2016

Weiner (2016)

Regie: Josh Kriegman und Elyse Steinberg
Original-Titel: Weiner
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Weiner


Anthony Weiner war ein aufstrebender und streitbarer Kongressabgeordneter der Demokratischen Partei. Seine Karriere geriet ins Stocken, als herauskam, dass er ein Foto seines … Wieners … an eine junge Dame verschickt hatte, die nicht identisch war mit seiner Frau. Er tritt zurück. Gut, jeder macht mal einen Fehler, seine Frau hat ihm vergeben, die Öffentlichkeit kann es auch, also startet er zwei Jahre später überraschend erfolgreich eine Kampagne, um Bürgermeister von New York zu werden. Die Umfragen sehen ihn zeitweise sogar auf Platz 1. Doch dann … na ja, der Mann kann es einfach nicht lassen. Klingt wie eine bissige Politiksatire, ist aber, und jetzt kommt’s, eine wunderbare Dokumentation realer Ereignisse. Gleich zu Beginn des schreiend komischen Films sieht man Anthony Weiner, wie er kopfschüttelnd und mehr zu sich selbst als in die Kamera sagt: „Das ist der Tiefpunkt. Ich mache eine verdammte Dokumentation über meinen Sexskandal.“ Zwei Dinge machen diese Doku zu etwas ganz besonderem: Zum einen die Intimität der Aufnahmen, die selbst das Familienleben mit seiner Frau Huma, engste Beraterin von Hillary Clinton, und seinem Sohn zeigen, und die Person Anthony Weiner selbst. Ein charismatischer und authentischer Politiker, der eben nicht mit allen Wassern gewaschen ist, im Grunde eigentlich sympathisch, voller Elan und toller Pläne, witzig, selbstironisch, aber mit dem Problem, dass er weder den Mund noch den Hosenstall zumachen kann, wenn es angebracht erscheint. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Dokumentation im Rahmen der Viennale 2016 hätte ich mir durchaus vorstellen können, dass ich ihn trotz allem hätte wählen können, wäre ich denn wahlberechtigt gewesen. Aber nun der tragische Appendix der ganzen Geschichte: Ende 2017 wurde er wegen Sexting mit einer Minderjährigen zu fast zwei Jahren Gefängnis verdonnert. Die Abgründe sind oft noch tiefer, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Dennoch: „Weiner“ ist eine wirklich großartige Dokumentation (vielleicht eine der besten der letzten Jahre) über menschliche Schwächen und die Rolle der Medien, wenn es die Schwächen von Prominenten betrifft, die zu Tage gefördert werden.


8,0
von 10 Kürbissen

The Wedding Party (2016)

Regie: Kemi Adetiba
Original-Titel: The Wedding Party
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Rom-Com
IMDB-Link: The Wedding Party


