Viennale

Ali & Ava (2021)

Regie: Clio Barnard
Original-Titel: Ali & Ava
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Liebesfilm, Drama
IMDB-Link: Ali & Ava


Es sind die Perlen, mit denen man nicht unbedingt rechnet, und die dann plötzlich aus dem Festival-Programm hervorblitzen und alles überstrahlen. „Ali & Ava“ von Clio Barnard ist so eine Perle. Vordergründig eine Liebesgeschichte zwischen dem musikbegeisterten, fröhlichen Ali mit Migrationshintergrund, der gerade die Trennung von seiner deutlich jüngeren Frau verdaut, und der älteren Aushilfslehrerin Ava, die irische Wurzeln hat und mehrfache Großmutter ist. Es ist eine Liebesgeschichte, die so wohl nur selten passiert, aber vielleicht auch gerade deshalb so echt und lebensnah wirkt. Alter, Herkunft, Hautfarbe, das alles sollte keine Rolle spielen, wenn zwei Menschen im gleichen Rhythmus tanzen, auch wenn sie unterschiedliche Songs hören. Aber weil es zwar keine Rolle spielen soll, aber immer noch spielt, sind die zarten Banden, die hier ohne großes Pathos geknüpft werden, bald schon stark gefährdet, da Avas Sohn leider die Springerstiefel von seinem Skinhead-Vater geerbt hat. Doch auch hier rutscht die Geschichte nie ins cineastisch Überhöhte ab, sondern bleibt bodenständig und ehrlich. „Ali & Ava“ ist ein Liebesfilm, wie er besser wohl kaum sein kann, denn er zeigt echte Figuren abseits von Hollywood-Stereotypen, die sich bedächtig einander annähern, vorsichtig, aber auch neugierig, lebenshungrig, aber mit Verwundungen aus früheren Zeiten, die vielleicht noch nicht ganz verheilt sind. Adeel Akhtar und Claire Rushbrook sind eine schauspielerische Offenbarung. Man muss den liebevollen Chaoten Ali mit seinen lockeren Sprüchen einfach lieben, man möchte die so starke und gleichzeitig sensible Ava einfach nur in den Arm nehmen – man wünscht den beiden alles Glück der Welt und vergisst für 1,5 Stunden, in einem Kinosaal zu sitzen und fiktiven Figuren zuzusehen. So magisch kann Kino sein, wenn es so herausragend gemacht ist wie Clio Barnards Liebesfilm. Dazu gibt es einen exzellenten Soundtrack, der das Geschehen nicht nur stimmig begleitet, sondern fast zu einem dritten Protagonisten wird, der die Geschichte erzählt. Schon jetzt ein persönliches Highlight der diesjährigen Viennale – das zu toppen, wird ein schwieriges Unterfangen.


8,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Das Ereignis (2021)

Regie: Audrey Diwan
Original-Titel: L’événement
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama
IMDB-Link: L’événement


Hach. Viennale. Jedes Jahr ein Fixpunkt meines cineastischen Jahres und dieses Blogs. Der Eröffnungsfilm sieht ja schon mal vielversprechend aus: Goldener Löwe in Venedig. Beinahe Frankreichs Einreichung zu den nächsten Oscars, wäre da nicht diese Naturgewalt von Titane gewesen. Und der Inhalt liest sich auch interessant: Junge Literaturstudentin in den 60ern wird versehentlich schwanger, was zu jener Zeit besonders ungut ist, da Abtreibungen höchst illegal sind, ein Kind aber ihre Berufswünsche komplett torpedieren würde. Da ist guter Rat teuer. „L’événement“ von Audrey Diwan basiert auf dem autobiografischen Roman von Annie Ernaux, der genau das widerfahren ist, was Nachwuchshoffnung Anamaria Vartolomei so exzellent spielt. Ihre Anne ist eine ambivalente, aber immer nachvollziehbare Figur. Sie ist eine strebsame, brave Studentin, aber hat auch ein Liebesleben, weshalb sie im Internat mit schiefen Blicken bedacht wird. Sie ist ein reflektierter, junger Mensch, aber wenn die Ängste einschießen, driftet auch sie ins Irrationale. Das ist alles gut verständlich. Und so nimmt die Geschichte ihren (logischen) Lauf. Das wäre dann auch schon mein Kritikpunkt an einem ansonsten emotional mitreißenden und gut gespielten Film: Er ist allzu formelhaft und überrascht nur in den seltensten Momenten. Selbst der Schockmoment am Ende, weswegen in Venedig angeblich einige zartbesaitete Seelen nach der Sichtung Zuspruch brauchten, ist fast schon erwartbar eingesetzt. Das macht den Film aber nicht langweilig und die Botschaft und das Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau nicht weniger wichtig und dringlich. Allerdings hätte ich es begrüßt, wenn der Film meine Erwartungshaltungen öfter unterlaufen hätte und noch mehr Mut zur Eigenständigkeit gehabt. Das gab aber wohl die literarische Vorlage nicht her. Dennoch ein geglückter Auftakt in das diesjährige Filmfestival.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Viennale 2020 – Eine Woche später

