit Jennifer Lawrence. Denn diese ist quasi nichtexistent. Und so zündet der Film auch nicht so richtig, wie er eigentlich könnte und sollte. Für eine weitere Golden Globe-Nominierung für Jennifer Lawrence hat’s dennoch gereicht.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: http://www.imdb.com)

Jahresrückblick 2023 – Meine Top30-Filme des Jahres

Seien wir ehrlich: 2023 hätte besser sein können. Abgesehen von geopolitischem Scheißdreck, der in diesem Jahr (erneut) passiert ist, wurde ich persönlich mal wieder daran erinnert, dass Gesundheit das höchste Gut ist – was auch zu einer unfreiwilligen längeren Kinopause führte. Immerhin gab das Kino auf der Habenseite insgesamt ein kräftiges Lebenszeichen von sich – 2023 stand ganz im Zeichen von „Barbenheimer“. Und auch an mir ging dieser Hype nicht vorüber. Gleich vorweg gesagt: Beide Filme führen auch meine Top30-Liste des Jahres an. Generell stand das Filmjahr 2023 bei mir mehr im Zeichen der Qualität als in jenem der Quantität. 204 Filme habe ich im vergangenen Jahr gesehen, davon 108 Erstsichtungen, viele davon ältere Filme, die nicht ins Filmjahr 2023 gehören. In dieses rechne ich wie üblich alle Neuerscheinungen zu, die ich 2023 im Kino gesehen habe, sowie Neuerscheinungen aus dem Jahr 2023 auf Streaminganbietern. Immerhin 56 Filme bleiben nach dieser Filterung noch übrig, die sich für meine Jahreliste qualifizieren (davon 40 Kinobesuche und 16 Streaming-Sichtungen). Einige hochgelobte Filme des Jahres wie zB Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ oder Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ fehlen mir noch, dafür hat es beispielsweise „Avatar: The Way of Water“ oder „Tár“ aus 2022 noch in die Jahresliste 2023 geschafft, da ich den Film erst Anfang 2023 gesehen habe.

Aber hier nun meine Top30 des Jahres 2023:

Platz 1: Barbie von Greta Gerwig – 9,5 Kürbisse
Man kann ja kontrovers darüber diskutieren, aber für mich ist „Barbie“ von Greta Gerwig schlicht ein perfektes Meisterwerk doppelbödiger Unterhaltung. Wenn Blockbuster-Kino immer so witzig, temporeich, hintersinnig und launig aufgebaut ist wie „Barbie“, muss man sich um das Kino generell keine Sorgen machen.

Platz 2: Oppenheimer von Christopher Nolan – 9,0 Kürbisse
„Oppenheimer“ ist ein sperriger Film, aber einer, dessen Faszination man sich kaum entziehen kann. Großes Handwerk mit überragenden darstellerischen Leistungen, intelligent verschachtelt, dabei aber auch nicht zu kompliziert gehalten. Für mich einer von Nolans besten Filmen.

Platz 3: Riddle of Fire von Weston Razooli – 9,0 Kürbisse
Wahrscheinlich ist diese Indie-Perle so ziemlich das Gegenteil des wuchtigen Epos „Oppenheimer“ auf Platz 2. Weston Razooli spinnt hier mit einfachsten Mitteln, aber einer Überdosis Charme ein abenteuerliches Märchen, das pure Liebe ans Geschichtenerzählen ausdrückt.

Platz 4: The Holdovers von Alexander Payne – 9,0 Kürbisse
Alexander Paynes bester Film und Paul Giamattis beste Rolle – und das heißt was, wenn man sich vor Augen hält, dass beide schon kongenial in „Sideways“ zusammengearbeitet haben. Aber Giamatti als zynischer Geschichtslehrer, der in einer Eliteschule über die Weihnachtsferien mit einigen zurückgelassenen Schülern die Stellung halten muss, bietet die Show des Jahres.

