Weitere Filmfestivals

Lucica und ihre Kinder (2018)

Regie: Bettina Braun
Original-Titel: Lucica und ihre Kinder
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


Lucica hat es wirklich nicht leicht. Die 29jährige Rumänin lebt allein mit ihren 6 Kindern in Dortmund. Ihr Mann Daniel ist gerade aus dem Gefängnis raus, wo er wegen Diebstahl eingesessen ist, und direkt nach Rumänien abgeschoben worden. Nun darf er fünf Jahre lang nicht nach Deutschland einreisen. Lucica hat hinten und vorne kein Geld, manchmal gibt es für sie und ihre Kinder nur trockenes Brot zu essen. Der Job als Teilzeitreinigungskraft wirft eben nicht genug ab. Erschwerend kommt dazu, dass die junge Frau nur wenig Englisch und noch weniger Deutsch spricht. Übersetzen muss dann oft Stefan, der zweitälteste Sohn, dessen Deutsch zwar auch holprig ist, aber der zumindest in die Schule geht und dort lernt. Als Daniel aus dem Gefängnis kommt, reist die Familie nach Rumänien, um ihn persönlich in Empfang zu nehmen. Da aber Lucica kein Geld für die Erneuerung des Reisepasses ihrer jüngsten Tochter Marta hat, kommt es auf dem Weg zurück nach Deutschland, wo die Kinder weiterhin zur Schule gehen sollen, zum Drama. Marta muss in Rumänien bei der Großmutter bleiben. Fortan ist die einzige Sorge von Lucica, ihre geliebte Tochter wieder zurück nach Deutschland zu bringen. Und an diesem Punkt wird das Verhältnis zwischen Lucica und Bettina Braun, der Dokumentarfilmerin, zunehmend schwieriger. Man merkt die Erwartungshaltung Lucicas, dass die reiche Deutsche ihre Probleme löst. Schon in den ersten Szenen des Films gibt es Momente, in denen Lucica die Filmemacherin als Schwester oder einmal gar als Mutter bezeichnet. Wie kann man hier noch Distanz zu dem Thema, das man filmt, wahren? Genau das ist einer der spannendsten Aspekte des Films. Wir haben hier eine sichtlich überforderte, unter der Armutsgrenze lebende Migrantin, die zudem kein großes Interesse daran zeigt, in Deutschland mit der hiesigen Bürokratie und den hier geltenden Regeln zurecht zu kommen, und auf der anderen Seite die Filmemacherin, die persönlich involviert wird – die sicherlich etwas ändern könnte an der Situation der Familie, doch wie nachhaltig wären diese Veränderungen, und würden diese Hilfen nicht den Sinn des Dokumentarfilms unterlaufen? „Lucica und ihre Kinder“ ist ein schonungslos ehrlicher Film, der zum Einen die schwierigen Verhältnisse von Migranten aufzeigt und zum Anderen die Grenzen des Dokumentarfilms an sich. Dass der Film dennoch keine rein triste Angelegenheit ist, liegt an den Kindern, die immer wieder mit ihrer Neugierde und Lebensfreude für positive Momente sorgen.

 


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

The Cured – Infiziert. Geheilt. Verstoßen. (2017)

Regie: David Freyne
Original-Titel: The Cured
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Horror
IMDB-Link: The Cured