Vergangenen Sonntag werden sich Eva Sangiorgi und ihr Viennale-Team den Schweiß aus dem Gesicht gewischt haben. Nur einen Tag vor Beginn des landesweiten zweiten Lockdowns flimmerte der letzte Film über die große Leinwand. Wenn man nach einem anschaulichen Bespiel für eine Punktlandung sucht: Hier ist es. Das Hygienekonzept der Viennale scheint auch gegriffen zu haben, jedenfalls sind mir bislang keine Viennale-Cluster bekannt. Und das Publikum war brav und gesittet. Auf gut Österreichisch: Gut is gangen, nix is gschehn.

Programmatisch zeigte sich die Viennale in diesem Jahr etwas abgespeckt, aber mit bunter Vielfalt, dank derer für jeden Kinogeher etwas dabei war. Auch die Zusammenarbeit mit der Diagonale und das Platzieren einiger österreichischer Filme, die durch den Ausfall der Diagonale in Graz nicht gezeigt werden konnten, erwies sich als Glücksfall. Gerne können auch künftig mehr heimische Produktionen auf der Viennale gezeigt werden. Dafür braucht es nicht unbedingt Corona, wie ich finde.

Nach insgesamt 23 Langfilmen (und 2 Kurzfilmen) bin ich nun auch erst mal durch. Qualitativ streute es natürlich, wie es bei einem solch intensiven Programm auch zu erwarten ist. Aber immerhin waren einige sehr schöne Highlights dabei, die hoffentlich in den kommenden Wochen und Monaten, wenn Kinobesuche wieder möglich sind, auch ihr Publikum finden werden. Hier nun meine gesamte Reihung der gesichteten Viennale-Filme:

8,0 Kürbisse:
Niemals Selten Manchmal Immer von Eliza Hittman
Nomadland von Chloé Zhao
Aufzeichnungen aus der Unterwelt von Tizza Covi und Rainer Frimmel
Gunda von Victor Kossakovsky

7,5 Kürbisse:
Der Rausch von Thomas Vinterberg
Tragic Jungle von Yulene Olaizola
The World to Come von Mona Fastvold

7,0 Kürbisse:
First Cow von Kelly Reichardt

6,5 Kürbisse:
Kajillionaire von Miranda July
Die Frau, die rannte von Hong Sang-soo
Die Zahlen von Oleg Sentsov

6,0 Kürbisse:
Davos von Daniel Hoesl und Julia Niemann
Shirley von Josephine Decker
The Intruder von Natalia Meta
The Trouble With Being Born von Sandra Wollner
Falling von Viggo Mortensen
Genus Pan von Lav Diaz

5,5 Kürbisse:
Mainstream von Gia Coppola

5,0 Kürbisse:
Frühling in Paris von Suzanne Lindon

4,5 Kürbisse:
Hochwald von Evi Romen

3,5 Kürbisse:
The Human Voice von Pedro Almodóvar (Kurzfilm)
FREM von Viera Cákanyová
The Cloud in Her Room von Zheng Lu Xinyuan

2,5 Kürbisse:
Intimate_Distances von Phillip Warnell

1,5 Kürbisse:
Imperial Irrigation von Lukas Marxt (Kurzfilm)

Tragic Jungle (2020)

Regie: Yulene Olaizola
Original-Titel: Selva trágica
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama
IMDB-Link: Selva trágica


