2020

Neues aus der Welt (2020)

Regie: Paul Greengrass
Original-Titel: News of the World
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Western, Drama
IMDB-Link: News of the World


Als alter Queen-Fan (die Band, nicht das Königshaus) ist man beim Titel „News of the World“ natürlich erst mal getriggert – heißt doch das grandiose sechste Studioalbum aus dem Jahr 1977 mit Hits wie „We Will Rock You“, „We Are the Champions“ oder „Spread Your Wings“ so. Für mich das große Highlight des Albums war aber immer das melancholisch-rockige „It’s Late“, und hier finden wir nun auch die Brücke zum neuesten Film von Paul Greengrass, nach der du, liebe Leserin, lieber Leser, wohl schon skeptisch gesucht hast. Denn sein karger Western erzählt vom alternden Soldaten Jefferson Kyle Kidd (Tom Hanks), der nun als Vorgänger von Armin Wolf (der, falls er mal wortwörtlich umsatteln möchte, ebenfalls einen herausragenden Western-Helden abgeben würde), nämlich als früher Nachrichtensprecher, seine Brötchen verdient. Gegen Eintrittsgeld liest er aus den Zeitungen vor und untermalt diese dramatisch, sodass daraus fast schon Bühnenstücke werden. Aber: It’s late für den Mann, der so viel gesehen hat und keinerlei Ambitionen mehr hat. Daran scheint zunächst auch nicht einmal die junge Johanna (Helena Zengel, die nach ihrem gloriosen Auftritt in Systemsprenger nun Hollywood erobert) zu ändern – ein verlorenes Mädchen mit deutschen Wurzeln, das aber bei Kiowa aufgewachsen ist und nun – nach ihren deutschen Eltern – auch ihre Kiowa-Eltern verloren hat. Was tun mit einem Kind, das nirgendwo dazugehört? Kidd nimmt eher widerwillig die Aufgabe an, das Kind quer durch den Westen zu Verwandten zu bringen. Auf dem Weg – und das wird jetzt kein großer Spoiler sein – finden die beiden unfreiwillig Aneinandergeketteten dann aber doch einen Zugang zueinander. „News of the World“ ist eher ein stilles Beziehungsdrama, das halt zufälligerweise im Wilden Westen spielt, als ein typischer Western, auch wenn Greengrass das Western-Topos ideal bedient. Genau darin liegt aber die Stärke des Films. Es gibt auch grimmige Burschen, es gibt gefährliche Situationen und Begegnungen, es gibt Staub, Schlamm und Dreck, aber im Zentrum steht immer nur die langsam aufkeimende Beziehung zwischen  zwei verlorenen Seelen. Der Film ist sensibel erzählt und von Hanks und Zengel glaubwürdig gespielt. Und wahrscheinlich hätte Queens „It’s Late“ auch gut zum Abspann gepasst.


7,0 Kürbisse

(Bildzitat: Photo by Bruce Talamon – © 2020 UNIVERSAL STUDIOS, Quelle http://www.imdb.com)

I Care a Lot (2020)

Regie: J Blakeson
Original-Titel: I Care a Lot
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Thriller, Komödie, Krimi
IMDB-Link: I Care a Lot