So eine Zombie-Karriere taugt auf die Dauer nichts. Es ist halt ein bisschen eintönig: Herumschlurfen, gelegentlich auszucken, wenn Menschenfleisch in Sicht kommt, und wenn sich die Gfraster wehren, wird einem oft der Schädel eingeschlagen. Daher denkt sich die Regierung nach dem Ausbruch einer Zombie-Epidemie in Irland: So ein Gegenmittel wäre schon leiwand. Und dank heller Köpfe gelingt es auch, 75% der Zombies wieder zurückzuverwandeln in friedfertige Bürger. Doch wie geht man damit um, wenn man weiß, dass man gegen seinen Willen seine Verwandtschaft verspeist hat? Mit dieser Frage plagt sich der geheilte Ex-Zombie Senan (Sam Keeley) herum. Seine Schwägerin (Ellen Page), die nach der Epidemie ohne Ehemann, aber mit Sohn auskommen muss, nimmt ihn dankenswerterweise auf. Ist ja technisch gesehen immer noch sein Haus. Blöd sind zwei Dinge: Die Erinnerung daran, was man getan hat, die sich immer wieder in Albträumen manifestiert, und die Tatsache, dass die Bevölkerung einen regelrechten Hass auf die Geheilten entwickelt hat. Klar, wenn dein Nachbar nicht nur deinen Hund, sondern auch noch deine ganze Familie gegessen hat, kann man gewisse Animositäten nicht verhindern. Dass sich zudem 25% der Infizierten durch das Gegenmittel nicht heilen lassen und in Armeelagern gefangen gehalten werden, löst die Spannungen in der Bevölkerung auch nicht gerade. „The Cured“ hat eine wirklich geniale Ausgangsbasis. Die Frage der Schuld, der Vergebung, der Wiedereingliederung jener, die willenlos Abscheuliches getan haben – all das würde einen solchen Film mit Leichtigkeit tragen. Leider geht „The Cured“ diesen Weg nicht konsequent zu Ende. Stattdessen biegt er in der zweiten Hälfte in Richtung eines recht klassischen Zombie-Horrors ab, der in einem chaotischen und irgendwie unlogischen Showdown mündet. Immer öfter drängt sich die Frage nach der Motivation für viele Handlungen auf – und nicht selten lautet die unbefriedigende Antwort: Weil’s die Dramaturgie so will. So ist „The Cured“ ein Film der vergebenen Chancen. Unterhaltsam und genregerecht spannend, aber der große Twist im Zombie-Genre bleibt damit aus.

 


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Double Date (2017)

Regie: Benjamin Barfoot
Original-Titel: Double Date
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Horror, Komödie, Satire, Thriller
IMDB-Link: Double Date


Noch vor Beginn des Films wurden gleich mal die Weichen für die kommenden 1,5 Stunden gestellt, als der Moderator launig ins Publikum fragte, wer denn schon einmal bei einem Double Date gewesen sei, also zusammen mit einem Freund / einer Freundin und den jeweiligen Love Interests unterwegs. Ein paar zaghafte Hände gingen in die Höhe. Auf die Rückfrage des Moderators, wie denn das so gewesen sei, kam aus von einem Zuseher die Antwort: „Tatsächlich sind wir gerade auf einem Double Date.“ Der Moderator daraufhin: „Dann bin ich mal gespannt, ob ich euch morgen wiedersehe, denn wie wir gleich erfahren werden, sind Double Dates manchmal tödlich.“ Und damit ist gleich mal zusammengefasst, worum es in Benjamin Barfoots Film geht. Dieser ist reine Publikumsbespaßung. Mit großem Vergnügen zelebriert Barfoot jegliches Klischee, die man rund um die Dating-Situationen junger Erwachsener finden kann, und stellt dann den Fuß bis zum Anschlag aufs Gaspedal. Die Story: Der schüchterne Jim steht vor seinem dreißigsten Geburtstag und hatte noch nie etwas mit einer Frau. Sein großmäuliger Freund Alex verspricht ihm daher, dass er noch vor seinem Geburtstag flachgelegt werden würde. Auftritt zweier übertrieben hübscher Grazien in der Bar, die an den beiden Kumpanen trotz holpriger Anmache überraschend Gefallen finden. Was der Maulheld und sein komplexbeladener Kompagnon nicht ahnen: Die beiden Mädels haben sinistere Pläne, die Chloroform, ein Messer und mehrere Stunden Putzen danach inkludieren. Ahnungslos tappen die beiden libidinösen Helden in die Venusfalle. Dass sie zudem nicht die hellsten Sterne am Firmament sind, lässt den geneigten Zuseher umso mehr um ihr armseliges Leben bangen. „Double Date“ ist ein Film nach dem Motto „Hirn aus, Popcorn rein“. Der Spaßfaktor ist enorm, und vor allem, wenn man mit dem leicht verdrehten und schwarzen britischen Humor etwas anfangen kann, macht man hier nichts falsch. „Double Date“ hat ein einfaches Rezept, das aber gut funktioniert: Über jeden Schrecken lässt sich auch lachen.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

The Heart (2018)

Regie: Fanni Metelius
Original-Titel: Hjärtat
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Liebesfilm, Drama
IMDB-Link: Hjärtat


