2017

Am Strand (2017)

Regie: Dominic Cooke
Original-Titel: On Chesil Beach
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: On Chesil Beach


England 1962. Das junge Paar Florence (Saoirse Ronan – und zum ersten Mal konnte ich ihren Vornamen richtig schreiben, ohne ihn vorher zu ergoogeln – wird aber auch Zeit, denn sie ist eine der besten Darstellerinnen überhaupt, die es derzeit auf den Leinwänden dieser Welt zu bewundern gibt) und Edward (Billy Howle) ist frisch vermählt und beginnt seine Flitterwochen in einem gediegenen Hotel am Strand. Der Anfang ist holprig, es liegt trotz der gegenseitigen Liebesbeteuerungen eine Spannung in der Luft, und schon bald wird klar, dass die beiden vor ihrer Heirat noch nicht miteinander geschlafen haben und die Sache nun hochgradig nervös angehen. Immer wieder geraten auch ihre Erinnerungen dazwischen, ans Kennenlernen, an die Schritte ihrer Beziehung. Ja, es ist eine sehr romantische Liebe, die hier gezeigt wird, aber auch eine der Gegensätze und Momente der Distanz, und schon bald fragt man sich als Zuseher, ob die beiden vielleicht nicht ein wenig überstürzt den Bund der Ehe eingegangen sind. Deutlich wird diese Frage aufgezeigt in dem Moment, in dem es im Bett zum ersten Mal zur Sache gehen soll, aber nun werden allmählich Wahrheiten angedeutet, die bislang immer verschwiegen wurden. „Am Strand“ ist ein Lehrbeispiel für fehlende oder zumindest fehlgeleitete Kommunikation. Was anfangs noch für fröhliches Glucksen im Saal sorgte, weil sich die beiden Turteltauben allzu patschert anstellen, wechselt immer mehr zu einem fassungslosen Bemitleiden angesichts der hilflosen Blicke und Gesten und des Unvermögens, das für alle Offensichtliche anzusprechen. Ronan und Howle liefern denkwürdige und oft sehr subtile Performances ab. Hier wird mehr über Bewegungen und das Verkrampfen von Körpern erzählt als durch Worte selbst. Ganz große Schauspielkunst und ein herausragendes Drehbuch! Was mir allerdings missfallen hat, ist, dass die Nebenfiguren oft nur zu Karikaturen gereichen und blass bleiben. Was in der Paarbeziehung so subtil erzählt wird, wird bei diesen Nebenfiguren plakativ kurz mit dem Hammer eingebläut. Und das ist schade. Ein wenig mehr Ausgewogenheit hier hätte dazu führen können, dass der Film einer meiner Highlights des Jahres wird. Aber auch so hat sich der Kinobesuch definitiv gelohnt. Das Ende ist bitter, wie nur das Leben selbst sein kann.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Thimfilm)

Auf der Suche nach Oum Kulthum (2017)

Regie: Shirin Neshat
Original-Titel: Looking for Oum Kulthum
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Biopic
IMDB-Link: Looking for Oum Kulthum


