Weitere Filmfestivals

Notre dame (2019)

Regie: Valérie Donzelli
Original-Titel: Notre dame
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Komödie, Liebesfilm, Satire
IMDB-Link: Notre dame


Es wirkt zunächst fast ein wenig seltsam, die Kathedrale von Notre-Dame in Paris zu sehen, wie sie sich bester Gesundheit erfreut, wenn man doch weiß, dass sie vier Monate zuvor gebrannt hat und dieser Tage einen traurigen Eindruck erweckt. Aber so ist das, wenn das Leben die Kunst überholt und vice versa. Den fehlenden Realitätsbezug auf dieser Ebene kann man Valérie Donzelli, die auch gleich die Hauptrolle der angehenden Architektin Maud übernommen hat, jedenfalls nicht anlasten. Sehr wohl aber auf allen anderen Ebenen. Denn der Versuch, originell zu sein, gelingt leider nur in den seltensten Fällen, beschränkt sich eigentlich nur darauf, dass zur Trennung die Beteiligten anfangen, ein trauriges Lied zu singen, was sie nun nie mehr tun werden. Ja, das hat Stil, ist komisch und durch und durch französisch. Aber die Geschichte rund um Maud, die versehentlich und dank etwas Magie einen Architektenwettbewerb über die Neugestaltung des Vorplatzes von Notre-Dame gewinnt, verfällt immer wieder in Kindereien wie zum Beispiel willkürliche Ohrfeigen in der Öffentlichkeit, heftige Ohnmachtsanfälle beim Anblick des Ex-Geliebten und hysterischen Möchtegern-Anwältinnen, die sich beim Anblick eines schönen Mannes nicht mehr halten können und denen, was das eigentliche Kerngebiet der Jurisprudenz betrifft, von eben jenen, juristisch unbeleckten Schönlingen aus der Patsche geholfen werden muss. Vielleicht existiert noch irgendwo ein Dorf, in dem man über so etwas lacht, mir fällt nur im Moment keines ein. Sympathisch sind immerhin die Darstellerinnen und Darsteller, die ihre Sache gut machen – soweit sie halt gegen diese Blödeleien ankämpfen können. Aber am Ende werden vielleicht zwei, drei gute Szenen, in denen der Film ausnahmsweise mal funktioniert hat, in Erinnerung bleiben und das vage Gefühl, dass man viel Potential verschenkt hat durch Hysterie und Volksschulhumor.


4,0
von 10 Kürbissen

Giraffe (2019)

Regie: Anna Sofie Hartmann
Original-Titel: Giraffe
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: Giraffe


Was das Tier, das in der ersten Einstellung so entspannt und fotogen sein Grünzeug kaut, mit dem Film zu tun haben soll, das erschließt sich bis zum Ende nicht. Aber die titelgebende Giraffe ist nicht das einzige Bild, das aus dem Kontext gerissen scheint. Vielmehr ist es Anna Sofie Hartmanns Stil, ihre Geschichte in Momentaufnahmen zu erzählen, die mal mehr, mal weniger zusammenhängen. Es geht um Grenzen – zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen dem Gestern, dem Heute und dem Morgen. Erzählt wird die Geschichte der Dänin Dara (Lisa Loven Kongsli), die Menschen und ihre Häuser festhält, ehe sie vom Fortschritt, der als gewaltiges Tunnelprojekt zwischen Dänemark und Deutschland daherkommt, hinweggespült werden. Ihr Interesse gilt dem Bewahren, gilt der Erinnerung. Dabei trifft sie auf den jüngeren polnischen Bauarbeiter Lucek (Jakub Gierszal). Dieser lebt in einer WG mit seiner polnischen Kollegen und bereitet die Baustelle für den Tunnelbau vor. Da beide nur temporär an diesem Ort sind – Dara lebt eigentlich in Berlin, wo sie auch einen Freund hat, Lucek vermisst Polen und ist nur für dieses Projekt hier – lassen sie sich auf eine Affäre ein. Unaufgeregt und in beinahe zufällig wirkenden Bildern überlässt es Regisseurin Hartmann dem Publikum, sich diesen Film zu erarbeiten. Am besten ist der Film, wenn er den polnischen Bauarbeiter folgt, ihrer lockerer Interaktion, in der die Entwurzelung aber stets präsent ist. In diesen Momenten erinnert der Film an den grandiosen Western von Valeska Grisebach. Leider aber hält der Film dieses Niveau nicht durchgängig, und viele Leerstellen führen zur Ermüdung. Eine interessante Erfahrung? Durchaus. Aber keine, die danach schreit, wiederholt werden zu müssen.