Hochzeiten bieten Gelegenheiten zu hysterischen Auszuckern. Wenn etwas schief geht am größten und bedeutendsten Tag des Lebens, kann man schon mal die Nerven wegschmeißen. Filmemacher auf der ganzen Welt wissen das natürlich und schlachten auf halblustige bis lustige Weise diesen Topos gerne in romantischen Komödien aus. So verwundert es kaum, dass ausgerechnet „The Wedding Party“ der finanziell erfolgreichste Film in Nigeria aller Zeiten wurde – bis er von „The Wedding Party 2“ abgelöst wurde. Jedem Land sein „Hinterholz 8“. Was ich persönlich spannend fand, war die Sicht auf Nigeria, ein Land, zu dem ich persönlich so gut wie keinen Bezug habe. Vor zwei Jahren habe ich mal einen nigerianischen Film gesehen, „Green-White-Green“, aber das war’s mit meinen Nigeria-Erfahrungen dann auch schon wieder. Die Geschichte in „The Wedding Party“ ist allerdings universell. Sie funktioniert mit Ausnahme von ein paar folkloristischen Details und der babylonischen Sprachverwirrung zwischen Englisch und Yoruba und dem damit einhergehenden Status-Unterschied der beiden Familien, die hier zusammenfinden, im Grunde überall gleichermaßen. Hysterische Braut, überforderter Bräutigam mit Vorgeschichte, zickige High Society-Mutter, nerviges und übertrieben mütterlich dargestelltes Land-Ei als zweite Mutter, zwei Väter, die zu schlichten versuchen – man kann nicht sagen, dass die Geschichte auch nur irgendwo mit Originalität glänzt oder auch nur ein Statement abgeben möchte. Die lustigen Szenen sind leider im besten Fall halblustig, und dafür, dass es sich um eine Komödie handeln soll, blieb mir das Schmunzeln leider immer knapp unterhalb des faden Auges hängen. Dazu kommt, dass ca. 99% der engagierten Schauspieler leider überhaupt nicht schauspielern können. Da werden dramatisch Augen aufgerissen, Hände in die Hüften gestemmt – jede Telenovela bietet dagegen Oscar-reifes Schauspiel. So ist „The Wedding Party“ leider ein recht verunglückter Film aus meiner Sicht. Ich freue mich, dass so viele Nigerianer ihren Spaß damit hatten – und wahrscheinlich spielt auch der kulturelle Unterschied da mit rein, sodass mir als europäischem Rezipient wohl viele Details, die ein Nigerianer saukomisch findet, aus Unwissenheit schlicht entgangen sind – aber empfehlenswert ist der Film leider nicht.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 7 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


3,0
von 10 Kürbissen

Eddie the Eagle – Alles ist möglich (2016)

Regie: Dexter Fletcher
Original-Titel: Eddie the Eagle
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Komödie, Biopic, Sportfilm
IMDB-Link: Eddie the Eagle


Ich gebe zu: Ich habe ein Herz für Außenseiter-Geschichten über Menschen, die es vielleicht nicht ganz an die Spitze schaffen, aber mit Mut und Willensstärke der Welt beweisen, wie viel Größe in uns steckt, wenn wir an uns glauben. Ich liebe diese Momente des Triumphes und der Anerkennung. Und auch wenn ich kein leidenschaftlicher Skisprung-Fan bin, so verfolge ich diesen Sport doch schon seit meiner Kindheit mit Interesse und habe auch eine gewisse Ahnung davon. So gesehen war es klar, dass ich irgendwann „Eddie the Eagle“ sehen muss, die Biographie von Michael „Eddie“ Edwards, der 1988 Skisprung-Geschichte geschrieben hat als erster britischer Skispringer bei Olympia. Auch wenn ich mich selbst nicht mehr an Eddie the Eagle und seine legendären, viel umjubelten Sprünge erinnern kann, so ist mir seine Geschichte dennoch ein Begriff. Auf Youtube finden sich glücklicherweise einige Videos mit den besten Momenten in Eddies Karriere. Und was war das für eine faszinierende Persönlichkeit! Man muss sich das einmal vorstellen: Inmitten all der mageren, durchtrainierten Skisprung-Stars, die schon seit Kindesalter an diesen Sport leben, taucht ein leicht untersetzter Brite mit Brillengläsern so dick wie Aquarienbecken auf, der gerade einmal vor kurzem mit dem Sport begonnen hat, da er darin eine Chance gesehen hat, seinen Traum von den Olympischen Spielen zu verwirklichen – da es sonst innerhalb Großbritanniens keine Konkurrenz gab. Und dieser Mann nimmt sein Herz (und seine Cojones) in die Hand und schmeißt sich vom Bakken hinunter in dem Wissen, dass ihn der kleinste Fehler (und er ist weit davon entfernt, fehlerfrei springen zu können) ins Krankenhaus bringen wird. Herz, was willst du mehr? „Eddie the Eagle – Alles ist möglich“ zeichnet nun mit den klassischen (und überraschungsfreien) Mitteln eines Biopics diese unglaubliche Geschichte nach. Dass der Film trotz der guten Ausgangslage, den er bei mir hatte, bei mir dennoch nicht gezündet hat, ist einfach erklärt: Zum Einen ist die Geschichte zu frei interpretiert. Ja, man muss bei Verfilmungen biographischer Ereignisse immer zu dramaturgischen Kniffen greifen, um das Publikum nicht mit Redundanzen und Leerstellen, die ein Leben eben auch beinhaltet, zu langweilen und die Realität in das Spielfilmformat hineinzuschneiden. Aber wenn nur etwa 5% des Gezeigten mit der Realität übereinstimmen (dies eine Aussage von Eddie Edwards, nachdem er den Film gesehen hat), kann man nicht mehr von kleinen dramaturgischen Anpassungen sprechen, sondern schlicht einer Verfälschung der Ereignisse. Kann man ja machen, nur sollte man das dann nicht mehr als die wahre Geschichte von Eddie the Eagle vermarkten. Ein zweiter Faktor ist die Schauspielleistung. Taron Egerton bemüht sich sehr, diesen schrägen Typen Eddie the Eagle zu verkörpern, verzerrt ihn aber bis zur Karikatur. Und Hugh Jackman spielt routiniert und gelangweilt und fügt dem Film so keinen echten Mehrwert hinzu. (Davon abgesehen ist gerade seine rein fiktive Figur das für mich Problematischste an der Geschichtsverzerrung, denn plötzlich werden die Erfolge, die eine historische Person gefeiert hat, einem fiktiven Charakter mit zugeschrieben.) Natürlich kann man sich „Eddie the Eagle“ dennoch gut ansehen – es ist ein routiniert gemachtes Wohlfühlkino für einen entspannten Sonntagabend. Und das Ende sorgte bei mir für eine Gänsehaut – was eben auch daran liegt, dass ich ein Faible für diese Außenseiter wie Eddie the Eagle habe. Ein richtig guter Film ist das aber nicht geworden.