Als mit Anfang Zwanzig die erste ernste Beziehung in die Brüche ging, setzte sich Fanni Metelius hin und schrieb ein Gedicht über diese Beziehung. Einige Jahre später entschloss sie sich, dieses Gedicht zu verfilmen. So erzählte es uns die sympathische Regisseurin beim Q&A zu „The Heart“, ihrem Debütfilm. Sie wollte einen ehrlichen Film machen über echte Probleme, die ihre eigenen Erfahrungen geprägt haben – wie zum Beispiel fehlendes sexuelles Interesse eines Partners. Genau mit diesem Problem (und anderen) schlagen sich Mika und Tesfay herum. Eigentlich sind sie sehr verliebt ineinander, und die bislang so sprunghafte Partymaus Mika (Fanni Metelius selbst, die offenbar mit Regie, Drehbuch und Schnitt noch nicht ausgelastet war, ihre Sache aber überragend macht) entschließt sich, mit Tesfay endlich sesshaft zu werden. Als Zuseher ist man ganz nah dran an diesem Paar, die Momente der Intimität, die gezeigt werden, sind völlig unprätentiös und glaubhaft. Die Küsse, die Blicke (in denen sich oft dieses wundervolle Erstaunen darüber zeigt, den anderen Menschen gefunden zu haben), auch das Zusammensitzen auf der Couch – all das wirkt absolut authentisch. Doch gerade die Couch wird zum Beziehungskiller, denn immer mehr Zeit verbringt der charismatische und eigentlich kreative und lebenslustige Tesfay auf dieser, um Computerspiele zu spielen. Und die Zeit, die dafür draufgeht, Knöpfe auf dem Controller zu drücken, fehlt dann für jene Zeit, die er eigentlich Mikas Knöpfe drücken sollte. Die wird verständlicherweise frustriert und unsicher. Wie lange zusammenbleiben und wie sehr sich bemühen, wenn man trotz aller Liebe unter der Beziehung leidet? Und was kann man noch tun? Leider nimmt sich der Film dafür etwas zu sehr Zeit und wird gegen Ende hin auch ein wenig ermüdend. Dazu kommt, dass zwar die beiden Hauptfiguren Mika und Tesfay sehr glaubhaft dargestellt werden als junge Erwachsene, die feststellen, dass das Leben neben Party und Halligalli auch ernsthafte Seiten hat, die Nebenfiguren aber allesamt sehr klischeehaft ausfallen. Auch ist der Fokus mit Blick auf die Zweierbeziehung einerseits und das ungezwungene Partyleben andererseits sehr eng gefasst. Weitere Aspekte des Lebens und des Alltags werden einfach ausgeklammert. Mir selbst war das ein wenig zu eindimensional. Dennoch ist „The Heart“ ein sehenswerter Liebesfilm, in dem sich viele der jüngeren Zuseher wohl auch selbst wiederfinden werden.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Cobain (2018)

Regie: Nanouk Leopold
Original-Titel: Cobain
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Cobain


Der fünfzehnjährige Cobain heißt Cobain, weil seine Mutter Mia schon vor der Geburt nicht unbedingt sehr viel an ihr Kind, sondern hauptsächlich an sich selbst gedacht hat. „Warum nennt man sein Kind nach einem, der sich erschossen hat?“, fragt Cobain zu Recht. Immerhin hat er kein Drogenproblem – das erledigt schon seine Mutter für ihn. Die im Übrigen mal wieder schwanger ist, was sie allerdings nicht davon abhält, viel zu viel zu rauchen, zu trinken und sich noch deutlich ungesündere Substanzen zuzuführen. Noch dazu verschwindet Mia gerne mal. Cobain, wenn er nach ihr sucht, findet sie dann meistens auf der Couch irgendwelcher Junkies. So gesehen ist „Cobain“ so etwas wie ein Gegenstück zu „Die beste aller Welten„, in dem es ebenfalls um eine von Drogen kontaminierte Mutter-Sohn-Beziehung geht. Doch während sich in Adrian Goigingers Kindheitsaufarbeitung die Mutter nach Kräften bemüht, ihrem Sohn trotz aller Probleme eine glückliche Kindheit zu schenken, hat Mia in Nanouk Leopolds Film nicht das leiseste Interesse an Berührungspunkten. Gleich zu Beginn stellt sie klar: „Du bist okay, ich bin okay, wir kümmern uns um uns selbst.“ Niemand ist hier aber okay. Weder Mia noch Cobain, der gerne ein intaktes Familienleben hätte. Immer wieder sucht Cobain die Nähe seiner Mutter, versucht, ihr gegen alle Widerstände zu helfen, um vielleicht doch noch die kleine, wenn auch unwahrscheinliche Chance auf einen Funken Normalität zu wahren. Nanouk Leopold erzählt in ruhigem, unaufgeregtem Tempo die Geschichte eines Jungen, der sich nicht von seiner Mutter lösen kann. In wackeligen Bildern der Handkamera, die immer ganz nah dran ist an Cobain, zeigt sie die zerstörerische Kraft der Liebe. Das Ende ist heftig, aber auch konsequent. „Cobain“ ist nicht über die volle Laufzeit stets gleichermaßen interessant und auch nicht immer klischeefrei, hallt aber dennoch nach und gehört schon mal zu meinen ersten Highlights des Crossing Europe Festivals 2018.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Dreaming Under Capitalism (2017)