Platz 5: Anatomie eines Falls von Justine Triet – 8,5 Kürbisse
Der Cannes-Gewinner dieses Jahres überzeugt mit einer klug aufgebauten, handwerklich herausragend inszenierten Geschichte, aber noch mehr mit Sandra Hüllers Spiel, das ihr nun wohl sämtliche Türen in Hollywood geöffnet haben. Bei aller Liebe für Margot Robbies Barbie, aber der Oscar muss an Hüller gehen.

Platz 6: Tár von Todd Field – 8,5 Kürbisse
Wenn wir schon von schauspielerischen Meisterleistungen sprechen, sei natürlich auch Cate Blanchett erwähnt, die in „Tár“ eine der besten Darstellungen ihrer Karriere abliefert. Todd Fields Film ist unbequem und weit davon entfernt, ein Crowdpleaser zu sein, aber in Inhalt und Aussage ein ganz starkes Stück Kino, das Diskussionen anregt.

Platz 7: All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras – 8,0 Kürbisse
Die einzige Dokumentation in meinen Top30. Neujahrsvorsatz für 2024: Mehr Dokumentationen schauen. „All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura Poitras ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie interessant und mitreißend dokumentarische Filme sein können. Eine Mischung aus Künstlerporträt und Anklage gegen die Reichen und Mächtigen: Ein Must See!

Platz 8: Spider-Man: Across the Spider-Verse von Joaquim Dos Santos, Kemp Powers und Justin K. Thompson – 8,0 Kürbisse
Die animierte Spider-Man-Trilogie ist mit Abstand der bislang beste Beitrag zur Spider-Man-Saga. Nichts gegen Tobey Maguire, dessen Spider-Man immer noch ein Fan-Liebling ist, aber in Sachen Tempo, Witz und Kreativität schlagen die animierten Filme die Original-Trilogie bei weitem. „Spider-Man: Across the Spider-Verse“ ist hierbei keine Ausnahme.

Platz 9: Robot Dreams von Pablo Berger – 8,0 Kürbisse
Und gleich noch ein animierter Film, diesmal einer, der sogar komplett ohne Dialog auskommt. In einem New York, das von Tieren bevölkert ist, bestellt sich ein einsamer Hund einen Roboterfreund via Teleshopping. Pablo Berger gelingt es, mit dieser einfachen Geschichte komplexe humane Fragen anzusprechen.

Platz 10: The Old Oak von Ken Loach – 8,0 Kürbisse
Ken Loachs neuester Film über eine ehemalige Industriestadt im Nordosten Englands und deren Umgang mit syrischen Flüchtlingen ist vielleicht handwerklich nicht perfekt, aber so warmherzig und menschlich, dass man sich ihm nicht entziehen kann.

Platz 11: River von Junta Yamaguchi – 7,5 Kürbisse

Platz 12: Past Lives von Celine Song – 7,5 Kürbisse

Platz 13: Ein ganzes Leben von Hans Steinbichler – 7,5 Kürbisse

Platz 14: Guardians of the Galaxy Vol. 3 von James Gunn – 7,5 Kürbisse

Platz 15: Rickerl -Musik is höchstens a Hobby von Adrian Goiginger – 7,5 Kürbisse

Platz 16: Seneca – Oder: Über die Geburt von Erdbeben von Robert Schwentke – 7,5 Kürbisse