5,5
von 10 Kürbissen

The Fever (2019)

Regie: Maya Da-Rin
Original-Titel: A Febre
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Drama
IMDB-Link: A Febre


Locarno. Die Stadt der omnipräsenten gelben Leoparden. Irgendwie passend, dass mein Auftaktfilm des Festivals der Film „The Fever“ von Maya Da-Rin war, der in Manaus im Amazonasgebiet spielt. Ein Tier schleicht dort umher und reißt Schweine, ein Jaguar vielleicht. Die Probleme des indigenen Justino (Regis Myrupu) sind jedoch anders gelagert. Der nicht mehr ganz gute Mann arbeitet als Sicherheitskraft im Hafen von Manaus und wird von einer unerklärlichen Müdigkeit und einem gelegentlich auftretenden Fieber geplagt. Dass seine Tochter Vanessa (Rosa Peixoto) ein Stipendium für ein Medizinstudium in der weit entfernten Hauptstadt Brasilia bekommen hat, macht ihn zwar stolz, trägt aber zu seinem Kummer bei. Als dann die Verwandtschaft aus dem Dorf in die Stadt kommt und ihm seine Wurzeln vorführen, wird schließlich ein Prozess angestoßen, der sich zwar den ganzen Film lang unterschwellig ankündigt, aber dann in einfacher Klarheit überzeugt. Überhaupt ist Klarheit das bestimmende Merkmal von Maya Da-Rins Regiearbeit. Dieser Film hat kein Gramm Fett zu viel. Gleichzeitig lebt er von den Zwischentönen, vom Ungesagten, wenn Justino beispielsweise nach einem harten Arbeitstag mit dem Teller fürs Abendessen im Türrahmen steht und beim Essen still auf den gewaltigen Regenschauer blickt, der sich über die Stadt ergießt. Hier merkt man eine Sehnsucht nach etwas, das er, Justino, selbst nicht benennen kann. Überhaupt ziehe ich meinen Hut vor Regis Myrupu. So spärlich seine Mimik und Gestik auch sind, es gelingt ihm mit wenigen, sparsam eingesetzten Mitteln zu jedem Zeitpunkt, seinen Justino facettenreich darzustellen. Ein Lächeln genügt, und man blickt tief in die Seele. Ein gelungener Auftakt zu meinem persönlichen Locarno-Abenteuer.


7,5
von 10 Kürbissen

Located in Locarno: Ein Filmkürbis

Meine werten Damen und Herren, der Filmkürbis betritt neues Festivalterritorium. Und zwar wage ich mich zum ersten Mal aus der deutschsprachigen Komfortzone hervor und krame meine tief verschütteten Italienisch-Kenntnisse hervor, wenn ich im August das schöne Tessin besuche. Das Filmfestival in Locarno steht sehr weit oben auf meiner Liste der Festivals, die ich mal besuchen möchte – und dieses Jahr ist es soweit. Soeben habe ich erfahren, dass mein Antrag auf eine Presseakkreditierung durchging. Flüge und Unterkunft habe ich eh schon organisiert (I’m a gambling man), und nun habe ich auch meinen Deckel. Äh … mein Badge. Das Festivalprogramm habe ich schon mal gustiert. Da sind ein paar schmackhafte Filme dabei. Vor allem der Fokus auf Black Cinema im Rahmen einer breit angelegten Retrospektive taugt mir. Ihr werdet hier davon lesen. Am 10. August geht es los.

Springen! Rutschen! Unten helfen! – Mein Fazit des Crossing Europe Filmfestivals 2019

Mein zweiter Besuch des Crossing Europe Festivals in Linz unterschied sich vom ersten im vergangenen Jahr maßgeblich durch das Wetter. Während ich letztes Jahr kurzärmelig von Kino zu Kino raste, kam dieses Jahr das Wetter der Festivaldirektorin Christine Dollhofer entgegen. Auch deshalb konnte sich das Festival über etwa 1.000 Zuseher mehr als im Vorjahr freuen. Mitten drin: Ein kritischer Kürbis. Und der sah hauptsächlich Erbauliches. Das Festival war klug programmiert und bot Spannendes aus allen Ecken Europas. Der Kontinent zeigte in Linz mal wieder seine ganze Vielfalt. Wenn es dieses Jahr ein bestimmendes Thema gab unter den 21 Filmen, die ich letztlich sah, dann am ehesten die Familie und Zugehörigkeit. Es scheint fast, als würden sich Europas Filmschaffende in Zeiten des politischen Rechtsrucks auf den Mikrokosmos der eigenen vier Wände konzentrieren – sei es als Gegenentwurf zu der rauen politischen Lage oder auch begleitend dazu bzw. kommentierend. Und warum auch nicht? Gesellschaftliche Veränderungen können ja sehr gut anhand familiärer Beziehungen dargestellt werden.