Wie gut, dass es Menschen wie Marla Grayson (Rosamund Pike) gibt, die sich selbstlos aufopfern, um ihren älteren Mitmenschen das Leben so angenehm und komplikationsfrei wie möglich zu machen. Besitztümer können da durchaus Komplikationen mit sich bringen, also sorgt Marla dafür, dass sich die Menschen, die sich in ihrer Fürsorge befinden, nicht länger mit diesen profanen Problemen herumplagen müssen. Auf Marlas Konto ist das Geld sicherlich auch gut verwahrt, nicht wahr? Doch eines Tages legt sich die resolute junge Dame, die vor allem auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist, mit dem falschen Opfer an. Denn an Jennifer Petersons Wohlergehen sind auch durchaus einflussreiche Herrschaften mit zum Teil unorthodoxen Geschäftsgebaren interessiert. Und manche Warnungen, die von windigen Anwälten überbracht werden, sollte man nicht so einfach in den Wind schlagen, wie Marla schon bald feststellen muss. „I Care a Lot“ von J Blakeson beginnt als zynische Komödie über eine gewissenlose Geschäftsfrau, die die Schwächen anderer gnadenlos unter Mithilfe des Rechtsstaates zu ihren Gunsten auszunutzen versteht, und wendet sich dann zu einem teils recht atemlosen Thriller, der sich hätte vermeiden lassen, wenn Marla nicht so verdammt von sich selbst überzeugt gewesen wäre. Wie gesagt, manche Fehler bereut man bitterlich, aber dann ist es schon zu spät, und du rennst um dein nacktes Leben. Eine runde Geschichte ist das zwar nicht, aber unterhaltsam allemal. Das liegt vor allem an einer grandiosen Rosamund Pike, kürzlich für ihre Darstellung erst mit einem Golden Globe geadelt, der es gelingt, beim Zuseher eine unangenehme Ambivalenz entstehen zu lassen: Einerseits wünscht man ihrem Miststück alles erdenklich Schlechte, andererseits fiebert man dann doch auch wieder mit und hofft auf ihr Überleben. Begleitet wird Pike von einem soliden Nebencast: Peter Dinklage (mal richtig grimmig), Dianne Wiest und Eiza González an vorderster Front, die ihre Sache allesamt sehr gut machen. Dennoch ist und bleibt „I Care a Lot“ eine Rosamund Pike-Soloshow. Und das reicht aus für einen spannenden Filmabend.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Mank (2020)

Regie: David Fincher
Original-Titel: Mank
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Biopic, Drama
IMDB-Link: Mank


David Fincher ist wandelbar wie ein Chamäleon, doch zeichnet all seine Filme sein virtuoses Handwerk aus, das gelegentlich auch in Detailversessenheit mündet. So auch in „Mank“ – ein handwerklich geniales Biopic über den Drehbuchautoren Herman J. Mankiewicz, der zusammen mit Orson Welles den Oscar für das beste Drehbuch gewinnen konnte. Fragliches Drehbuch: Jenes zu „Citizen Kane“, der heute als einer der besten Filme der Filmgeschichte, vielleicht sogar der allerbeste, gefeiert wird. Und den man eigentlich Orson Welles zuschreibt. Dabei ist der Anteil von Herman J. Mankiewicz, der von allen einfach nur Mank gerufen wird, nicht zu unterschätzen. Fincher deutet sogar an, dass er allein das Drehbuch verfasst hätte. Doch fokussiert er nicht auf die Entstehungsgeschichte des Drehbuchs, sondern nützt diesen vielmehr als Rahmen, innerhalb dessen er Mank in Rückblenden mit Hollywood abrechnen lässt. Fincher zeichnet Mank, der meisterlich gespielt wird von Gary Oldman (eine weitere Oscar-Nominierung scheint hier unausweichlich zu sein), als einen Nonkonformisten und alkoholkranken Rebellen, der den Pioniergeist des alten Hollywood atmet und enttäuscht wird von der massentauglichen, konservativen Haltung, die die Filmstudios mittlerweile einnehmen – verkörpert vor allem von Louis B. Meyer (Arliss Howard, der ebenfalls preiswürdig aufspielt) – und die getragen und geformt wird von einflussreichen Medienmogulen, allen voran William Randolph Heart (Charles Dance). Das alles ist ja höchst interessant, vor allem durch die Brille der heutigen Zeit betrachtet. Allerdings sitzt Fincher hier zu sehr seiner eigenen Detailverliebtheit auf, und die Dialoge, wenngleich energievoll und mit viel Verve vorgetragen, kranken zuweilen an Namedropping und Ziellosigkeit. Fincher macht es dem Publikum schwer, den Kapriolen seiner Hauptfigur zu folgen, die von einer Erinnerung zur nächsten hüpft. Anzusehen ist das natürlich trotzdem schön, dafür sorgt allein schon die geniale Kameraarbeit von Erik Messerschmidt. Aber schöne Bilder und Finchers Konsequenz, den Film zu wirken lassen, als wäre er tatsächlich in der damaligen Zeit entstanden, reichen halt nicht aus für einen wirklich rundum gelungenen Film. Handwerk allein ist eben nicht genug. Der Funke muss auch aufs Publikum überspringen.