Platz 17: An einem schönen Morgen von Mia Hansen-Løve – 7,5 Kürbisse

Platz 18: Asteroid City von Wes Anderson – 7,5 Kürbisse

Platz 19: Club Zero von Jessica Hausner – 7,5 Kürbisse

Platz 20: Die drei Musketiere – D’Artagnan von Martin Bourboulon – 7,0 Kürbisse

Platz 21: Monster von Hirokazu Koreeda – 7,0 Kürbisse

Platz 22: Die Fabelmans von Steven Spielberg – 7,0 Kürbisse

Platz 23: DogMan von Luc Besson – 7,0 Kürbisse

Platz 24: Avatar: The Way of Water von James Cameron – 7,0 Kürbisse

Platz 25: Sterne unter der Stadt von Chris Raiber – 7,0 Kürbisse

Platz 26: Roter Himmel von Christian Petzold – 7,0 Kürbisse

Platz 27: Amsel im Brombeerstrauch von Elene Naveriani – 7,0 Kürbisse

Platz 28: Here von Bas Devos – 7,0 Kürbisse

Platz 29: Ant-Man and the Wasp: Quantumania von Peyton Reed – 7,0 Kürbisse

Platz 30: Air: Der große Wurf von Ben Affleck – 7,0 Kürbisse

Ehrenvolle Erwähnungen (ebenfalls 7,0 Kürbisse) gibt es noch für Kenneth Branaghs A Haunting in Venice sowie Wes Andersons Kurzfilm Ich sehe was, was du nicht siehst, die knapp an den Top30 vorbeigeschrammt sind. So wie auch Indiana Jones und das Rad des Schicksals mit 6,5 Kürbissen. Knapp daneben ist aber halt auch vorbei.

A Haunting in Venice (2023)

Regie: Kenneth Branagh
Original-Titel: A Haunting in Venice
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Krimi, Horror
IMDB-Link: A Haunting in Venice


Auch Meisterdetektive sind nicht vor dem Pensionsschock gefeit. Und so fadisiert sich Hercule Poirot (zum dritten Mal verkörpert von Kenneth Branagh, der auch wieder die Regie übernommen hat) im Nachkriegs-Venedig, ehe er von einer alten Freundin, der Krimi-Autorin Ariadne Oliver (Tina Fey) aus seiner Lethargie gerissen wird. Diese versucht bislang erfolglos, ein Medium (Michelle Yeoh) zu enttarnen, das angeblich mit den Toten sprechen kann. Eine Halloween-Party in einem alten Palazzo, in dem es seit langem spuken soll, bietet den richtigen Anlass, um der Dame auf den Zahn zu fühlen. Zu Beginn ist Poirot wie gewohnt selbstsicher, doch je länger der Abend dauert, je tiefer die Nacht mit ihren Schatten in den Palazzo kriecht, desto mehr wird Poirot mit Mysterien konfrontiert, die sich jeder Logik zu entziehen scheinen. Und es dauert auch nicht lange bis zum ersten Todesfall. Nach dem grundsoliden Mord im Orient-Express von 2017 und dem enttäuschenden Tod auf dem Nil aus dem letzten Jahr ist die dritte Verfilmung eines Agatha Christie-Krimis unter der Regie von Kenneth Branagh die bislang gelungenste. Denn statt eines klassischen Whodunit-Krimis serviert uns Branagh diesmal mit einem Mystery-Gruselfilm ein in diesem Kontext der Poirot-Verfilmungen völlig neues Genre. Der Film ist düster, spannend, von einer schaurigen Atmosphäre getragen und hervorragend ausgestattet wie gefilmt. Auch der Verzicht auf die vorderste Reihe der A-Lister, die noch im ersten Film zu sehen war, tut dem Film gut, denn die Darsteller:innen (darunter Kelly Reilly, Jamie Dornan, Camille Cottin und Kyle Allen) machen ihre Sache ausgezeichnet, die darin besteht, Poirot als zentrale Figur Raum zu geben und ihm zuzuarbeiten. Allerdings fehlt es an einer zentralen Zutat, um aus „A Haunting in Venice“ einen wirklich großartigen Film zu machen, und das ist die Möglichkeit, mitzurätseln. Das Drehbuch macht es sich in dieser Hinsicht zu einfach und begnügt sich damit, dem Zuseher die Geschichte im Nachhinein zu enträtseln, anstatt ihn selbst daran partizipieren zu lassen. So ist „A Haunting in Venice“ zwar ein äußerst stimmungsvoller Gruselfilm, der auf dieser Ebene hervorragend funktioniert, aber ein nicht gänzlich überzeugender Krimi.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von 20th Century Studios/20th Century Studios – © 2023 20th Century Studios. All Rights Reserved, Quelle http://www.tobis.de)

Ein ganzes Leben (2023)

Regie: Hans Steinbichler
Original-Titel: Ein ganzes Leben
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Heimatfilm
IMDB-Link: Ein ganzes Leben