Aber was kann ich nun empfehlen und was nicht? Hier die 21 Filme, sortiert anhand meiner Bewertung.

8,0:
Laika
Bait

7,5:
One and a Half Prince

7,0:
Hungary 2018
The Days to Come

Home Games
Normal
Tomka and His Friends

6,5:
Sons of Denmark
Transnistra
The Souvenir
Fugue

6,0:
Oray
Messer im Herz

One Day

5,5:
Arctic

5,0:
Winter Flies

4,5:
Mein Bruder kann tanzen
The Announcement

4,0:
Schwimmen

2,5:
Das melancholische Mädchen

Bis zu einer Bewertung von 6,0 kann ich die Filme ziemlich vorbehaltlos empfehlen. Darunter wird es dann schon etwas für Fans bzw. Liebhaber des jeweiligen Themas oder einzelner Teilaspekte.

Ach ja, wer wissen will, was es mit dem Titel dieses Beitrags auf sich hat, der möge sich das hier ansehen (was ich nicht weniger als 21 Mal getan habe, und das war dann doch etwas zu viel des Guten):

Fugue (2018)

Regie: Agnieszka Smoczyńska
Original-Titel: Fuga
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Fuga


Agnieszka Smoczyńska ist jene geniale Frau, die mit Sirenengesang das erste polnische Horrormusical über Meerjungfrauen auf die Leinwand gebracht hat (was wahrscheinlich auch das weltweit erste Horrormusical über Meerjungfrauen war). Ihr neuestes Werk „Fugue“ ist da deutlich gedämpfter und zurückhaltender, wenngleich der Einstieg schon ein Brett ist: Da kommt eine sichtlich desorientierte und schmutzige Frau in ihren Dreißigern aus einem U-Bahn-Schacht und klettert vor den verwirrten Blicken anderer Fahrgäste den Bahnsteig hoch. Diese Frau nennt sich Alicja, und sie hat keine Ahnung von ihrer Vergangenheit. Wenig später wird sie in einer TV-Show von ihrem Vater erkannt. Ihr Name ist Kinga, und sie gilt seit zwei Jahren als verschollen. Der Versuch, sie wieder in ihre Familie mit Ehemann und Sohn einzugliedern, geht zunächst ziemlich schief. Denn weder Alicja/Kinga noch ihr Ehemann oder ihr Sohn sind begeistert davon, wieder als Familie unter einem Dach leben zu müssen. Auch weist Alicja ein paar Wesenszüge und Eigenschaften auf, die befremdlich auf ihr Umfeld wirken. Die vermisste Kinga war anders. Der Film lässt sehr lange alle Interpretationsmöglichkeiten offen und die Zuseher fröhlich mitraten, was es mit der an Amnesie leidenden Frau auf sich hat. Smoczyńska weiß um den Suspense der Rätselhaftigkeit und nimmt sich Zeit für die Geschichte. Gabriela Muskała, die das Drehbuch geschrieben hat und für diesen Film auch gleich die Hauptrolle übernommen hat, legt ihre Alicja/Kinga auch ambivalent und spannend an: Man kann sich bei ihr nie sicher sein. Mal wirkt sie verletzlich, mal unnahbar, mal ängstlich und mal furchteinflößend. Diese Ambivalenz überträgt sich auf das familiäre Umfeld. Nach diesem Spannungsaufbau wirkt die Lösung am Ende fast banal. Aber der Weg dahin ist zumindest sehenswert. Ein durchaus gelungener Abschluss meines Besuchs des Crossing Europe Festivals 2019.