Oum Kulthum war die vielleicht berühmteste Sängerin Ägyptens und an ihrem Höhepunkt quasi Ägyptens Nationalheiligtum. Mir war sie, das muss ich ehrlich zugeben, bis zu Shirin Neshats Film kein Begriff. Aber man mag mir diese Bildungslücke nachsehen – denn zum Einen verstarb die große Künstlerin 1975 und zum Anderen trat sie mit einer einzigen Ausnahme niemals in Europa auf. Aber da sieht man wieder: Filmschauen bildet. Dass „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ aber kein klassisches Biopic ist, geht bereits aus dem Titel hervor. Vielmehr zeigt der Film die Reise einer iranischen Regisseurin (Ähnlichkeiten mit real lebenden Personen sind hier sicherlich gewollt) zu sich selbst bzw. dem, was wichtig ist für sie. Sie dreht einen Film über Oum Kulthum, und dadurch, dass die Kamera der Kamera über die Schulter schaut und man die Produktion des Films mitverfolgt, bekommt man auch die Geschichte von Oum Kulthum erzählt. Eine raffinierte Struktur, die elegant ein übliches Problem des Biopics umgeht, nämlich der Anspruch auf Wahrhaftigkeit, der oft nicht eingelöst werden kann. Denn die Oum Kulthum in Shirin Neshats Film ist durch dieses Nacherzählen einer Biographie ganz klar als Neshats eigene Vision der Sängerin gekennzeichnet. Die echte Oum Kulthum war vielleicht ganz anders, aber das spielt hier keine Rolle. Auch geht es weniger um die Geschichte der ikonischen Künstlerin, sondern um jene der Regisseurin, die im Exil arbeiten muss und den Kontakt zu ihrem 14jährigen Sohn verloren hat. Im Laufe der Dreharbeiten ist sie gezwungen, ihre Ideen und Prioritäten zu hinterfragen. Das alles und die herausragend gefilmten Bilder machen aus „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ einen wirklich interessanten Film. Allerdings zahlt Neshat auch einen Preis für die Verlagerung der Geschichte auf die Regisseurin und das Filmeschaffen selbst: Nämlich Oum Kulthum, diese faszinierende Persönlichkeit, wird dem Zuseher nicht greifbar. Ihre Lebensstationen werden eher rasch abgespult, und das Bild bleibt damit bestenfalls fragmentarisch. Eine kleine Randnotiz am Schluss: Der historische Saal des Wiener Metro Kinos kommt hier zu überraschenden Ehren und dient in einer Sequenz als Konzertsaalkulisse.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)

Augenblicke: Gesichter einer Reise (2017)

Regie: Agnès Varda und JR
Original-Titel: Visages Villages
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Visages Villages


Die 89jährige Agnès Varda ist sozusagen die Grand Dame der französischen Nouvelle Vague, JR ein 33jähriger Fotokünstler, der großflächige Schwarzweißfotos auf Mauern klebt. Gemeinsam macht sich dieses unwahrscheinliche Paar auf eine Reise durch die Dörfer Frankreichs, um mit den Menschen zu sprechen und ihre Bilder zu verewigen. Das klingt erst einmal nicht unbedingt nach einem besonders spannenden Thema für einen Dokumentationsfilm, doch je länger der Film dauert, desto klarer wird, worum es in „Visages Villages“ eigentlich geht. Nämlich um die Neugier aufs Leben, auf die Geschichten, die jeder von uns zu erzählen hat, es geht um die Fähigkeit, genau hinzusehen und vor allem um die Freundschaft. Denn zwischen dem jungen, stets mit Hut und Sonnenbrille gekleideten Fotografen und der kleinen, alten Dame mit dem verschmitzten Lächeln entwickelt sich eine überraschend enge Beziehung mit viel Verständnis füreinander und Interesse am Gegenüber. Die beiden gehen sehr herzlich und vertraut miteinander um, der Altersunterschied und die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie im Leben gemacht haben, rücken in den Hintergrund. Dazu kommen die Geschichten, die sie auf ihrer Fahrt durch das Land erfahren. Ob die letzte Bewohnerin einer Siedlung, die abgerissen werden soll, oder die Ehefrauen von Hafenarbeitern im Streik, oder die Nachkommen von Minenarbeitern – ihre Geschichten mögen unspektakulär sein, aber durch die konzentrierte Anteilnahme von Varda und JR bekommen sie die Bedeutung, die sie verdienen. Es geht hier um nicht mehr und nicht weniger als das Menschsein, um die kleinen Momente, wenn man erkennt, dass jedes Leben wertvoll und voller Bedeutung ist, die getragen wird von den Begegnungen, die wir unterwegs haben. Agnès Varda und JR leben das in ihrem wunderschönen Film vor.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmladen)

A Beautiful Day (2017)