Gut möglich, dass Robert Seethaler ein Fan von John Williams‘ (der Schriftsteller, nicht der Komponist) Roman „Stoner“ ist. Ich bin es jedenfalls. Worum es in „Stoner“ geht: Um ein einfaches Leben eines Universitätsprofessors, dem das Schicksal immer wieder mal Steine in den Weg legt, und der doch unbeirrbar weitermacht, einfach, weil es halt so ist, das Leben, weil es immer weitergehen muss. Robert Seethaler scheint diese Geschichte aufgegriffen und in den Bergen angesiedelt zu haben, dort, wo das Leben ohnehin immer eine mühevolle Qual ist, weil das Wetter unbeständig und hart, die Natur grausam und die Wege weit und beschwerlich sind. In Hans Steinbichler Verfilmung plagt sich der Knecht Andreas Egger (großartig verkörpert von Stefan Gorski und August Zirner) durch dieses Leben. Vom Ziehvater (Andreas Lust als besonders fieser Fiesling) regelmäßig verdroschen, bis schließlich Schäden bleiben, bleibt Andreas ein wortkarger Außenseiter, der nur Entbehrungen und Mühsal kennt. Es verwundert nicht, dass er als junger Mann, als er die Gelegenheit dazu bekommt, ganz weit hinauf auf den Berg zieht, wo er vor seiner kleinen, kargen Hütte Gemüse zieht und den Bauarbeitern zusieht, die weiter unten die erste Seilbahn der Region bauen. Als er sich in Marie (Julia Franz Richter) verliebt, wird auch Egger ein Seilbahner – er möchte eine Familie gründen, und dafür braucht er Geld. Doch nichts geht einfach in Eggers Leben. Immer wieder muss er sich neuen, harten Schlägen stellen, doch er setzt diesen stoisch sein ganzes Wesen entgegen. Immer weiter, immer weiter, weil es ja weitergehen muss. Die ganze Grausamkeit des Lebens wird in Eggers Existenz sichtbar, doch reichen die kleinen Glücksmomente aus, um diese abzufedern oder vielleicht auszugleichen? Es ist diese existentialistische Grundüberlegung, die Steinbichlers Film trägt. Es passiert nicht viel und noch weniger Außergewöhnliches, und doch folgt man gebannt diesem einfachen und beschwerlichen Leben, nicht aus Voyeurismus, sondern weil sich dahinter eine fundamentale Wahrheit verbirgt: Das Leben ist das, was wir selbst daraus machen. Bedeutung hat das, was wir Bedeutung geben. Und das ist die tröstliche Botschaft in einem Heimat- oder vielmehr Antiheimatfilm, der sich in die Kategorie „schwere Kost“ einordnen lässt. Dennoch: Handwerklich ausgezeichnet gemacht mit eindrucksvoller Kulisse und viel Liebe zur Ausstattung ist „Ein ganzes Leben“ ein Ereignis, das man nicht missen sollte, so sperrig es sich manchmal auch anfühlt.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.tobis.de)

Der Killer (2023)

Regie: David Fincher
Original-Titel: The Killer
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Thriller
IMDB-Link: The Killer