Der letzte Viennale-Film in diesem Jahr, und ich hätte mir keinen besseren Film dafür aussuchen können als „Tragic Jungle“ von Yulene Olaizola, entführt dieser doch in eine fremde, mysteriöse Welt, die man vorrangig auf Filmfestivals abseits des Mainstreams kennenlernen kann. Der Dschungel ist dicht und voller Gefahren. Vor allem für Agnes (Indira Rubie Andrewin), die gerade noch dem britischen Großgrundbesitzer entkommen ist, der sie heiraten wollte und nach der Abweisung nun Jagd auf sie macht. Verletzt wird sie von spanischen und mexikanischen Arbeitern gefunden, die durch die Ernte und den Verkauf von Kautschuk den großen Reibach machen möchten. Es sind die 1920er Jahre im Dschungel von Mexiko, das Leben ist hart und entbehrlich. Das Auftauchen der jungen und attraktiven Frau bringt die Dynamik im Camp der Arbeiter gehörig durcheinander. Doch bald stellt sich die Frage: Wer oder was ist die eigentliche Bedrohung hier? „Tragic Jungle“ ist ein Spiel mit Mythen, mit menschlichen Abgründen, Begehrlichkeiten, Fantasien und Träumen und der Suche nach Reichtum, die alles Andere zu überschatten droht. Ein sinnlicher Film, indem der Dschungel so undurchdringlich ist wie Agnes‘ Miene. Yulene Olaizola würzt den Film mit einer gehörigen Portion Spannung, die in dem fremdartigen Setting gut zur Geltung kommt. Das sind die Filme, für die sich Kino wirklich lohnt, ermöglicht die große Leinwand schließlich das komplette Eintauchen in eine Welt voller Magie und Rätsel. Dass der Film mit dem Jurypreis der Standard-Publikumsjury ausgezeichnet wurde, ist gut nachvollziehbar und verdient.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Genus Pan (2020)

Regie: Lav Diaz
Original-Titel: Lahi, Hayop
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Krimi, Drama
IMDB-Link: Lahi, Hayop


Für seine Verhältnisse hat Lav Diaz mit „Genus Pan“ (im Original: „Lahi, Hayop“) einen Kurzfilm gedreht. In flotten 157 Minuten ist man durch. Seine Filme können auch schon mal die 8-Stunden-Marke überschreiten. Bei einem achtstündigen „Lahi, Hayop“ wäre ich allerdings ausgestiegen, hat der Film ja auch jetzt schon seine Längen. Die Geschichte kann nämlich recht einfach zusammengefasst werden: Drei Minenarbeiter schlagen sich von der Insel, auf der sie arbeiten und ausgebeutet wurden, durch den Dschungel in ihr Heimatdorf durch. Einer von ihnen ist finanziell besonders gebeutelt, denn das wenige Geld, das ihm bleibt, reicht nicht aus, um die Medikamente der kranken Schwester zu bezahlen. Nach einem langen, beschwerlichen Weg kommt nur er im Dorf an. Was ist passiert? Dass er den Dorfbewohnern von seinem Geld nichts abgeben möchte, macht die Menschen noch misstrauischer. „Lahi, Hayop“ bringt unter allen Figuren das Schlechteste hervor. Man ist nicht besser als der vom Instinkt geleitete „Pan“, also Menschenaffe. Es gibt wenig Hoffnung auf Läuterung – trotz eines starken Beginns, der den beschwerlichen Weg der drei Männer minutiös nachzeichnet und die drei ungleichen Typen auch zueinanderfinden lässt. Aber was bleibt davon übrig im Angesicht der Not? „Lahi, Hayop“ ist eine finstere Reise an die dunkelsten Stellen der Herzen. Allerdings fällt der Film nach einer starken ersten Hälfte stark ab, wird mühsam und zieht sich wie ein alter Kaugummi. Erst das bittere Ende lässt den Zuseher wieder mitfiebern und rettet den Film über die letzte Kurve. Die 157 Minuten Laufzeit sind aber mehr als üppig bemessen für den Inhalt, der damit trotz der kürzeren Laufzeit deutlich mühsamer zu sehen ist als der grandiose The Woman Who Left aus dem Jahr 2016. Wie schon gesagt: Acht Stunden lang hätte ich hier nicht durchgehalten. 


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Shirley (2020)

Regie: Josephine Decker
Original-Titel: Shirley
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Krimi, Thriller
IMDB-Link: Shirley