Übrigens scheint Calgary 1988 ein guter Nährboden gewesen zu sein für spektakuläre Außenseiter-Geschichten. „Das geht über eure Vorstellungskraft: Jamaica hat ’ne Bob-Mannschaft!“ Aber das ist eine andere Geschichte.

Dieser Film ist als Reiseetappe # 40 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


5,0
von 10 Kürbissen

Das Mädchen aus dem Norden (2016)

Regie: Amanda Kernell
Original-Titel: Sameblod
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: Sameblod


Seit einer Woche hat das Filmcasino in Wien nach der Übernahme des Filmhauses am Spittelberg einen neuen Ableger. Gemütliche Atmosphäre, sympathische Mitarbeiter, die mit allem noch ein bisschen überfordert sind (wird schon noch) und auf der Playlist der angeschlossenen Bar Joy Division, The Breeders und Fugazi. Feels like home. Mein Einstand war nun „Sameblod“ aus Schweden. Wir wissen ja seit Hans Huber: Die Schweeeeeeden sind ein ganz harter Brocken! Trifft das nun auch auf Amanda Kernells ersten Langfilm zu? Ein Schwergewicht ist „Sameblod“ jedenfalls, was Filmpreise und Auszeichnungen betrifft. Venedig, Tokyo, Göteborg, Thessaloniki, Seattle – das ist nur ein Auszug der Festivals, die den Film mit einem oder mehreren Preisen ausgezeichnet haben. Und nach Sichtung des Films kann ich sagen: Das ist absolut nachvollziehbar. Denn „Sameblod“ ist ein gut gemachtes, vor allem exzellent gespieltes Drama, das sich mit der Geschichte der Samen, der Indigenen des Nordens Europas, auseinandersetzt und die Unterdrückung und den Rassismus, der ihnen u.a. in Schweden lange Zeit widerfahren ist, ohne Übertreibungen und Dramatisierungen sichtbar macht. Die großartige Newcomerin Lene Cecilia Sparrok spielt das Samenmädchen Elle-Marja, das nicht länger seinem Volk angehören möchte und davon träumt, in die Stadt zu gehen. Widerstand stößt es dabei auf allen Seiten: Das Unverständnis der Mutter, der Rassismus der Schweden, die Überheblichkeit ihrer Lehrerin, das Zerwürfnis mit der Schwester. Dennoch geht sie mutig ihren Weg, nabelt sich dabei von ihrer Kultur ab auf der Suche nach einem besseren Leben. Doch kann man das alte Leben und die Kultur, in der man aufgewachsen ist, sogar den Namen so einfach abstreifen? Amanda Kernell gibt dazu kein klares Statement ab. Auch am Ende, wenn sich der Kreis schließt und die alte Elle-Marja (Maj-Doris Rimpi mit einer unfassbar physischen Präsenz), die nach ihrem Fortgang den Rest ihres Lebens nur noch als Christina bekannt war, zur Beerdigung ihrer Schwester ins Land der Samen zurückreist, gibt es keine klaren Antworten, nur die Verwundungen eines Lebens, die sich in den Augen spiegeln. Was vielleicht ein wenig zu kurz kommt, ist die historische Anmutung. Der Hauptteil der Handlung spielt in den 30er Jahren, und davon ist nicht viel zu spüren. Auch auf das Leben der Samen wird nicht wirklich eingegangen, hier fehlt vielleicht das eine oder andere kleine Puzzleteil zu einem noch besseren Verständnis des Films, aber dennoch ist „Sameblod“ sehr eindringlich und gut gemacht. Ein würdiger Auftakt für das neue Filmhaus am Spittelberg.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)