6,0
von 10 Kürbissen

(Bildzitat: © 2020 – Netflix Quelle http://www.imdb.com)

Death to 2020 (2020)

Regie: Charlie Brooker
Original-Titel: Death to 2020
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Satire, Politfilm
IMDB-Link: Death to 2020


Ein bisserl Masel hatten die Macher von „Black Mirror“ mit ihrem Jahresrückblick „Death to 2020“ ja schon. Veröffentlicht am 27. Dezember auf Netflix gingen sie frech davon aus, dass in den letzten Tagen des Jahres nichts mehr passieren würde, was in ihrem voreilig veröffentlichten Film sonst fehlen würde. Immerhin hielten sich in den USA die Anhänger des orangenen Proud Boy-Knallkopfs an den Zeitplan und stürmten das Kapitol erst im Jänner. Und so greift „Death to 2020“ im Schnelldurchlauf dann doch alle wichtigen Themen des vergangenen Jahres auf. Schon nach den ersten fünf Minuten wird einem noch einmal so richtig bewusst, was für eine absolute Shitshow auf politischer und gesellschaftlicher Ebene 2020 tatsächlich war. Vieles hat man ja zwischenzeitlich schon erfolgreich verdrängt. Danke, Charlie Brooker, dass du uns den ganzen Mist noch mal nach oben spülst! Waldbrände in Kalifornien, Buschbrände in Australien, Brexit-Chaos, Kettengerassel zwischen Iran und den USA nach der Ermordung von Soleimani, nicht erwähnt, aber durch die Nachrecherche zu dieser Kritik wieder ins Bewusstsein geholt: der Großbrand des Affenhauses in Krefeld, der Terroranschlag in Hanau – und das alles, bevor die erste Fledermaussuppe serviert wurde. Und dann eben dieser wunderschöne Rückfall ins Mittelalter: Eine weltweite Seuche, fundamentalistische Verschwörungstheoretiker, die Wissenschaftler als Ketzer und Häretiker mit Mistgabeln aufspießen wollen, und die Gesandten Gottes in Form der ÖVP-Spitze unter Oberapostel Sobotka, die zum gemeinsamen Gebet ins Parlament laden. Und da soll noch mal einer behaupten, Zeitreisen wären heutzutage noch nicht möglich. Letzteres sparen Charlie Brooker und sein Team gnädigerweise aus, aber Österreich ist nicht der Nabel der Welt, und mit der Aufarbeitung der Fehltritte von Johnson, Bolsonaro und Trump sind die Macher des Films eh gut beschäftigt. Dabei bekommt Brooker tatkräftige Unterstützung aus Hollywood: Samuel L. Jackson als Journalist, Hugh Grant als konservativer Historiker, Lisa Kudrow als dauerlügende Pressetante des Weißen Hauses sind da nur die Speerspitze, Grant und Kudrow dabei die parodistischen Highlights, wenn man von Trump absieht, der selbst seine eigene bestmögliche Parodie abgibt. Das Erschreckende an dem Film ist aber, dass all das, was hier humorvoll aufgearbeitet wird, auch wirklich passiert ist. Da bleibt einem so manches Lachen im Hals stecken. Ein wenig mehr Drive hätte ich mir an der einen oder anderen Stelle gewünscht, auch sind manche Kommentare zum Weltgeschehen noch immer viel zu zahm – mir wären da noch deutlichere Worte eingefallen. Man hätte den Pegel also durchaus noch etwas nach oben drehen können. 2020 hätte es verdient. Hoffen wir mal, dass es keine Fortsetzung „Death to 2021“ braucht, um diese Empfehlung noch umzusetzen.


6,0
von 10 Kürbissen

(Bildzitat: © 2020 Netflix, Inc., Quelle http://www.imdb.com)

The Midnight Sky (2020)

Regie: George Clooney
Original-Titel: The Midnight Sky
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Science Fiction, Drama
IMDB-Link: The Midnight Sky