Regie: Lynne Ramsay
Original-Titel: You Were Never Really Here
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Thriller
IMDB-Link: You Were Never Really Here


Der müde Joe (Joaquin Phoenix) ist jener Mann, den man fürs Grobe herbeiruft. Der Mann ist ein Profi: Seine Waffen beschafft er sich einfach im Baumarkt. Und wenn er mal losgelassen wurde, hämmert er fröhlich auf alles ein, was sich ihm in den Weg stellt. Natürlich hat so einer wie Joe eine Vorgeschichte, doch die wird nur angedeutet. Häusliche Gewalt durch den Vater, traumatische Erlebnisse – immer wieder kommen in Flashbacks Bilder hoch, die aber keine eindeutige Antwort geben. Nun hat Joe einen neuen Auftrag: Er soll die Tochter des Gouverneurs finden, der sich gerade im Wahlkampf befindet und damit die Öffentlichkeit aus dem Spiel lassen möchte. Man vermutet, dass Nina einem Kindersexring in die Hände gefallen ist. Und so zieht Joe los, um den Schurken mal ein paar neue Gedanken in den Schädel zu hämmern und das Kind zu befreien. Doch dann kommt es doch etwas anders als erwartet, und plötzlich ist Joe persönlich involviert. Lynne Ramsay erzählt die Geschichte von „You Were Never Really Here“ (so der englische Originaltitel, der mit „A Beautiful Day“ einen neuen englischen Titel bekommen hat, weil wir uns im deutschsprachigen Raum so schwer tun mit Wörtern wie never und really und here) auf eine unerwartete, aber umso passendere Weise: Die Gewalt wird kaum explizit gezeigt, sondern man sieht lediglich die Auswirkungen dieser. Unterlegt vom grandiosen düsteren Soundtrack von Jonny Greenwood (was Musik betrifft, kann dieser Mann einfach alles) entsteht so eine Atmosphäre der vagen Andeutungen. Vieles bleibt unausgesprochen, aber man kann sich als Zuseher schon sein Bild zusammenreimen. Auch verzichtet Lynne Ramsay, ihren gebrochenen und ambivalenten Helden zu sehr in Stereotype verfallen zu lassen. Immer wieder überrascht die Figur durch sehr menschliche Handlungen in unerwarteten Situationen, und man weiß, dass da einer ist, der selbst zutiefst verwundet ist und eigentlich gar nicht so sein möchte, wie er ist. Joaquin Phoenix spielt Joe mit einer unglaublichen physischen Präsenz und liefert tatsächlich einen weiteren Meilenstein in seiner ohnehin schon eindrucksvollen Karriere hin. Ich wittere Oscar-Nominierungen im nächsten Jahr für Phoenix, das Drehbuch, die Musik und vielleicht sogar für Regie und Film.


8,0
von 10 Kürbissen

Duty (2017)

Regie: Annemarie Jacir
Original-Titel: Wajib
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Wajib