The Woman Who Left (2016)

Regie: Lav Diaz
Original-Titel: Ang Babaeng Humayo
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: Ang Babaeng Humayo


Bei manchen Regisseuren empfiehlt es sich, zunächst einmal als Einstieg einen Kurzfilm anzusehen, um sich mit dem Stil vertraut zu machen und zu überprüfen, ob die Bildsprache und Komposition dem eigenen Geschmack entsprechen. So auch bei Lav Diaz. Bevor man sich also an seine Langfilme macht, kann man mal einen Blick wagen auf seinen nicht einmal 4 Stunden dauernden Kurzfilm „The Woman Who Left“, der erfreulicherweise gerade im Wiener Metro Kino läuft. Diese Gelegenheit musste ich nutzen. Und auch wenn der Film stellenweise aufgrund seiner Kürze arg gehetzt wirkt und man manche Handlungsstränge durchaus ordentlicher hätte auserzählen können, so ist dieser erste Appetithappen ein schmackhafter. Die Geschichte ist natürlich sehr ökonomisch angelegt (anders brächte man sie in der kurzen Spieldauer auch gar nicht unter): Eine Frau kommt nach dreißig Jahren aus dem Gefängnis, die sie unschuldig einsitzen musste. Ausgerechnet die Mitinsassin und gute Freundin war geständig, den Ehemann der Frau im Auftrag ihres Ex-Lovers aus dem Weg geräumt und ihr den Mord in die Schuhe geschoben zu haben. Nun ist die Frau auf Rache aus und fährt in die Stadt, in der sich ihr ehemaliger Liebhaber, ein mächtiger Gangsterboss, verschanzt hat. Dort lernt sie einige Außenseiter der Gesellschaft kennen: einen buckligen Straßenverkäufer, eine verrückte Obdachlose, einen viel geschundenen Transvestiten. Alle Kalauer mal beiseite – wie vielleicht schon zwischen den Zeilen angedeutet wurde, nimmt sich „The Woman Who Left“ wirklich viel Zeit für seine Geschichte und seine Figuren. Was vordergründig als Rachegeschichte a la „Kill Bill“ angelegt ist, entpuppt sich als sehr menschliches Drama rund um die Außenseiter dieser Geschichte, die immer mehr in den Vordergrund rücken. Horacia, die unschuldige Insassin, begegnet all diesen Menschen mit viel Respekt und Zuneigung, und allmählich treten die Rachegelüste zurück zugunsten einer Wertschätzung für das Leben im Generellen. Gedreht in formal strengem Schwarz-Weiß mit ruhigen, statischen Kameraeinstellungen (bis auf eine Ausnahme) konzentriert sich der Film dabei voll und ganz auf die Begegnungen seiner Figuren, auf die vielen zarten Momente des Kennenlernens und wachsenden Vertrauens. Viele dieser Momente wirken zunächst redundant, greifen aber nach und nach ineinander und tragen dazu bei, dass man als Zuseher den Figuren immer näher kommt. So überrascht es auch nicht, dass der Film in der ersten Hälfte tatsächlich einige Längen aufweist, in der zweiten aber mit jeder Einstellung interessanter wird, da einem die Figuren vertrauter sind, als wären sie nahe Verwandte, die einem ihre Geschichte erzählen. Am Ende findet der Film sogar wieder den Bogen zurück zu seinem Anfang, und die letzte Szene ist ambivalent und auf eine unbestimmte Weise erschütternd. Ein Meisterwerk, für das man viel Sitzfleisch benötigt und das sicherlich nicht jederzeit und in jeder Stimmungslage angesehen werden kann, das sich aber, am richtigen Tag gesehen, sehr lohnt und den Horizont des Zusehers erweitert.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 4 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Filmgarten)