Die Location (Arktis) passt. Der Bart passt. Dennoch spielt George Clooney, der auch Regie geführt hat, in „The Midnight Sky“ nicht einen depressiven Santa Claus, sondern einen depressiven Astronomen. Die Erde im Jahr 2049. Wir haben’s verkackt. Die Erde ist unbewohnbar, die Katastrophe eingetreten (wenngleich diese auch nicht klar benannt wird.) Die letzten Ratten verlassen das sinkende Schiff, nur George Clooney harrt im ewigen Eis aus, um ein Raumschiff, das zu einem kürzlich entdeckten Jupitermond aufgebrochen ist, den man neu besiedeln könnte, vor der Rückkehr zu warnen. Bald stellt er fest, dass er auf seiner Station nicht allein ist. Das junge Mädchen Iris (Caoillinn Springall) ist zurückgelassen worden, und der grumpy Möchtegern-Santa mit Krebs im Endstadium darf sich neben dem Problem, dass er mit der Sendetechnik seiner Station das Raumschiff nicht erreichen kann, auch noch mit dem schweigsamen Mädchen herumplagen. Die einzige Hoffnung ist, seinen eigenen Hintern plus dem des Mädchens in eine weit entfernte Wetterstation zu bringen, die über eine bessere Sendeanlage verfügt, um so doch noch die Crew der Aether (Felicity Jones, David Oyelowo, Kyle Chandler, Demián Bichir und Tiffany Boone) vor einer Landung zu warnen. Prekäres Detail am Rande: Kommandant Adewole (Oyelowo) und Astronautin Sully (Jones) erwarten ein gemeinsames Kind. Ein Wettlauf um die Zeit beginnt. Wer mit „The Midnight Sky“ allerdings ein actiongeladenes Spektakel erwartet, wird fürchterlich enttäuscht. Vielmehr ist der neue Film von George Clooney ein langsames Kammerspiel zwischen dem ewigen Nichts des Eises und dem ewigen Nichts des Weltalls. Die letzten Menschen scheinen in einem seltsamen Schwebezustand aus Resignation, Reue und Hoffnung wider besseren Wissens zu verharren. Dementsprechend gedrückt ist auch die Stimmung des Films. Und auch wenn so einige ärgerliche, unlogische Szenen das Vergnügen etwas trüben: Dass der Film von manchen Kritiken derart niedergeknüppelt wird, liegt wohl eher an einer ans Genre geknüpften, enttäuschten Erwartungshaltung als am Film selbst. Mehr noch als ein Science Fiction-Film ist „The Midnight Sky“ nämlich ein Endzeit-Drama und ein Abgesang auf die Spezies Mensch. Der Letzte dreht das Licht ab.


6,5
von 10 Kürbissen

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Das geheime Leben der Bäume (2020)

Regie: Jörg Adolph
Original-Titel: Das geheime Leben der Bäume
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Das geheime Leben der Bäume


Dafür, dass sie für ein funktionierendes Ökosystem so unerlässlich sind, wissen wir noch relativ wenig über das Leben der Bäume. Wie gelingt es ihnen zum Beispiel, viele Jahrhunderte alt zu werden und immer noch so vital auszusehen? Und was genau bringt sie zum Explodieren? Der deutsche Förster Peter Wohlleben geht dem Leben der Bäume seit vielen Jahren auf den Grund und hat seine Erkenntnisse in den Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“ verpackt, der nun auch verfilmt wurde. America first, Austria Förster? Von wegen. Wenn es ein Land gibt, in dem sich ein Buch über Bäume millionenfach verkaufen kann, dann Deutschland. Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Peter Wohlleben ist ein grundsympathischer Typ, der die doch eher trockene und wenig actiongeladene Materie auf humorvolle Weise rüberbringt und dabei interessante Analogien zum menschlichen Dasein findet. Das fetzt natürlich. Der Film zum Buch verheddert sich hingegen im Unterholz zwischen der Ambition, die Person Peter Wohlleben zu zeigen und greifbar zu machen, und der inhaltlichen Wiedergabe seiner Theorien. Ein Hybridgewächs, das sich nicht entscheiden kann, ob es lieber Porträt oder Lehrfilm sein will und dadurch keines von beidem ist. Dabei sind die Passagen, in denen Peter Wohlleben seine Beobachtungen zu Wäldern und Bäumen teilt, durchaus spannend. Bildungsfernsehen im besten Sinne. Man beginnt sehr rasch zu begreifen, wie wenig man tatsächlich weiß über die Lunge der Erde. Aber immer dann, wenn es interessant wird, kommt schon der nächste Schnitt, und der Film springt zum nächsten Thema, zum nächsten Abschnitt aus Peter Wohllebens Werdegang oder zu einer Talkshow, in der er ein paar Sätze sagen darf, die man zehn Minuten früher ohnehin schon gehört hat. Als Film hat „Das geheime Leben der Bäume“ unübersehbare Schwächen, auch wenn der Inhalt per se faszinierend genug ist, damit man trotzdem dabei bleibt. Man hätte es halt besser machen können.