Mein letzter Festival-Film des diesjährigen Crossing Europe Film Festivals in Linz spielt wieder in Israel, und wieder, wie auch in „Namrud (Troublemaker)“ geht es um die palästinensische Gemeinschaft. Shadi ist aus Italien zurückgekehrt in die alte Heimat, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat, um seinem Vater bei der Organisation der Hochzeit seiner Schwester zu helfen. Der Film konzentriert sich dabei auf einen Tag, an dem die beiden die offiziellen Einladungen zustellen. Das muss persönlich erfolgen, denn das ist „Wajib“, also die Pflicht des Vaters, der die Hochzeit ausrichtet. Vater und Sohn kommen gut miteinander aus, doch bald werden die Gräben sichtbar, die im Laufe der Jahre durch die unterschiedlichen Lebensweisen entstanden sind. Während der Vater sein ganzes Leben lang in Israel gelebt hat und gelernt hat, sich den Gepflogenheiten und Verpflichtungen, die man als Palästinenser im Land hat, anzupassen, findet sich der Sohn, vom westlichen Leben in Italien geprägt, nur schwer zurecht inmitten der Rituale, die notwendig sind. Diese sind zum Einen kulturell geprägt, zum Anderen zum Teil auch pragmatisch. So muss der Israeli Ronnie Avi zur Hochzeit eingeladen werden. Der Vater bezeichnet Ronnie Avi als alten Freund, der Sohn als Spitzel des israelischen Geheimdienstes, der hauptverantwortlich dafür war, dass er damals das Land verlassen musste. Doch die Einladung von Ronnie Avi ist nicht der einzige Streitpunkt zwischen Vater und Sohn. Der Sohn lebt in Italien in einer glücklichen Beziehung und denkt nicht an die dauerhafte Rückkehr in die Heimat, der Vater hätte gern, dass er hier wieder sesshaft wird und eine Einheimische heiratet. Auch über den Hochzeitssänger wird lauthals gestritten. Und über die Mutter, die in den USA lebt, nachdem sie die Familie verlassen hat. Und nun liegt ihr zweiter Ehemann im Sterben und es ist unklar, ob sie zur Hochzeit kommen kann – was der Vater persönlich nimmt. All diese Konflikte und Reibereien werden aber mit viel Humor vorgetragen, und es ist klar, dass die beiden, Vater und Sohn, trotz aller Unterschiede viel Liebe füreinander empfinden. Und das ist die große Stärke des Films: Er ist wunderbar menschlich und zeigt die Protagonisten mit Stärken und Schwächen, aber im ehrlichen Bemühen, miteinander gut auszukommen. Auf einer subtilen Ebene wird auch vom Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erzählt. Aber das Herzstück des Films ist die Vater-Sohn-Geschichte und die Annäherung der beiden, wie sie versuchen, ihre beiden Welten in Einklang zu bringen und sich neu kennenzulernen. Und das zeigt Annemarie Jacir mit viel Einfühlungsvermögen, ehrlichen Charakteren, einer Prise Humor und einem guten Gefühl für Rhythmus, denn auch wenn der Film ruhig und unspektakulär erzählt wird, ist er nie auch nur einen Moment lang uninteressant oder gar langweilig. Ein weiteres Festival-Highlight zum Abschluss.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Little Crusader (2017)

Regie: Václav Kadrnka
Original-Titel: Křižáček
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Historienfilm
IMDB-Link: Křižáček


„Little Crusader“ ist der erste tschechische Film, der mit dem Hauptpreis auf dem heimischen Filmfestival in Karlovy Vary ausgezeichnet wurde. Und wie so oft: Man kann über solche Preisverleihungen trefflich streiten. Der in blassen Farben und im ungewöhnlichen Academy-Format (1 : 1,37) gedrehte Film erzählt eine sehr simple Geschichte: Der junge Jenik reißt von der Heimatburg aus, um auf Kreuzzug zu gehen, sein Vater, der alte Ritter Borek, sucht ihn. Und ja, das ist dann auch schon die ganze Geschichte. Zwischendurch schließt sich ein junger Ritter dem Suchenden an, und mal spielen Kinder im Feld oder führen ein Theaterstück auf. Meistens aber wird schweigend durch die Gegend geritten. Es entsteht der Eindruck, dass man im Mittelalter nicht gesprochen, sondern nur das Gegenüber nach einer Frage minutenlang angestarrt hat. Passiv-aggressive Reaktionen auf blöde Fragen hatten die offenbar drauf. Eine Entwicklung der Charaktere ist nicht bemerkbar, dramaturgische Höhepunkte gibt es keine – der Film fließt mit minutenlangen Einstellungen einfach so dahin, ohne das Publikum mit Handlung zu schocken. Irgendwie hat das ja auch etwas. Und die Bilder sind schön anzusehen. Unterm Strich ist „Litte Crusader“ aber eine sehr dünne Suppe. Schöne Bilder allein reichen nicht. Handlungsarmut ist auch okay, aber wenn man das Gefühl hat, dass nicht die kleinste Veränderung in den Figuren passiert, dass man am Ende keine Botschaft mitnehmen kann, keinen Gedanken, den man selbst fortführen könnte, so ist das halt einfach zu wenig. Das haben offenbar auch einige andere Filmkritiker gesehen, die eine Diskussion darüber losgetreten haben, warum dieser Film den Hauptpreis in Karlovy Vary erhalten hat. Denn, wie gesagt: Über solche Preisverleihungen kann man trefflich streiten.