American Honey (2016)

Regie: Andrea Arnold
Original-Titel: American Honey
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Roadmovie, Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: American Honey


„American Honey“ ist kompromisslos. Gleich zu Beginn wird das Setting mit wenigen Bildern aufgebaut, wenn die 18jährige Star (Laiendarstellerin Sasha Lane, die ihre Sache großartig macht) aus dem Abfall eines Supermarktes ein halb aufgetautes Tiefkühlhuhn hervorfischt, das sie ihren beiden Halbgeschwistern zum Spielen hinwirft. Dieser Film spielt im finsteren Amerika, Land der begrenzten Möglichkeiten. Eine Chance ergibt sich für Star, als sie im Supermarkt auf den charismatischen Jake (Shia LaBeouf in einer Rolle, in der er mir mal nicht auf die Nerven geht) trifft. Der arbeitet für Krystal (Riley Keough), die aussieht, als würde sie im Trailerpark leben, sich aber als toughe Geschäftsfrau gibt. So hat sie eine Truppe von Jugendlichen zusammengezogen, die als Keiler von Tür zu Tür gehen, um Zeitschriftenabos zu verkaufen. Das eine oder andere Souvenir wird dabei gerne mal mitgenommen. Star schließt sich der Runde an, die ihr eine Alternative zu ihrem Tiefkühlhuhnleben bietet. Und Jake ist ja irgendwie schnuckelig. Andrea Arnold macht es ihrem Publikum mit „American Honey“ nicht leicht. Fast drei Stunden beobachtet sie akribisch und mit vielen Nahaufnahmen das Treiben der Jugendliche, wie sie ihrer Arbeit nachgehen, wie sie am Abend danach feiern, wie sie im Bus durch den Mittleren Westen fahren und dabei Musik hören. Es geschieht nicht viel. Die Dramen spielen sich eher im Kleinen ab, kleinere Eifersüchteleien, der Druck, Geld verdienen zu müssen, die Andeutung einer Entwurzelung, die ein unstetes Leben mit sich bringt. Meistens blödeln die Jugendlichen herum, spielen sich auf, markieren den starken Mann und die harte Frau – es ist trotz aller Kumbaya-Lagerfeuerromantik ein fordernde Welt mit klaren Regeln, und wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt Probleme. Besser also, mit Coolness die eigenen Ängste herunterspielen. Dabei dreht Andrea Arnold den Hahn vielleicht das eine oder andere Mal etwas zu weit auf. So authentisch die Jugendlichen (allesamt Laiendarsteller/innen) auch wirken, aber es fehlen die leiseren Zwischentöne. Andererseits wiederum fehlt es diesen jungen Menschen vielleicht auch einfach an den Gelegenheiten, mal die Deckung runterzunehmen. Star ist diesbezüglich eh die Ausnahme. So konzentriert sich die Kamera auch ganz auf sie. Gedreht in teils wackeligen, aber wunderschönen 4:3-Bildern entsteht ein fast intimes Porträt der jungen Frau. So ist der Film trotz seiner langen Laufzeit stets intensiv und interessant, auch wenn die Handlung selbst nur wenige Fortschritte zeigt. Aber auch das ist in sich stimmig, denn für viele Menschen aus prekären Verhältnissen ist das Leben tatsächlich eine immer wieder kehrende Momentaufnahme, eine Abfolge von Wiederholungen, und neue Perspektiven bieten sich nur selten, wenn überhaupt.