5,5
von 10 Kürbissen

(Bildzitat: © CF, Quelle http://www.imdb.com)

Tragic Jungle (2020)

Regie: Yulene Olaizola
Original-Titel: Selva trágica
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama
IMDB-Link: Selva trágica


Der letzte Viennale-Film in diesem Jahr, und ich hätte mir keinen besseren Film dafür aussuchen können als „Tragic Jungle“ von Yulene Olaizola, entführt dieser doch in eine fremde, mysteriöse Welt, die man vorrangig auf Filmfestivals abseits des Mainstreams kennenlernen kann. Der Dschungel ist dicht und voller Gefahren. Vor allem für Agnes (Indira Rubie Andrewin), die gerade noch dem britischen Großgrundbesitzer entkommen ist, der sie heiraten wollte und nach der Abweisung nun Jagd auf sie macht. Verletzt wird sie von spanischen und mexikanischen Arbeitern gefunden, die durch die Ernte und den Verkauf von Kautschuk den großen Reibach machen möchten. Es sind die 1920er Jahre im Dschungel von Mexiko, das Leben ist hart und entbehrlich. Das Auftauchen der jungen und attraktiven Frau bringt die Dynamik im Camp der Arbeiter gehörig durcheinander. Doch bald stellt sich die Frage: Wer oder was ist die eigentliche Bedrohung hier? „Tragic Jungle“ ist ein Spiel mit Mythen, mit menschlichen Abgründen, Begehrlichkeiten, Fantasien und Träumen und der Suche nach Reichtum, die alles Andere zu überschatten droht. Ein sinnlicher Film, indem der Dschungel so undurchdringlich ist wie Agnes‘ Miene. Yulene Olaizola würzt den Film mit einer gehörigen Portion Spannung, die in dem fremdartigen Setting gut zur Geltung kommt. Das sind die Filme, für die sich Kino wirklich lohnt, ermöglicht die große Leinwand schließlich das komplette Eintauchen in eine Welt voller Magie und Rätsel. Dass der Film mit dem Jurypreis der Standard-Publikumsjury ausgezeichnet wurde, ist gut nachvollziehbar und verdient.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Genus Pan (2020)

Regie: Lav Diaz
Original-Titel: Lahi, Hayop
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Krimi, Drama
IMDB-Link: Lahi, Hayop


Für seine Verhältnisse hat Lav Diaz mit „Genus Pan“ (im Original: „Lahi, Hayop“) einen Kurzfilm gedreht. In flotten 157 Minuten ist man durch. Seine Filme können auch schon mal die 8-Stunden-Marke überschreiten. Bei einem achtstündigen „Lahi, Hayop“ wäre ich allerdings ausgestiegen, hat der Film ja auch jetzt schon seine Längen. Die Geschichte kann nämlich recht einfach zusammengefasst werden: Drei Minenarbeiter schlagen sich von der Insel, auf der sie arbeiten und ausgebeutet wurden, durch den Dschungel in ihr Heimatdorf durch. Einer von ihnen ist finanziell besonders gebeutelt, denn das wenige Geld, das ihm bleibt, reicht nicht aus, um die Medikamente der kranken Schwester zu bezahlen. Nach einem langen, beschwerlichen Weg kommt nur er im Dorf an. Was ist passiert? Dass er den Dorfbewohnern von seinem Geld nichts abgeben möchte, macht die Menschen noch misstrauischer. „Lahi, Hayop“ bringt unter allen Figuren das Schlechteste hervor. Man ist nicht besser als der vom Instinkt geleitete „Pan“, also Menschenaffe. Es gibt wenig Hoffnung auf Läuterung – trotz eines starken Beginns, der den beschwerlichen Weg der drei Männer minutiös nachzeichnet und die drei ungleichen Typen auch zueinanderfinden lässt. Aber was bleibt davon übrig im Angesicht der Not? „Lahi, Hayop“ ist eine finstere Reise an die dunkelsten Stellen der Herzen. Allerdings fällt der Film nach einer starken ersten Hälfte stark ab, wird mühsam und zieht sich wie ein alter Kaugummi. Erst das bittere Ende lässt den Zuseher wieder mitfiebern und rettet den Film über die letzte Kurve. Die 157 Minuten Laufzeit sind aber mehr als üppig bemessen für den Inhalt, der damit trotz der kürzeren Laufzeit deutlich mühsamer zu sehen ist als der grandiose The Woman Who Left aus dem Jahr 2016. Wie schon gesagt: Acht Stunden lang hätte ich hier nicht durchgehalten. 