4,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Namrud (Troublemaker) (2017)

Regie: Fernando Romero-Forsthuber
Original-Titel: Namrud (Troublemaker)
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Namrud (Troublemaker)


Nach „Lucica und ihre Kinder“ und „A Woman Captured“ war „Namrud (Troublemaker“ nun der dritte Dokumentarfilm in Folge, in dem die persönliche Beziehung zwischen  dem Filmschaffenden und der gefilmten/porträtierten Person dem Film eine zusätzliche Komponente hinzufügt. Jowan Safadi, der Held von Fernando Romero-Forsthubers Film, ist nämlich ein guter Freund des Filmemachers. Dieser hat den Palästinenser Jowan in seiner Heimat Haifa besucht. Jowan gehört der arabischen Minderheit des Landes an. Mit seiner Musik versucht er, die Alltagsdiskriminierung, die dem Volk der Palästinenser widerfährt, aufzuzeigen und gleichzeitig aber auch Brücken zu schlagen. Ein Song, den er auf Hebräisch veröffentlicht und in dem er die jüdische Bevölkerung direkt adressiert, sorgt für einigen Wirbel. Der Film zeichnet die Entstehungsgeschichte des Songs bis zu einem Konzert in Jerusalem nach. Gleichzeitig zeigt Romero-Forsthuber aber auch die Beziehung zwischen Jowan und seinem Sohn Don, der lange Zeit in den USA gelebt hat. Sowohl Jowan als auch Don sind progressive, weltoffene Menschen, die gerne die Restriktionen, die durch Nationalismus in unserer Gesellschaft entstehen, überwinden möchten, die aber aus ihrer eigenen persönlichen Lebenserfahrung heraus knapp davor stehen, zu resignieren. „Palästina ist tot“, meint einmal Don bei einem Strandspaziergang. Und wenn man sich die verhärteten Fronten im Nahen Osten ansieht, glaubt zu begreifen, wie ein unmittelbar Betroffener zu dieser Einschätzung kommt. Jowan weiß, dass seine Musik nicht viel ändern wird, aber sie ist sein Mittel, um mit den Umständen zurecht zu kommen, um sein eigenes, persönliches Zeichen zu setzen. Das alles ist durchaus interessant – da sowohl der Riss durch die Gesellschaft spürbar gemacht wird als auch die Momente gezeigt werden, in denen die Menschen zusammenfinden – und wenn es auch nur für einen Abend bei einem Konzert ist. Allerdings ist der Film durch seinen engen Fokus auf Jowan recht einseitig. Es wird die Gemeinschaft der arabischen Palästinenser gezeigt – weniger aber das direkte Zusammenleben, die Repressalien des Alltags, auch kommen keine jüdischen Stimmen zu Wort. So ist „Namrud (Troublemaker)“ ein interessantes Künstlerporträt, aber nicht unbedingt ein Film, der den Konflikt in Israel breiter beleuchtet.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

A Woman Captured (2017)

Regie: Bernadett Tuza-Ritter
Original-Titel: A Woman Captured
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: A Woman Captured