Shirley (Elisabeth Moss) ist eine renommierte Schriftstellerin, die an einer Schreibblockade und einer Depression leidet. Ihr Ehemann Stanley (Michael Stuhlbarg), Dozent an der Uni, bringt seinen neuen Assistenten Fred (Logan Lerman) und Rose (Odessa Young) ins Haus. Rose soll Shirley im Haushalt unter die Arme greifen, dafür bekommt das junge Paar Kost und Logis. Zwischen den beiden Frauen entspinnt sich eine zarte Freundschaft, und über den realen Fall einer verschwundenen Studentin, die Shirley fiktional aufarbeitet, findet sie auch wieder zum Schreiben. Doch wie sehr greifen Realität und Fiktion ineinander, und was macht das mit den Betroffenen? „Shirley“ von Josephine Decker spielt diese Frage auf mehrere Ebenen durch. Vordergründig ist der Film eine Biographie der Horror- und Mystery-Autorin Shirley Jackson, doch werden reale Kernelemente des Biographischen ausgespart und durch Inhalte ersetzt, die eher an Jacksons fiktive Geschichten erinnern. Gleichzeitig verschmelzen Rose und die verschwundene Studentin Paula, die junge Rose wird zum Inhalt von Shirleys Geschichte. Und auch die Beziehung zwischen Shirley und Stanley wirkt oft dramatisch überhöht und inszeniert. Ein Fest für großartige Schauspieler/innen wie eben Michael Stuhlbarg und Elisabeth Moss, die zur Hochform auflaufen. Beide spielen sich damit in den Vordergrund für die großen Schauspielpreise der kommenden Monate. Und dieser Aspekt macht den Film auch wirklich sehenswert, während die Story selbst dann doch recht beliebig und ziellos bleibt. 


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Gunda (2020)

Regie: Victor Kossakovsky
Original-Titel: Gunda
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Gunda


An solchen Tagen kommt man ins Grübeln. Am Vorabend ist ein Oaschloch ausgetickt und hat mehrere Menschen mit sich gerissen. Kann man da überhaupt noch über Filme schreiben, oder relativiert sich nicht alles angesichts des Terrors und der Trauer? Nun, ohne pathetisch wirken zu wollen – aber lässt man es zu, dass das Oaschloch über das Leben und die weiteren Handlungen bestimmt, dann hat es gewonnen. Und das will ich nicht zulassen. Also weiter mit den Viennale-Filmen. Stellen wir der Angst die Kunst entgegen. Und die ist in „Gunda“ von Victor Kossakovsky höchst lebendig. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern folgt der Film, der übrigens von Joaquin Phoenix produziert wurde, einer Sau, die gerade frisch geworfen hat. Der Mensch ist abwesend. In einem großen Freigelände können die Tiere das tun, was sie eben so tun: Sich im Schlamm suhlen, sich über die Zitzen der Mutter streiten, herumlaufen und größer werden. Zwischendurch wird das schweinische Leben unterbrochen durch Aufnahmen von Hühnern, die freigesetzt werden, und zunächst übervorsichtig und sichtlich ratlos durchs Gras stapfen. Und von Kühen, die aus dem Stall rennen und ausgelassen  auf der Wiese herumhüpfen. Und dabei geschieht Erstaunliches: Die Emotionen der Tiere werden erlebbar, ohne dass dies über die Krücke der Vermenschlichung geschieht. „Gunda“ ist ein kleiner, ganz großer Film. Ein Film, der den Tieren gerecht wird, der sie in all ihrem tierischen Verhalten zeigt, aber darin auch das Verbindende findet. Und genau das passt wiederum zu diesen schweren Tagen. Lasst uns das Verbindende finden und das Trennende vergessen.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Die Frau, die rannte (2020)

Regie: Hong Sang-soo
Original-Titel: Domangchin yeoja
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama
IMDB-Link: Domangchin yeoja


Gam-hee (Kim Min-hee) ist seit fünf Jahren verheiratet. Eine Geschäftsreise ihres Ehemanns ermöglicht es ihr, einige alte Freundinnen und Bekannte zu besuchen. Die hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, denn, wie sie allen erzählt, war sie im Laufe ihrer fünfjährigen Ehe bislang keinen einzigen Tag von ihrem Ehemann getrennt. Er sei der Meinung, dass ein Paar, das sich liebt, eben stets zusammen sein müsse. In dieser Aussage schwingen schon viele unausgesprochene Probleme und unerfüllte Sehnsüchte mit. Denn Gam-hee scheint nichts Anderes mehr zu sein als die Ehefrau, die noch nie von ihrem Mann getrennt war. Für das alltägliche Leben ihrer Freundinnen bringt sie Bewunderung auf, Beziehungen und das Liebesleben kommentiert sie ehrfürchtig und fast verschämt. Man merkt: Diese Frau ist gefangen, in ihrer Beziehung, in sich selbst, in der Gesellschaft. Ausgesprochen wird dies aber nie. Hong Sang-soos neuer Film ist still, fast meditativ, und enorm handlungsarm. Die Gespräche drehen sich meist um Beiläufigkeiten und kommen über die Qualität von Smalltalk selten hinaus. Trotzdem wird im Laufe des Films Gam-hees Einsamkeit und Suche nach sich selbst immer spürbarer. Dies so erlebbar zu machen, hat große Qualität. Allerdings ist „Die Frau, die rannte“ ein Film, für den man Geduld und zumindest ansatzweise die Antenne für Ungesagtes mitbringen muss. Und man muss wertschätzen können, dass das Leben hauptsächlich aus Kleinigkeiten besteht wie zum Beispiel das Schälen eines Apfels. Der Film fordert die Geduld der Zuseher heraus, ist aber trotz seiner Passivität an der Oberfläche lohnenswert.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Mainstream (2020)