 


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Winter Flies (2018)

Regie: Olmo Omerzu
Original-Titel: Všechno bude
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Roadmovie, Komödie
IMDB-Link: Všechno bude


Auf diesen Film am letzten Tag des Crossing Europe Filmfestivals in Linz habe ich mich sehr gefreut. Ich mag Roadmovies. Ich mag Geschichten über Jugendliche, wie sie ausbrechen aus dem starren Gerüst, das sie zurückhält, und wie sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Der Geruch von Freiheit. Born to be wild. Vielleicht, weil ich selbst nie so ein Kind oder Jugendlicher war. Ich habe keinen Audi gestohlen, um damit quer durchs Land zu fahren. Und ich hatte keinen dicken Freund im Tarngewand an meiner Seite, der die ganze Zeit davon redet, endlich mal ein Mädchen flachzulegen. Stattdessen habe ich FIFA Soccer gezockt und dämliche Sitcoms angeschaut. Verwegene Freiheit: Wenn man mal im Garten die olympischen Spiele nachgespielt hat und beim Speerwurf mit Ast des Birnenbaums ein Kellerfenster dran glauben musste. Ja, in diesem Moment hätte ich mir gewünscht, in einem gestohlenen Auto abzuhauen mit einem Kumpel an meiner Seite. Und dann hätten wir vielleicht dieses eine hübsche Mädchen aufgegabelt und mitgenommen. Und wir hätten Abenteuer erlebt, andere, als wir uns vorgestellt haben, aber aufregend wären sie dennoch gewesen. Nachdem ich nun „Winter Flies“ von Olmo Omerzu gesehen habe, weiß ich aber: Es gibt für alles eine bestimmte Zeit. Ich habe sie damals verpasst. Vielleicht fiel es mir auch deshalb so schwer, mich in diesen Film, den ich so gern gemocht hätte, hineinfallen zu lassen. Ein anderer Faktor waren die Jugendlichen selbst, die trotz aller Bemühungen ihrer Hauptdarsteller für mich nicht glaubwürdig wirkten. Beziehungsweise zu eindimensional. Der Rebell. Der notgeile Dicke. Nur wenige Momente strahlen Glaubwürdigkeit aus, darunter eine sehr seltsame, aber doch nachvollziehbare Masturbationsszene. Aber unterm Strich konnte der Film mit meiner Erwartungshaltung nur viel zu selten mithalten. Sind wir doch ehrlich: Die besten Abenteuer sind die, die wir nie erlebt haben.


5,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

One Day (2018)

Regie: Zsófia Szylágyi
Original-Titel: Egy nap
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Egy nap


Familie ist doch etwas Wunderbares! Was gibt es Schöneres, als den aufmüpfigen Sohn auf den letzten Drücker in die Schule zu bringen, während die hyperaktive Tochter auf dem Rücksitz auszuckt und der Ehemann gerade überlegt, ob er die beste Freundin der Familie pudern soll oder nicht? Herzerfrischend ist das! Wenn dann auch noch der Abfluss kaputt ist, sich die Schwiegermutter mit ungewollten Ratschlägen und noch ungewollteren Taten ins Leben einmischt, die Tochter eine Freundin nach Hause bringt, die einem anderen Kind die Schuhe geklaut hat, da es diese schöner findet als die eigenen, der Sohn fast das Cello-Konzert verdaddelt, das er am nächsten Tag geben soll, und der Herr Gemahl immer noch abwesend ist, weil er vielleicht gerade die hübsche Freundin schnackselt, ist das Glück komplett. Zsófia Szylágyis Drama „One Day“ richtet sich an all jene Menschen, die gerade mit dem Gedanken spielen, eine Familie zu gründen. Ihre Botschaft ist laut und unmissverständlich. Sie lautet: „Tut! Es! NICHT!“ Rette sich, wer kann. Alles, was man euch über Familienglück und die Vervollständigung des eigenen Ichs durch die Weitergabe der eigenen Gen-Sequenz gesagt habt, ist eine glatte Lüge. Familie ist die Hölle. Außer, man ist der Ehegatte, der mit Gedanken einer außerehelichen Begattung schwanger geht, während zuhause das Familienleben sinkt wie die Titanic. Weil der kriegt von den ganzen Tragödien ja nichts mit. Erbaulich ist es nicht, Annas familiärer Katastrophe voyeuristisch beizuwohnen. Aber von Zsófia Szamosi famos gespielt und in der Wirkung wie ein Unfall: Man kann einfach nicht wegschauen.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Mein Bruder kann tanzen (2019)

Regie: Felicitas Sonvilla
Original-Titel: Mein Bruder kann tanzen
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Mein Bruder kann tanzen