Ich konnte ja bislang auf dem Crossing Europe Festival schon einige gute Filme sehen, aber der Film, der wohl am meisten hängenbleiben wird, ist die Dokumentation „A Woman Captured“ von Bernadett Tuza-Ritter. Eigentlich wollte Tuza-Ritter für ihr Filmstudium nur eine fünfminütige Dokumentation über einen Tag einer beliebigen Person drehen. Sie wusste, dass eine ihr bekannte Familie Haushälter beschäftigen würde – und so hatte sie die Idee, Marish, eine der Haushälterinnen, zu porträtieren. Während des Filmens stellte sie aber fest, dass etwas im Argen lag. Marish bekam keinen Lohn, ihr Pass und ihre ID waren von der Familie eingezogen worden, und sie erzählte von körperlichem Missbrauch. Unter der Bedingung, dass nur Marish zu sehen sein würde, und im Glauben, dass es sich immer noch um eine unverfängliche Darstellung eines normalen Arbeitstages handeln würde, willigten Eta und ihre Familie ein, dass Tuza-Ritter weiterdrehen durfte. Insgesamt 1,5 Jahre verbrachte sie mit Marish, und aus dem Kurzporträt der Frau wurde eine erdrückende Dokumentation über moderne Sklaverei und die wiederum zu einer Geschichte über eine Befreiung – möglich nur dank der Unterstützung von Tuza-Ritter, die Marish die ganze Zeit über beistand. Denn schon sehr früh in dieser Arbeitsbeziehung, die sich bald zu einer Freundschaft ausweitete, wusste Tuza-Ritter, dass sie die wichtigsten Regeln des Dokumentarfilmens, nämlich unbeteiligt und objektiv zu bleiben, außer acht lassen würde, um der Frau zu helfen. Zumal es die Behörden im Land nicht taten, denen solche Probleme zwar bekannt sind, die sie aber ignorieren. Heute noch leben laut Tuza-Ritter 22.000 Menschen in Ungarn in einem der Sklaverei ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis und 1,2 Millionen innerhalb der Europäischen Union. Auch in Österreich gibt es laut dem Global Slavery Index immerhin 1.500 Menschen, die als moderne Sklaven arbeiten. „A Woman Captured“ ist ein aufrüttelndes Plädoyer dafür, sich diesem Problem endlich zu stellen. Gleichzeitig ist der Film ein einfühlsames Porträt einer unglaublich starken Frau, die von einem Leben in Terror zwar gezeichnet ist (die 53jährige sieht mindestens zwanzig Jahre älter aus), aber die dennoch ihren Lebensmut und ihren Humor nicht verloren hat. Die Szenen, in denen Tuza-Ritter Marish (die eigentlich Edit heißt, wie sie zu diesem Zeitpunkt erklärt – Marish war ihr Sklavenname, den ihr Eta gegeben hat) auf der Flucht und auf dem Weg in die Freiheit begleitet, möchte man eigentlich durchgehend bejubeln und beklatschen. Es macht sicherlich keine Freude, den Film anzusehen, zu sehr geht das Thema, geht das Schicksals von Marish an die Nieren, aber ich kann ihn uneingeschränkt empfehlen.


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

https://www.youtube.com/watch?v=Da9-_49p8dw

Good Favour (2017)

Regie: Rebecca Daly
Original-Titel: Good Favour
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama
IMDB-Link: Good Favour


