– The same procedure as last year, Ms. Sangiorgi? – The same procedure as every year, Pumpkin!
Wie jedes Jahr knallen bei mir um diese Jahreszeit ein paar Neuronen durch, und ich ändere meinen Hauptwohnsitz in Parkring 12, 1010 Wien. Das ist die Adresse des Gartenbaukinos, eine der Spielstätten der Viennale. Dort werden zwischen 25.10. und 8.11. erkleckliche und weniger erkleckliche Filme aus aller Welt gezeigt. Und weil ich Festivals liebe und die Viennale ganz besonders, werde ich mir in diesem Zeitraum um die 30 Filme reinziehen – ergänzt um ein paar, die später im November noch im Rahmen der Retrospektive gezeigt werden. Wer dem ganzen Wahnsinn folgen will, kann dies hier tun – gefahrlos, laktosefrei und mit dem guten Gefühl, selbst wunderbar normal zu sein.
Ab dem 26. Oktober könnt ihr hier, wie auch im Vorjahr, meine Reviews zu den gesichteten Filmen lesen und meinem geistigen Verfall beiwohnen.
Ich wünsche euch viel Spaß dabei! Moriturus vos salutat.
Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Original-Titel: La Fille Inconnue
Erscheinungsjahr: 2016
Genre: Drama
IMDB-Link: La Fille Inconnue
Der aktuellste Film der Brüder Dardenne, deren Filme regelmäßig auf der Viennale gezeigt werden, handelt von einer jungen Ärztin (grandios gespielt von Adèle Haenel), die vor dem nächsten Karriereschritt steht, als eine Stunde nach Praxisschluss jemand an ihrer Tür läutet. Ihr Praktikant möchte schon öffnen, aber sie heischt ihn an, das Läuten zu ignorieren, denn immerhin hat die Praxis schon lange geschlossen und wenn man so spät noch Patienten aufnimmt, läuft man Gefahr, aufgrund der eigenen Müdigkeit falsche Diagnosen zu stellen. Am nächsten Tag wird der Leichnam einer jungen Frau unweit der Praxis gefunden, und die Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass es jene junge Frau war, die voller Angst an der Tür der Ärztin geläutet hat, ehe sie weiter und damit in den Tod gelaufen ist. Vom Schuldgefühl geschüttelt beginnt die Ärztin, selbst Nachforschungen zu der jungen Frau anzustellen, um ihr ein anständiges Begräbnis zukommen lassen zu können. „La Fille Inconnue“ (auf der Viennale 2016 gezeigt in Anwesenheit von Luc Dardenne, der im Anschluss an die Vorführung auch viel Interessantes zum Film zu sagen hatte) ist ein ruhiger, nachdenklicher Film, der sich mit Moral und Ethik und der Frage des Schuldgefühls nach unterlassener Hilfeleistung beschäftigt. Unweigerlich wird man an die Schutzsuchenden erinnert, die vor dem Krieg nach Europa flüchten, an jene, die im Mittelmeer ertrinken und jene, die es schaffen, aber dann vor den kalten Mauern unserer Herzen stehen. Die Kunst der Dardenne-Brüder in diesem Film ist es, diese Fragen im Hintergrund mitschwingen zu lassen, ohne sie aber plakativ aufzurollen. Es geht um die Schuld des Einzelnen, auch um Sühne, um die Verschiebung von Prioritäten und um Courage. Getragen wird „La Fille Inconnue“ zudem von einer wirklich großartigen Hauptdarstellerin. Abzüge gibt es dafür, dass das Privatleben der Ärztin komplett außen vorgelassen wird (auch wenn Luc Dardenne die Gründe für diese Entscheidung erklärt hat), und dass die Menschen in diesem Film oft sehr übereifrig damit sind, ihr Gewissen zu erleichtern.