Felicitas Sonvilla hat einen Bruder, der angeblich ganz gut tanzen kann. Und der Musik macht. Der in einer anderen Stadt lebt als sie selbst, in Wien nämlich. Und mit dem sie sich nicht gut versteht. Und weil das irgendwie oasch ist (auf gut Wienerisch), wenn sich Geschwister voneinander entfremdet haben, bricht sie mit ihrem Bruder Silvius, dessen Freundin und einer Kamerafrau in einem winzigen Auto, das so kaputt ist, dass man nur durch die Fenster einsteigen kann, von Wien aus Richtung Helsinki auf. Denn dort sind die beiden Geschwister einige Jahre lang aufgewachsen, dort verbinden sie gemeinsame Erinnerungen. Diese Versuchsanordnung, einen Film über die eigene Geschwisterbeziehung und sich selbst zu drehen, kann natürlich sehr leicht zu einer narzisstischen Nabelschau verkommen. Dieses Problem ist Felicitas Sonvilla natürlich bekannt, und sie adressiert es auch direkt zu Beginn ihrer Dokumentation. Was in diesem Film dann passiert, ist Folgendes: Er gerät zeitweise zu einer narzisstischen Nabelschau. Felicitas Sonvilla erzählt von einem Konflikt, den man als solchen von außen nicht erkennen kann. Auch dessen ist sie sich bewusst. Am Ende steht ein selbstironisches Fazit: „Vielleicht haben wir auch gar kein Problem, sondern sind einfach nur zwei Idioten“. So weit würde ich in meiner Bewertung nicht gehen, denn allein schon das Bewusstsein dessen, dass man hier vielleicht im Trüben fischt und einen Film über ein Nicht-Problem dreht, das man zu einem Konflikt hochstilisiert, bringt Sympathiewerte ein. Auch kann man in diesem Film durchaus etwas über übliche Geschwisterbeziehungen und ihre Auf und Abs erfahren. Im anschließenden Q&A erzählte die Regisseurin davon, dass sich durch diese Reise und den Film darüber die Beziehung zu ihrem Bruder tatsächlich gebessert hat. Allerdings werde ich trotz allem den Verdacht nicht los, dass der Film selbst aus neutraler Sicht und abseits therapeutischer Effekte eigentlich überflüssig ist. Und dafür gibt es dann am Ende doch nur 4 Punkte. Und einen halben Punkt noch als Bonus dazu für den vielleicht originellsten Filmtitel unter den von mir 21 am Crossing Europe Filmfestival gesichteten Filmen.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

One and a Half Prince (2018)

Regie: Ana Lungu
Original-Titel: Un print si jumatate
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Un print si jumatate


Drei befreundete Menschen in ihren 30ern leben zusammen in einer WG. Iris ist Schauspielerin und hat vor nicht allzu langer Zeit überraschend ihren Freund verloren. An dessen Tod kiefelt sie noch immer. Der schwule István ist ebenfalls Schauspieler und kommt dem, was man einen Dandy nennen würde, sehr nahe. Marius schließlich ist der bodenständigste unter ihnen. Er ist geschieden und kämpft darum, seine Tochter öfter zu sehen. Wie diese Freundschaft entstanden ist, bleibt in Ana Lungus Film „One and a Half Prince“ im Unklaren. Dass sie aber funktioniert, zeigt sie mit subtilen und gleichzeitig erfrischenden Mitteln. Wenn die drei blödeln mit Insider-Witzen, die für den Außenstehenden (und damit auch das Publikum) unverständlich bleiben, oder wenn sie über Gott und die Welt philosophieren – alles ist getragen von einem Gefühl der Authentizität. Ja, so sehen Freundschaften aus. Mit guten Momenten und schlechten. Und wie zerbrechlich Freundschaften auch sein können, zeigt Ana Lungu, in dem sie Iris für einen Schriftsteller schwärmen lässt, der ihr wie ein strahlender Prinz auf seinem edlen Ross erscheint. Um ihn für sich zu gewinnen, stellt sie auch die Bedürfnisse ihrer engsten Freunde zurück. Nicht rücksichtslos, nicht selbstsüchtig, aber einfach unachtsam, wie es eben manchmal geschieht. „One and a Half Prince“ lebt zum größten Teil von diesen echt wirkenden Dialogen, der Komik darin und den Nuancen wie eben diesen Insider-Witzen. Die Geschichte selbst gerät dabei fast zur Nebensache. Allerdings nur fast, denn wenn man genau hinsieht, findet man neben einer Geschichte über eine Freundschaft zwischen Erwachsenen und deren fragile Momente auch eine Geschichte über Trauerarbeit und Verlust. „One and a Half Prince“ ist sehr subtil angelegt und trifft damit vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber wer sich auf solche dialoglastigen Filme mit leisen Zwischentönen einlassen kann, wird damit seine Freude haben.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

https://www.youtube.com/watch?v=hF1yb5qQvt8