Wie schön, wenn der Beruf gleichzeitig eine Berufung ist! Der von Michael Fassbender gespielte namenlose Profi, der ein ganz spezielles Handwerk ausübt, weiß ein Lied davon zu singen. Während er in verlassenen Büroräumen gegenüber eines Luxushotels darauf wartet, dass seine Arbeit beginnt, lässt er uns, das Publikum, ganz tief in seinen Kopf eintauchen. Allzu Profundes lässt sich daraus allerdings nicht lesen. Man hat stattdessen das Gefühl: Der Mann überschätzt sich und seine Fähigkeiten ein wenig. Und schon passiert es auch: Der Auftrag geht schief, und weil der Profi in einem Metier arbeitet, in dem Fehler eher selten verziehen werden, findet er sich schon selbst bald auf der Abschussliste wieder. Wem dieser Plot etwas unoriginell vorkommt, dem kann ich versichern, dass er tatsächlich auch unoriginell ist. Da braucht man nichts beschönigen, auch wenn David Fincher als Regisseur gelistet ist. Was man allerdings erwarten kann, wenn sich dieser Regisseur eines Stoffes annimmt, dann sind das düstere Bilder und Reisen in die menschlichen Abgründe. Zumindest Ersteres liefert Fincher. „Der Killer“ sieht gut aus, und auch der pulsierende Soundtrack von Atticus Ross und Trent Reznor fügt sich gut ein. Doch leidet der Film an einem fundamentalen Problem: Dem Zuseher ist die stoische Hauptfigur schlicht egal. Es ist völlig belanglos, ob er am Ende durchkommt oder das Zeitliche segnet, da Fincher wirklich alles tut, um eine Bindung zwischen Hauptfigur und Publikum unmöglich zu machen. Michael Fassbender kann man da kaum einen Vorwurf machen. Er hat die Regieanweisung bekommen: „Spiel einen Stein!“, also spielt er einen Stein, und das auch sehr gut. Es ist eben die Regieanweisung, die nicht funktioniert. Und das hätte einem David Fincher eigentlich nicht passieren dürfen. So zieht sich der Film über seine zwei Stunden träge dahin, und trotz gelungener Bilder, trotz gelegentlicher Gewaltausbrüche kommt einfach keine Spannung auf. Für einen Thriller ist diese Abwesenheit von Spannung natürlich suboptimal. „Der Killer“ ist kein weiterer Meilenstein in Finchers Filmographie, auch weil er gerne mehr sein möchte, als er letzten Endes ist. Wenn man also die Wahl hat, welcher Abendunterhaltung man sich lieber widmet: Lieber Tequila als The Killer.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Courtesy of Netflix – © 2023 NETFLIX, Quelle http://www.imdb.com)

Nyad (2023)

Regie: Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin
Original-Titel: Nyad
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Biopic, Sportfilm
IMDB-Link: Nyad


Einmal durch den Ärmelkanal von England nach Frankreich schwimmen: Für einen Kinderbeckenplanscher wie mich ein sicheres Todesurteil. Und auch geübten Schwimmer treibt es bei dem Gedanken die Schweißperlen auf die Stirn. Für Diana Nyad hingegen ist ein solches Unterfangen eine lockere Aufwärmübung, ehe sie sich an die richtige Herausforderung macht. Diese heißt: Die Florida-Straße von Havanna, Kuba, bis zu Key West in Florida schwimmen. Ohne Haikäfig und sonstige Hilfestellungen über 177 Kilometer und gut 60 Stunden durchgängig in einem haiverseuchten Gewässer mit fiesen Strömungen durchschwimmen – ein Lebenstraum, an dem sie schon früh und am Höhepunkt ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit gescheitert ist. Aber weil Diana Nyad nicht so tickt wie der normale Durchschnittsmensch und darüber hinaus eine veritable Midlife-Crisis bekommt, mit leistungsstarken Sportautos aber nicht viel anfangen kann, probiert sie dieses unmögliche Unterfangen über dreißig Jahre nach ihrem letzten Versuch noch einmal. Zum Glück hat sie eine Ex-Partnerin und nunmehr gute Freundin, die diese Spinnereien klaglos mitmacht, aber man merkt bei dieser Frau: Wurscht, wer oder was sich ihr entgegenstellt: Sie zieht ihr Ding durch ohne Rücksicht auf Verluste, schon gar nicht auf die eigenen. Ist so eine Geschichte zu viel des Guten, ist sie zu dick aufgetragen? Vielleicht. Und doch hat sie sich tatsächlich genau so ereignet. Annette Bening, diese Ausnahmedarstellerin, verkörpert diese vom Wahnsinn Getriebene mit Verve und staunenswerter Muskelkraft. Ihr zur Seite stehen mit Jodie Foster und Rhys Ifans zwei weitere Könner ihrer Zunft. „Nyad“ ist das Porträt einer Frau, die immer schon ihren eigenen Weg gegangen ist, und die mehr leisten möchte und schließlich auch vermag, als irgendjemand anderer. Man muss den Hut ziehen vor solchen Ausnahmeerscheinungen, die sich schinden können bis zum Exzess, um am Ende ihren Lebenstraum zu verwirklichen – oder glorios daran zu scheitern. Filmisch ist „Nyad“ recht konventionell und überraschungsfrei gemacht, doch sieht man Meisterinnen wie Bening und Foster eben gerne bei der Arbeit zu, und die Geschichte fasziniert. Für einen netten Filmabend jedenfalls empfehlenswert.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: © 2023 NETFLIX, Quelle http://www.imdb.com)