Regie: Sophie Bruneau
Original-Titel: Rêver sous le Capitalisme
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


Die Idee ist simpel, hat aber etwas für sich: Warum nicht einen Film über die Auswirkungen des kapitalistischen Systems auf das alltägliche Leben drehen, indem man die Menschen von ihren Albträumen erzählen lässt, die mit der Arbeit zu tun haben? Genau das macht Sophie Bruneau mit ihrem Dokumentarfilm „Dreaming Under Capitalism“, meinem ersten Crossing Europe-Film. Es ist Freitagnachmittag, die Sonne scheint aus einem nahezu wolkenlosen Himmel, es ist sommerlich warm, ich bin gerade in Linz angekommen – und mein erster Weg führt mich in den dunklen Kinosaal, um mir einen Film anzusehen, in dem Menschen vor filmischen Stillleben von Arbeitswelten von ihren nächtlichen Träumen erzählen (meistens aus dem Off). Im Laufe des Films, der mit einer Stunde Laufzeit ökonomisch angelegt ist, besinnen sich offensichtlich auch einige weitere Kinobesucher, dass da draußen ein wunderschöner Frühlingstag ist und ratzfatz ist der halbe Saal leer gespielt. Ich, müde vom Vorabend und der Zugfahrt am Vormittag, bleibe sitzen, was auch daran liegt, dass mir immer wieder die Augen zufallen. Kurz gesagt: „Dreaming Under Capitalism“ ist nicht unbedingt das, was man als Reißer bezeichnen würde. Manche Träume sind zwar durchaus interessant (wie etwa jener der älteren Consulting-Dame, die davon träumt, dass ihr Schädel aufknackt und kleine Männchen mit Riesenlöffeln im Kreis um ihr Hirn sitzen und dieses genüsslich auslöffeln), aber meistens sind es nichtssagende, larmoyante Sudereien über die alltägliche Arbeitsbelastung, die vor nahezu unbewegten Bildern von beispielsweise Bürogebäuden oder Baustellen erzählt werden. Wäre das mein heutiger Spätabendfilm gewesen, wäre ich wohl erst morgen in der Früh wieder im Kinosaal aufgewacht. So bleibt als Fazit: Eine nette Idee, aber langweilig umgesetzt – und einen ganzen Film trägt diese nicht.


3,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

In Linz beginnt’s

Nämlich morgen für mich mit dem Crossing Europe Film Festival, das mir dankenswerterweise eine Presseakkreditierung gewährt hat. So werde ich mir am Wochenende wieder fleißig Filme von europäischen Filmemacherinnen und Filmemachern reinziehen und hier natürlich so zeitnah wie möglich darüber berichten (wann immer das auch ist). Ich habe mir ein stattliches Programm vorgenommen – mal schauen, ob ich alles so durchdrücke wie geplant oder ob irgendwann im Laufe des Wochenendes die Sicherungen durchbrennen und ich in der Embryonalstellung weinend am Donauufer liege und nach einem extragroßen Becher Bananensplit schreie. Was ich damit sagen will: Falls ihr an diesem Wochenende in Linz einem völlig Irren begegnet, füttert ihn bitte mit Eis. Danke!