8,0
von 10 Kürbissen

Colossal (2016)

Regie: Nacho Vigalondo
Original-Titel: Colossal
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Fantasy, Science Fiction, Thriller
IMDB-Link: Colossal


Meine Kinokomplizin, die den Film vorgeschlagen hat, hat mir im Vorfeld eingeschärft: „Versuch, nichts über den Film zu lesen, keine Kritiken, schau keinen Trailer dazu an.“ (Jo, was haben wir hier unten? Genau – einen Trailer. Allerdings möchte ich niemanden bevormunden – die Willensstarken unter euch werden es schaffen, das Youtube-Video nicht anzuklicken, und für das schwache Gewürm unter euch, har har, – oder einfach jene, denen Spoiler egal sind – möchte ich nicht auf den gewohnten Service verzichten.) Jedenfalls wertet es „Colossal“ auf, wenn man nicht genau weiß, worum es geht. So viel sei vorab verraten: Die arbeitslose Alkoholikerin Gloria (eine wie immer entzückende Anne Hathaway) fliegt aus der Wohnung ihres Verlobten und stattet daraufhin ihrem Heimatdorf einen Besuch ab. Währenddessen legt ein Monster Seoul, die Hauptstadt Südkoreas, in Schutt und Asche. Was eine Mischung aus Selbstfindung und Godzilla-Variation beginnt, formt sich allmählich zu einem Kampf gegen die inneren Dämonen.  Jede weitere Information zur Handlung des Films wäre schon eine Information zu viel. Jetzt kommt mein „Aber“: Aber leider ist die Umsetzung dieser an sich interessanten Grundidee bestenfalls mittelprächtig. Der Regisseur, Nacho Vigalondo, ist bei mir bereits einmal durchgefallen mit einer ähnlichen Ausgangsbasis: Gute Idee, schlecht umgesetzt. „Open Windows“ hieß das Werkl, das ich nicht unbedingt hymnisch besprochen habe. „Colossal“ ist jedenfalls ein Schritt nach vorne. Denn unterhaltsam ist der Film und durch die Fokussierung auf das Kleinstadt-Setting und deren Bewohner auch prinzipiell interessant. Allerdings geht „Colossal“ einigen sehr spannenden moralischen und ethischen Fragen aus dem Weg (wie auch „Open Windows“) und konzentriert sich stattdessen lieber auf den Thriller-Aspekt und auf Schauwerte (die allerdings nicht immer befriedigend ausfallen – da ist man heutzutage einfach an Besseres in Sachen CGI gewöhnt). In Summe ist es leider nur ein besseres B-Movie, das von einer tollen Anne Hathaway und einer interessanten Ausgangsbasis lebt, aber dann auf dem Weg viel Potential liegen lässt.


5,5
von 10 Kürbissen

Raw (2016)

Regie: Julia Ducournau
Original-Titel: Grave
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Horror
IMDB-Link: Grave