Anatomie eines Falls (2023)

Regie: Justine Triet
Original-Titel: Anatomie d’une chute
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama, Krimi
IMDB-Link: Anatomie d’une chute


Eine deutsche Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem sehbeeinträchtigen Sohn in einem Chalet bei Grenoble. Sie gibt ein Interview, bricht dieses allerdings ab, als ihr Mann im Dachboden laut Musik zu spielen beginnt, der Sohn geht mit dem Hund auf einen Spaziergang durch die Winterlandschaft, und als er zurückkehrt, findet er den Leichnam seines Vaters vor dem Haus. Was zunächst wie ein klassischer Whodunit-Krimi beginnt, schlägt schon bald in ein Justiz-/Gerichtsdrama um, doch auch diese Genreeinordnung bietet lediglich einen Rahmen für die eigentliche Geschichte, um die es Justine Triet mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnetem Film. Unter ihrer einfühlsamen und kontrollierten Regie entfaltet sich ein Beziehungsdrama, das grausam vor den Augen und Ohren der im Gerichtssaal Anwesenden seziert wird, von einem hysterischen Staatsanwalt und von der Verteidigung selbst im Versuch, die des Mordes beschuldigte Ehefrau zu rechtfertigen. Im Zentrum: Eine undurchschaubar wirkende Sandra Hüller, die ihrer Figur eine wundervolle Ambivalenz verleiht und gleichzeitig die Sympathien auf ihre Seite zeigt durch eine Wahrhaftigkeit, die immer wieder durchschimmert. Das ist nicht nur Oscar-verdächtig, das ist sogar Oscar-schuldig! Ebenfalls im Fokus von Triet: Der Sohn, der wie ein Spielball von der Justiz benutzt wird, ist er doch der einzige Zeuge in diesem Prozess. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter steht in der Anklagebank, und der 11-jährige Junge entscheidet mit seiner Aussage über das weitere Schicksal seiner Familie. Das ist heftiger Stoff, der von Triet ohne große Gefühlsduselei und gerade deshalb so mächtig wirkend umgesetzt wird. Am Ende kann es keine Gewinner geben, sondern nur ratlos Überlebende, die nun versuchen müssen, ihren Weg weiterzugehen, nachdem ihr Leben grell ausgeleuchtet und kommentiert wurde. Ein unglaublich starker Film, dem man seine gelegentlichen Längen verzeiht, da er dann doch bis zur letzten Szene fesselt und darüber hinaus noch lange beschäftigt.


8,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Cosmosapiens (2023)

Regie: Pavel Cuzuioc
Original-Titel: Cosmosapiens
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