Something Useful (2017)

Regie: Pelin Esmer
Original-Titel: İşe Yarar Bir Şey
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Roadmovie
IMDB-Link: İşe Yarar Bir Şey


Regisseurin Pelin Esmer meinte einmal über ihre Filme, sie würde diese nicht in Prosa drehen, sondern in Poesie. Nachdem ich „Something Useful“ gesehen habe, glaube ich zu wissen, was sie damit meint. Denn vorrangig ist „Something Useful“ ein ästhetischer, aber dennoch konzentrierter Film. Die gleichen Merkmale weist auch ein gutes Gedicht aus: Ästhetik und Fokus. Erzählt wird die Geschichte einer Zufallsbekanntschaft während einer langen Bahnfahrt. Die Dichterin Leyla ist auf dem Weg zu einem Klassentreffen, dem ersten, an dem sie überhaupt teilnimmt. Im Zug lernt sie die junge Krankenschwester Canan kennen, die davon träumt, Schauspielerin zu werden. Zunächst muss sie aber einen pikanten Auftrag erfüllen, denn ein Bekannter hat sie gebeten, Sterbehilfe bei seinem besten Freund zu leisten, nachdem er selbst an dieser Aufgabe gescheitert ist. Und so soll Canan dem vom Hals abwärts gelähmten Yavuz die tödliche Spritze setzen. Das junge Mädchen, das zwischen Pflichtgefühl, Mitleid und Angst hin- und hergerissen ist, vertraut sich Leyla an, und die entschließt sich, Canan zu begleiten. Die Begegnung der beiden Frauen mit dem gelähmten Sterbenswilligen bietet einige der besten Dialogmomente auf, die ich in diesem Jahr bislang genießen durfte. Auch das Davor, die Reise der beiden Frauen, ist größtenteils interessant und immer wieder von Metaphern begleitet – seien es Spiegelungen, wenn Leyla aus dem Zugfenster nach draußen blickt und dabei sich selbst sieht, oder Graffitis von Raben, den Todesvögeln, die scheinbar in jedem Bahnhof auftauchen. Zwar braucht die Geschichte ein wenig Zeit, um in Fahrt zu kommen, aber allein schon das wundervolle Ende entschädigt für die gelegentlichen Längen davor. Auch schauspielerisch gibt es nichts zu bemäkeln. „Something Useful“, mein vierter und letzter Film des diesjährigen LET’S CEE Film Festivals, ist ein langsamer, und ja: poetischer Film, für den man ein wenig Geduld mitbringen sollte, die hier aber gut investiert ist.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: LET‘S CEE Film Festival)

Ederlezi Rising (2018)

Regie: Lazar Bodroža
Original-Titel: Ederlezi Rising
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Science Fiction, Erotik, Liebesfilm
IMDB-Link: Ederlezi Rising


Science Fiction und ich. Das funktioniert. Blade Runner. Her. Ex Machina. 2001 – A Space Odyssee. Alles wunderbare Filme, die ich sehr liebe. Eigentlich sollte also ein serbisches Mashup dieser Filme, das trotz des geringen Budget große Ambitionen aufweist und sich kräftig in diese Richtungen verbeugt, ganz nach meinem Gusto sein. Es bleibt leider beim Konjunktiv. Denn Lazar Bodrožas Sci-Fi-Fiebertraum krankt nicht nur an der Umsetzung wie beispielsweise einem sehr hölzernen Schauspiel und dem Budget geschuldeten Weltraumpixeleien, sondern vor allem am Inhalt. Dabei wäre die Synopsis gar vielversprechend gewesen: Einsamer Astronaut auf einer Mission wird von einem weiblichen Cyborg begleitet, und allmählich entwickeln sich zwischen dem Mensch und dem künstlichen Wesen echte Gefühle. Dass der gut aussehende Cyborg (Pornodarstellerin Stoya in ihrem ersten Nicht-Porno, wobei: das ist Ansichtssache, dazu komme ich gleich noch mal) zunächst mal frei programmierbar ist – von unterwürfig bis aufmüpfig je nach Stimmungslage des grummelig-graumelierten Grenzgängers – ist wohl ein feuchter Bubentraum, mit dessen Verwirklichung sich der Regisseur selbst beschenkt hat. In weiterer Folge dreht der fadisierte Don Juan aber die Sicherheitsregler nach unten, weil irgendwie ist so eine überraschungsfreie Beziehung auf Knopfdruck doch nicht das Wahre. Und damit beginnen die Probleme erst. Lass der Frau ihren Willen, und du bist im Arsch. Das könnte eine Message des Regisseurs sein, so könnte man seinen Film auslegen. Und damit sind wir beim inhaltlichen Problem Nummer 1. Ein besonders ausgewogenes Geschlechterbild zeichnet der Film nicht – im Gegenteil. Problem Nummer 2: Der Regisseur dachte sich wohl: „Hurra, wir haben einen Pornostar am Set, das nutzen wir doch gleich mal aus!“ Ja, okay, Cyborgs ist auch im Weltall nicht kalt, das kann ich ja verstehen, aber muss die Dame trotzdem fast die ganze Zeit über nackig herumlaufen, auch wenn sie noch so gut aussieht? Für die Story ist es nämlich wurscht. So entsteht der Eindruck, als hätten die Macher einfach die Gunst der Stunde genutzt, dass ihre Hauptdarstellerin ohnehin textilfreies Werken gewöhnt ist. Natürlich kann man das Ganze auch völlig konträr sehen – vielleicht ist „Elderlezi Rising“ ein feministisches Meisterwerk und ein satirischer Kommentar auf männlichen Macho-Kult. Vielleicht. Ich weiß es halt nicht. Und damit hat der Film – bei mir jedenfalls – seine Intention verfehlt, wenn sie denn so gedacht war, und nur der unangenehme Nachgeschmack bleibt zurück. Schade drum.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 23 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