Als „Raw“ 2016 in Toronto auf dem Filmfestival gezeigt wurde, fielen einige Zuseher in Ohnmacht und mussten medizinisch versorgt werden. Das Stadtkino-Publikum gestern hatte stärkere Mägen, und die Reaktionen auf den Film beschränkten sich auf entsetztes Aufstöhnen, gefolgt von hysterischem Gelächter. Aber die Reaktionen in beiden Fällen zeigen: „Raw“ ist heftig und bricht Tabus. Der Film handelt von der jungen Vegetarierin Justine, die an der Universität, auf der auch schon ihre ältere Schwester eingeschrieben ist, das Studium der Veterinärmedizin aufnimmt. Dabei muss sie mühsame und seltsame Initiationsriten durchlaufen – was darin gipfelt, dass sie als Vegetarierin rohe Hasennieren essen muss. Ihre Schwester nötigt sie dazu und enthüllt dadurch, dass sie selbst keine Vegetarierin mehr ist. Justines Reaktion auf das ungewohnte Fleisch fällt heftig aus: Sie bekommt überall am Körper einen juckenden Ausschlag. Und sie entwickelt seltsame Gelüste – auf Fleisch. Dieser Hunger lässt sich nur schwer stillen, wie sie herausfindet. Bald reicht ihr der Hamburger nicht mehr, und sie beißt in das rohe Putenfilet. Und als bei einem Unfall ihre Schwester einen Finger verliert, erweist sich dieser als schmackhaft wie ein Hühnerhaxen. Die Büchse der Pandora ist damit endgültig offen. „Raw“ ist eine etwas andere Coming of Age-Geschichte. Hinter dem Topos des Horrorfilms verbirgt sich nämlich die Frage nach verborgenen (und verbotenen) Gelüsten und Selbstkontrolle. Der Film taucht damit tief in die menschliche Natur ein. Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn alle Menschen einfach nur ihren Trieben und Gelüsten nachgeben würden? In Extremsituationen sieht man oft, wie die gesellschaftlich konstituierte Schranke, die unsere niederen Triebe zurückhält, eingerissen wird. „Raw“ macht im Grunde das Gleiche – nur auf eine drastischere Weise, nämlich losgelöst von der Extremsituation, ins Symbolhafte gedreht und projiziert auf eine absolute Sympathieträgerin, denn die nerdige, fleißige, unschuldige und hübsche Studentin, die Tierärztin werden möchte, ist jene Figur, die man am weitesten entfernt von solchen extremen Gelüsten glaubt. Das macht es umso unangenehmer, wenn sie gierig das aus dem Fingerstumpen ihrer Schwester tropfende Blut aufleckt. Fazit: Nur etwas für Saumägen.


7,0
von 10 Kürbissen

The Bad Batch (2016)

Regie: Ana Lily Amirpour
Original-Titel: The Bad Batch
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Horror, Thriller, Science Fiction
IMDB-Link: The Bad Batch


Ana Lily Amirpours erster Langfilm, „A Girl Walks Home Alone At Night“, eine feministische Schwarz-Weiß-Coming-of-Age-Vampir-Romanze, war eine Sensation. So war ich auch schon extrem gespannt auf ihr nächstes Werk, „The Bad Batch“, zumal sie dafür einige sehr namhafte Schauspieler gewinnen konnte (für zum Teil wirklich winzige Rollen): Jason Momoa. Keanu Reeves. Jim Carrey. Giovanni Ribisi. Diego Luna. Der Fokus liegt aber auf der von Suki Waterhouse gespielten Arlen. Der Film erzählt die Geschichte einer dystopischen Wüstenwelt, in der Menschen in zwei Kategorien fallen: Du frisst oder du wirst gefressen. Arlen hat zu Beginn das Pech, die Bekanntschaft mit der ersten Gruppe zu machen. Ein Arm und ein Bein müssen dran glauben, doch dann gelingt ihr die Flucht, und sie wird aufgenommen von einer Gemeinschaft in einer Stadt namens „Comfort“. Doch die beiden Welten vermischen sich bald wieder, als Arlen ein junges Kannibalen-Mädchen aufnimmt, deren Mutter sie erschossen hat. Und Papa macht sich bald auf den Weg.