Mitten im Wald liegt ein Dorf, in dem die Zeit stillgestanden zu sein scheint. In diesem Dorf lebt eine christliche Gemeinschaft, die sich sektengleich völlig abschottet von der Außenwelt. Allerdings sind die Menschen nicht fanatisch, nur sehr gläubig. Dass sie freundliche Zeitgenossen sind, zeigt sich schon bald, als es den siebzehnjährigen Tom ins Dorf verschlägt. Er kommt aus dem Wald, ist verwundet, hungrig und durstig und hat keine Erinnerung an ein Vorher. Die Menschen nehmen den schweigsamen Außenseiter auf, und allmählich gliedert er sich in das Dorfleben ein. Doch er trägt ein Geheimnis mit sich, von dem er sogar selbst nichts wusste. Rebecca Dalys Film ist vor allen Dingen rätselhaft. Nur wenig wird erklärt. Was hat es mit der englischsprachigen, christlichen Gemeinschaft in einem deutschen Wald auf sich? (Dass sich das Dorf in Deutschland befindet, bekommt man nur recht spät in einer kleinen, unbedeutenden Szene mit.) Woher kommt Tom, und warum hat er keine Erinnerungen? Was hat es mit den Wunden auf sich, die er aus dem Wald mitgebracht hat? Nichts davon wird wirklich aufgeschlüsselt, und viele Szenen bleiben symbolhaft und verschließen sich allzu schneller Interpretationen. Am Ende wird das Bild klarer (da hätte ich mir an einer Stelle sogar ein wenig mehr Subtilität gewünscht), aber auch da lässt Rebecca Daly viele Möglichkeiten offen. „Good Favour“ ist ein Film, über den man noch lange nachdenkt, und der zu Diskussionen anregt. Definitiv sehenswert!


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

https://www.youtube.com/watch?v=OmxgHsZWrJ4

Revenge (2017)

Regie: Coralie Fargeat
Original-Titel: Revenge
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Thriller, Action
IMDB-Link: Revenge


„Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird.“ So ein Klingonen-Sprichwort. Das junge Model Jennifer (Matilda Lutz) hat Star Trek offenbar nie gesehen, denn ihr kann es nicht schnell genug gehen mit dem Zahltag, nachdem sie vergewaltigt, einen Abgrund hinabgestoßen und aufgespießt worden ist. Wie durch ein Wunder überlebt sie diese Tortur, und klar, sie hat jetzt nicht nur einen Pflock, sondern auch eine Mordswut im Bauch. Dass die drei Herrschaften, die ihr das angetan haben, den nur halbherzig ausgeführten Job, sie über den Jordan gehen zu lassen, nun beenden wollen, kommt ihr gerade recht. Und so entspinnt sich ein Katz-und-Maus-Spiel in der Wüste. „Die Schwierigkeit beim Katz-und-Maus-Spiel ist zu wissen, wer die Katze ist.“ Ein weiteres schönes Filmzitat aus „Jagd auf Roter Oktober“. „Revenge“ von Coralie Fargeat ist eine heiße Angelegenheit. Hier wird geschwitzt und geflucht und vor allem geblutet, was nur geht. Ein schwer verletztes Model gegen drei bewaffnete Jäger. Subtile Zwischentöne oder allzu viel Wert auf Logik darf man von diesem Film nicht erwarten. Jeder Mensch hat zwischen 5 und 7 Litern Blut im Körper. In diesem Film blutet jeder mindestens 20 Liter raus. Aber egal, der Film macht einfach Spaß. Vielleicht ist „Revenge“ nicht unbedingt der originellste Beitrag zum Exploitation-Genre, aber wohl einer der am besten gefilmten. Wenn beispielsweise eine Ameise unter aus subjektiver Ameisensicht wahrgenommenem Artilleriebeschuss durch Blutstropfen steht und ihr Heil zwischen den donnernden Einschlägen sucht, so ist das einfach verdammt gut gemacht und extrem unterhaltsam. Auch ist stets spürbar, dass der Film von einer Frau gedreht wurde. Jennifer ist einfach badass. Wird sie zu Beginn noch als leicht dümmliches Sexspielzeug des reichen Schnösels dargestellt, zeigt sie im weiteren Verlauf den zunehmend weinerlichen Männern, wo der Barthel den Most herholt. Allerdings sei gewarnt: Wer mit empfindlichem Magen in den Film geht, wird den Inhalt desselben früher wieder zu Gesicht bekommen als erhofft. Und wer beim Anblick vom Blut in Ohnmacht fällt (soll’s ja geben), wird mindestens zwei Drittel des Films darniederliegen. Fazit: Gut gemachte, blutige Unterhaltung, die es einfach nur krachen lassen will, ohne weitere Ansprüche an Logik oder Anspruch zu stellen.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)