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Shirley (2020)

Regie: Josephine Decker
Original-Titel: Shirley
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Krimi, Thriller
IMDB-Link: Shirley


Shirley (Elisabeth Moss) ist eine renommierte Schriftstellerin, die an einer Schreibblockade und einer Depression leidet. Ihr Ehemann Stanley (Michael Stuhlbarg), Dozent an der Uni, bringt seinen neuen Assistenten Fred (Logan Lerman) und Rose (Odessa Young) ins Haus. Rose soll Shirley im Haushalt unter die Arme greifen, dafür bekommt das junge Paar Kost und Logis. Zwischen den beiden Frauen entspinnt sich eine zarte Freundschaft, und über den realen Fall einer verschwundenen Studentin, die Shirley fiktional aufarbeitet, findet sie auch wieder zum Schreiben. Doch wie sehr greifen Realität und Fiktion ineinander, und was macht das mit den Betroffenen? „Shirley“ von Josephine Decker spielt diese Frage auf mehrere Ebenen durch. Vordergründig ist der Film eine Biographie der Horror- und Mystery-Autorin Shirley Jackson, doch werden reale Kernelemente des Biographischen ausgespart und durch Inhalte ersetzt, die eher an Jacksons fiktive Geschichten erinnern. Gleichzeitig verschmelzen Rose und die verschwundene Studentin Paula, die junge Rose wird zum Inhalt von Shirleys Geschichte. Und auch die Beziehung zwischen Shirley und Stanley wirkt oft dramatisch überhöht und inszeniert. Ein Fest für großartige Schauspieler/innen wie eben Michael Stuhlbarg und Elisabeth Moss, die zur Hochform auflaufen. Beide spielen sich damit in den Vordergrund für die großen Schauspielpreise der kommenden Monate. Und dieser Aspekt macht den Film auch wirklich sehenswert, während die Story selbst dann doch recht beliebig und ziellos bleibt. 


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Gunda (2020)

Regie: Victor Kossakovsky
Original-Titel: Gunda
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Gunda


An solchen Tagen kommt man ins Grübeln. Am Vorabend ist ein Oaschloch ausgetickt und hat mehrere Menschen mit sich gerissen. Kann man da überhaupt noch über Filme schreiben, oder relativiert sich nicht alles angesichts des Terrors und der Trauer? Nun, ohne pathetisch wirken zu wollen – aber lässt man es zu, dass das Oaschloch über das Leben und die weiteren Handlungen bestimmt, dann hat es gewonnen. Und das will ich nicht zulassen. Also weiter mit den Viennale-Filmen. Stellen wir der Angst die Kunst entgegen. Und die ist in „Gunda“ von Victor Kossakovsky höchst lebendig. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern folgt der Film, der übrigens von Joaquin Phoenix produziert wurde, einer Sau, die gerade frisch geworfen hat. Der Mensch ist abwesend. In einem großen Freigelände können die Tiere das tun, was sie eben so tun: Sich im Schlamm suhlen, sich über die Zitzen der Mutter streiten, herumlaufen und größer werden. Zwischendurch wird das schweinische Leben unterbrochen durch Aufnahmen von Hühnern, die freigesetzt werden, und zunächst übervorsichtig und sichtlich ratlos durchs Gras stapfen. Und von Kühen, die aus dem Stall rennen und ausgelassen  auf der Wiese herumhüpfen. Und dabei geschieht Erstaunliches: Die Emotionen der Tiere werden erlebbar, ohne dass dies über die Krücke der Vermenschlichung geschieht. „Gunda“ ist ein kleiner, ganz großer Film. Ein Film, der den Tieren gerecht wird, der sie in all ihrem tierischen Verhalten zeigt, aber darin auch das Verbindende findet. Und genau das passt wiederum zu diesen schweren Tagen. Lasst uns das Verbindende finden und das Trennende vergessen.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)