„The Bad Batch“ ist vor allem eines: Seltsam. Die Welt, in der sich Arlen und der Zuseher wiederfindet, wird nicht näher erklärt. Die Motivationen der Menschen, ihre Handlungen, sind oft eine Zuspitzung unserer bestehenden Welt ins Degenerierte. Moral und Ethik scheinen auf unseren Werten aufzubauen, aber in manchen Punkten drastisch verschoben worden zu sein. Es wirkt, als hätte Ana Lily Amirpour den ganzen Dreck unserer Gesellschaft eingesammelt und daraus eine neue Welt gebastelt. Vergleiche mit „Mad Max“ sind durchaus zulässig. Im Grunde wirkt „The Bad Batch“ so, als wäre sie der Welt von „Mad Max“ entsprungen, quasi ein Seitenstrang der gleichen Geschichte, nur viel langsamer und noch rätselhafter. Oder aber man sehe sich einfach das Musikvideo „Sometimes I Feel So Deserted“ von den Chemical Brothers an – auch das spielt atmosphärisch im gleichen Umfeld. Da sich der Film aber nicht um Erklärungen bemüht, sondern ständig nur Fragen an den Zuseher zurückwirft, wirkt „The Bad Batch“ nicht ganz so stringent wie Amirpours Erstling „A Girl Walks Home Alone At Night“. Die Geschichte hat Längen, sie ist manchmal nicht einzuordnen und verstörend, manche Handlungsstränge sind – im Gesamten betrachtet – einfach nicht zwingend. Aber eine interessante Erfahrung ist „The Bad Batch“ aber allemal. Ein Film, der im Gedächtnis hängenbleibt.


6,5
von 10 Kürbissen

Jahrhundertfrauen (2016)

Regie: Mike Mills
Original-Titel: 20th Century Women
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: 20th Century Women


Gleich vorweg: „Jahrhundertfrauen“ ist ein dämlicher Titel. Er impliziert einen Film über Emanzipationsheldinnen oder sonstige unerreichbare Idole. „20th Century Women“, der Originaltitel des Films von Mike Mills, passt um Längen besser. Denn es geht ganz einfach um das sich verändernde Bild von Frauen und Familie Ende der 70er. Dorothea (die wunderbare Annette Bening, längst überreif für einen Oscar) ist die alleinstehende Mutter des pubertierenden Teenagers Jamieund Mitte Fünfzig. Weil ihr Haus sehr groß ist und ihr Herz auch, wohnen bei ihr noch die gerade vom Krebs genesene, ziellose Mittzwanzigerin Abby (Greta Gerwig in einer Greta Gerwig-Rolle) und der handwerklich geschickte Einzelgänger William (Billy Crudup, der gefälligst niemals wieder Rollen ohne Schnauzbart spielen soll). Außerdem schleicht sich in der Nacht Julie (Elle Fanning), eine gute Freundin von Jamie, ins Haus, um mit ihm über Gott und die Welt zu philosophieren. Anhand dieses Patchwork-Gefüges zeigt Mike Mills die gesellschaftlichen Veränderungen Mitte der 70er, Anfang der 80er auf, als das klassische Familienbild in einer Spätfolge der Hippie-Bewegung und der neuen Freiheit ins Wanken gerät. Das wird allerdings herrlich unprätentiös und so beiläufig abgehandelt, dass man erst beim Abspann über das Gesehene nachzudenken beginnt und die Implikationen der Veränderungen anhand der eigenen Familie und der Erfahrungen darin nachzuzeichnen beginnt. Der Fokus liegt bei „20th Century Women“ im Grunde immer bei seinen fünf Figuren und deren Beziehungen untereinander. Es geht um Liebe, um Zugehörigkeit, um Sex, um Familie, um das Erwachsenwerden, um Generationsgräben, um Krankheit und die Angst vor dem Tod. Das allerdings wird nie dick aufgetragen, sondern mit dem augenzwinkernden Humor der liebevoll gezeichneten Figuren abgehandelt. Schräge Montagen und gelegentliche Verfremdungseffekte zeichnen das Bild der ausgehenden 70er Jahre bunt, ohne diese zu verklären. Ein großer Wurf, der durch das durch die Bank überragende Spiel seiner Darstellerinnen und Darsteller noch zusätzlich an Hirn und Herz hinzugewinnt.


8,5
von 10 Kürbissen