Regie: Gia Coppola
Original-Titel: Mainstream
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama, Komödie, Satire
IMDB-Link: Mainstream


Wenn du Coppola heißt, dann wirst du nicht Zuckerbäckerin oder Rauchfangkehrer. Dann gehst du ins Filmbusiness. Basta. So ist nun auch Francis Ford Coppola-Enkelin Gia endgültig auf den Filmfestivals dieser Welt angekommen. Ihr zweiter Langfilm „Mainstream“ fühlt sich ein bisschen wie ein Debüt an: Voller Energie und aberwitziger Regieeinfälle (manche davon gelungen, manche weniger), ein bisschen chaotisch, aber sympathisch, mit einer Botschaft, die dann doch wieder verwässert wird. Die Kellnerin Frankie (Maya Hawke, die Tochter von Uma Thurman und Ethan Hawke, wo wir bei der nächsten cineastisch beschlagenen Familie wären) trifft auf den jungen Spinner und Smartphone-Verweigerer Link (Andrew Garfield), der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und in den Tag hineinlebt. Fasziniert von seinen Spompernadeln lässt sie alles liegen und stehen und schließt sich seinem Joie de vivre an. Gemeinsam mit ihrem Kumpel Jake (Nat Wolff) erfinden sie die Kunstfigur No One Special, die uns Smombies den Spiegel vorhalten soll. Ein Musikvideo geht viral, und von da an nimmt das Projekt eine Dynamik auf, die Frankie, Link und Jake bald nicht mehr steuern können – vor allem, als der dubiose Agent Mark Schwartz (Jason Schwartzman) hinzustößt. Man sieht: Das ist alles ein bisschen plump und plakativ. Alle vorstellbaren Klischees und Topoi werden brav abgearbeitet. Und die eigentliche Botschaft des Films wird durch die weitere Storyline korrumpiert. Wie Frankie im Film verliert auch Gia Coppola zunehmend die Kontrolle. Ihre energiegeladene Inszenierung sorgt dennoch dafür, dass der Film kurzweilig und unterhaltsam bleibt, aber wie viel mehr hätte man da noch rausholen können!


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)

Nomadland (2020)

Regie: Chloé Zhao
Original-Titel: Nomadland
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Drama, Roadmovie
IMDB-Link: Nomadland


Chloé Zhao ist mir schon mit ihrem Vorgängerfilm The Rider sehr positiv aufgefallen. Den Ansatz, die Geschichten echter Menschen von ihnen selbst dargestellt fiktionalisiert auf den großen Screen zu bringen, setzt sie mit „Nomadland“ fort – diesmal mit Unterstützung einer wie immer herausragenden Frances McDormand in der Hauptrolle und David Strathairn an ihrer Seite. Der Rest des Casts ist aber direkt von den Straßen, auf denen sie mit ihren Wohnwagen von Job zu Job pilgern, für den Film gecastet worden. Sie berichten aus ihrem eigenen Leben, von ihren persönlichen Schicksalen. Wie auch in „The Rider“ vermeidet Choé Zhao Rührseligkeit und Schuldzuweisungen. Das Leben in den USA kann hart und bitter sein, wenn man nicht auf der wirtschaftlich begünstigten Butterseite gelandet ist. Träume lösen sich in Schall und Rauch auf, ein festes Heim kann sich nicht jeder leisten, und so zieht man nomadengleich von Stadt zu Stadt, um in den Versandzentren von Amazon oder bei der Rübenernte ein paar Dollar zu machen. Man scheißt in Eimer, weil es kein fließendes Wasser gibt, und hilft sich gegenseitig mit Werkzeug und einer gelegentlichen Umarmung aus. Es ist ein Leben am Rand bzw. im Dazwischen – nicht ganz am untersten Ende der Obdachlosigkeit, aber eben auch noch nicht der Working Class zugehörig. „Nomadland“ gibt diesen Menschen im Dazwischen eine Stimme und erzählt fast beiläufig dazu noch eine Geschichte über Familie und Zusammenhalt. Einer der großen Filme der diesjährigen Viennale – was den Publikumszuspruch wie die Qualität gleichermaßen betrifft.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) Viennale)