3,5
von 10 Kürbissen

(Foto: LET’S CEE Film Festival)

https://www.youtube.com/watch?v=fLzGLpoXiqY

November (2017)

Regie: Rainer Sarnet
Original-Titel: November
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Drama, Komödie, Liebesfilm, Fantasy
IMDB-Link: November


Der estnische Film „November“ eröffnete das LET’S CEE Film Festival 2018. Und so vielfältig wie die zentral- und osteuropäischen Filme eben so sind, die im Rahmen des Festivals gezeigt werden, so viele Ebenen und Schichten hat auch „November“ selbst, der sich einer klaren Genre-Zuordnung verweigert. Am ehesten könnte man den Film als groteskes Märchen bezeichnen. Hier geben sich fröhlich Hexen, Geister, Formwandler,  die personifizierte Pest, mythische estnische Wesen, die aus Haushaltsgegenständen gebaut werden (sogenannte Kratts) sowie Luzifer persönlich ein Stelldichein. Vorrangig geht es in dieser Geschichte um die junge Liina, die in Hans verliebt ist, der allerdings diese Liebe nicht erwidert, da er sich in die schöne Gräfin verschaut hat, die wiederum im Stand meilenweit über dem Rest der Dorfbewohner steht (und manchmal auch im wortwörtlichen Sinne über ihnen, da sie die Angewohnheit hat, auf dem Dach des Gutshofes schlafzuwandeln). Soweit, so klassisch. Allerdings folgt der Film nur selten konventionellen Märchenpfaden. Immer wieder driften die Situationen ins Absurde ab, selten macht etwas wirklich Sinn, und eine klassische Storyentwicklung sucht man die meiste Zeit über auch vergeblich. Das alles klingt jetzt erst einmal nicht so erbaulich. Jetzt kommt mein großes „Aber“. Aber: Der Film ist trotz aller Rätselhaftigkeit (oder vielleicht auch gerade deswegen) unglaublich interessant und spektakulär anzusehen. Die in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder – die Schattenspiele im Wald, der Nebel, der den verlassen wirkenden Gutshof umhüllt – sind atemberaubend schön. Und der Inhalt selbst, diese Verbindung von estnischer Folklore und Märchen, verschließt sich vielleicht gängigen Interpretationsmustern, wirkt aber nie inkohärent oder chaotisch. Im Gegenteil: Man folgt einer Geschichte, die nach einem ganz klar umrissenen Plan abläuft, den man nicht versteht. Dennoch fühlt man sich als Zuseher gut durch die Geschichte geleitet. Man möchte nicht allein sein im finsteren Wald, wenn Luzifer herbeigerufen wird, aber in den Händen des Regisseurs geht man auch dieses Abenteuer gerne mit. Heißt es nicht am Ende immer: „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage …“? Wie so ziemlich alles in diesem Film kommt man mit gängiger Logik allerdings nicht allzu weit. Das muss man natürlich erst einmal mögen – aber falls man sich auf solche cineastischen Wagnisse einlassen und alle Erwartungshaltungen und Schablonen mal beiseite lassen kann und den Film stattdessen als sinnliches Erlebnis wahrnimmt, bietet „November“ eine Erfahrung, die man nicht missen möchte.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 10 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


9,0
von 10 Kürbissen

(Foto: LET’S CEE Film Festival)