In der Dokumentation „Cosmosapiens“ von Pavel Cuzuioc kann man russischen Kosmologen beim Sternderl Schauen und Philosophieren zusehen. Klingt erst einmal gar nicht so schlecht, denn intelligente Menschen, die verstehen, was ein Schwarzes Loch ist, könnten ja durchaus interessante Gedanken teilen. Gibt es ein Leben im All außer abseits unserer Erde? Was bedeutet „Leben“ überhaupt, und wie sieht es aus? Was ist Unendlichkeit? Wie können wir uns mit unserem begrenzten Auffassungsvermögen diesen großen Fragen zuwenden? All das wird aber in „Cosmosapiens“ höchstens mal angerissen und angedeutet. Mehrheitlich sieht Cuzuioc lieber Ziegen zu; entzückende Tiere, keine Frage, wie auch einer der Kosmologen, der sie züchtet, bestätigt, aber halt auch nur bedingt geeignet, um uns die Ausdehnung des Weltalls zu erklären. Bietet der Enkelsohn eines anderen Kosmologen auf seinem Mountainbike profundere Einsichten? Auch nicht wirklich. Und die Studenten, die über die Objektivität und Subjektivität von Shakespeare-Interpretationen mit demselben Wissenschaftler streiten? Hätten sie wohl besser geschwiegen, diese aufgeblasenen Klugscheißer! Gähnende Langeweile überall. Eben dieser Wissenschaftler mit Zottelhaar und einer Vorliebe für Gedankenspiele steht im Zentrum der Dokumentation, und ja, er scheint eine durchaus interessante Persönlichkeit zu sein, doch verzetteln sich Cuzuioc und er in abstrakten Monologen, nach denen man in etwa genauso schlau wie vorher ist und die das eigentliche Thema seiner Wissenschaft, die Kosmologie, oft nur am Rande streifen. Im Übrigen ist dieser Herr ukrainischer Herkunft und musste nach Ausbruch des Kriegs und damit nach Fertigstellung des Kriegs aufgrund politischer Differenzen auswandern, und das ausgerechnet nach Israel, der arme Hund.


3,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Here (2023)

Regie: Bas Devos
Original-Titel: Here
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Drama
IMDB-Link: Here


Es braucht eine Weile, bis man in Bas Devos‘ Film „Here“ hineinfindet. Man blickt auf die Baustellen von Hochhäusern, sieht Bauarbeiter in einer Gruppe stehen und ihr Mittagessen verzehren, sieht sie auf dem Heimweg, es passiert nicht viel, und dann ist man in der Wohnung des rumänischen Bauarbeiters Stefan (Stefan Gota), der seinen Kühlschrank ausräumt und aus den Gemüseresten Suppe kocht, da er demnächst über den Sommer in die Heimat fahren möchte. Allerdings streikt sein Auto, sodass er dieses übers Wochenende bei einem befreundeten Mechaniker abstellen muss. Gemeinsam essen sie Suppe, Stefan streift durch Brüssel, durch den Wald, der sich am Rand der Stadt erstreckt, und dort trifft er auf die Botanikerin Shuxiu (Liyo Gong), die Moos studiert. Im Grunde ist damit auch schon der größte Teil des Films erzählt, und ja, das klingt zunächst einmal ziemlich langweilig. Doch geht Bas Devos sehr behutsam mit seinem Film und seinen Figuren um. Vieles schwingt im Subtext mit, vieles bleibt unausgesprochen und wird nicht thematisiert: Das zuweilen harsche Leben von Migranten, das Gefühl der Zerrissenheit zwischen Heimat und neuem Lebenssitz – das alles klammert Devos explizit aus, lässt es aber implizit mitschwingen, in den Blicken der Darsteller:innen, in ihrem oft gezeigten Alleinsein und auch in Stefans Kontaktaufnahme mit seinen Mitmenschen, indem er ihnen Suppe bringt. Es passt sehr gut zum Film und zu Devos‘ Ansatz, dass die Annäherung zwischen Stefan und Shuxiu nicht den üblichen filmischen Mustern folgt und es auch offen bleibt, wohin diese erste Annäherung führen kann und wird. Devos ist nicht daran interessiert, sein Thema auszuerzählen, sondern er fängt Momente ein, und diese Momente stehen auch nicht immer in kausaler Verbindung, und doch geht man als Zuseher diesen Weg mit, da das Leben eben nicht immer kausal ist, wie Regisseur und Hauptdarstellerin im Q&A nach der Vorführung richtigerweise feststellen. „Here“ fühlt sich somit sehr authentisch und echt an und lädt ein, noch lange über die Figuren nachzudenken. Eine besonders wichtige Rolle spielt hierbei auch das Sounddesign, denn Devos gelingt es, mit einer Fokussierung des Sounds auf die Geräusche der Natur das menschliche Dasein in eben diese einzubetten. So werden Stefan und Shuxiu auf ihren Kern, wenn man so will: die Seele, heruntergebrochen, und das ist ein richtig schöner Ansatz für einen Film.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)