Zugegeben, ich bin kein Handke-Kenner. Einige Bücher aus seinem umfangreichen Werk habe ich zwar gelesen (zuletzt „Die Obstdiebin“), aber das qualifiziert mich noch nicht zum Experten, und mit Handke als Person habe ich mich bislang nur am Rande beschäftigt. Aber auch gerade deshalb, weil ich bisher so wenig über ihn wusste mit Ausnahme der Schlagzeilen zu den großen Kontroversen, hat mich diese Doku über den Schriftsteller interessiert. Corinna Belz ist es dabei gelungen, eine intime Atmosphäre in Handkes Haus in Frankreich aufzubauen, in der sich eine vertrauliche und von Offenheit zeugende Gesprächskultur entwickelte. Unterbrochen sind Handkes Reflexionen zu Sprache, Fiktion, Erzählung, Lebensweise und -lust immer wieder durch alte Polaroids und Archivaufnahmen von Interviews. Schade ist allerdings, dass zum einen der Familienmensch Handke trotz aller Versuche, sich ihm zu nähern, kaum greifbar wird, und zum anderen auch nicht die Gelegenheit genutzt wird, Handke mehr über sein langes und ereignisreiches Leben reflektieren zu lassen. Nicht, dass ich es auf eine Art Lebensfazit abgesehen hätte (das Handke selbst mit Sicherheit verweigert hätte), aber so bleiben die Betrachtungen zu vage in meinen Augen, intime Momentaufnahmen, die aber zu selten auf ein großes Ganzes verweisen. Trotz aller Intimität bleibt mir Handke als Mensch dennoch fremd. Doch vielleicht war ja auch genau das seine Absicht, als er sich auf die Dokumentation eingelassen hat.
Anthony Weiner war ein aufstrebender und streitbarer Kongressabgeordneter der Demokratischen Partei. Seine Karriere geriet ins Stocken, als herauskam, dass er ein Foto seines … Wieners … an eine junge Dame verschickt hatte, die nicht identisch war mit seiner Frau. Er tritt zurück. Gut, jeder macht mal einen Fehler, seine Frau hat ihm vergeben, die Öffentlichkeit kann es auch, also startet er zwei Jahre später überraschend erfolgreich eine Kampagne, um Bürgermeister von New York zu werden. Die Umfragen sehen ihn zeitweise sogar auf Platz 1. Doch dann … na ja, der Mann kann es einfach nicht lassen. Klingt wie eine bissige Politiksatire, ist aber, und jetzt kommt’s, eine wunderbare Dokumentation realer Ereignisse. Gleich zu Beginn des schreiend komischen Films sieht man Anthony Weiner, wie er kopfschüttelnd und mehr zu sich selbst als in die Kamera sagt: „Das ist der Tiefpunkt. Ich mache eine verdammte Dokumentation über meinen Sexskandal.“ Zwei Dinge machen diese Doku zu etwas ganz besonderem: Zum einen die Intimität der Aufnahmen, die selbst das Familienleben mit seiner Frau Huma, engste Beraterin von Hillary Clinton, und seinem Sohn zeigen, und die Person Anthony Weiner selbst. Ein charismatischer und authentischer Politiker, der eben nicht mit allen Wassern gewaschen ist, im Grunde eigentlich sympathisch, voller Elan und toller Pläne, witzig, selbstironisch, aber mit dem Problem, dass er weder den Mund noch den Hosenstall zumachen kann, wenn es angebracht erscheint. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der Dokumentation im Rahmen der Viennale 2016 hätte ich mir durchaus vorstellen können, dass ich ihn trotz allem hätte wählen können, wäre ich denn wahlberechtigt gewesen. Aber nun der tragische Appendix der ganzen Geschichte: Ende 2017 wurde er wegen Sexting mit einer Minderjährigen zu fast zwei Jahren Gefängnis verdonnert. Die Abgründe sind oft noch tiefer, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Dennoch: „Weiner“ ist eine wirklich großartige Dokumentation (vielleicht eine der besten der letzten Jahre) über menschliche Schwächen und die Rolle der Medien, wenn es die Schwächen von Prominenten betrifft, die zu Tage gefördert werden.
Es ist Zeit für einen Klassiker. Der erste Godzilla-Film von 1954 ist ein durchaus ansehnliches Trash-Vergnügen, jedenfalls was die Special Effects betrifft. Das Gummimonster mit den lustigen Glubsch-Augen stapft über Kartonmodelle und wirft zornig mit Modelleisenbahnwaggons um sich. Blickt man über diese amüsanten, wenngleich fantasievollen Notbehelfe hinweg, sticht jedoch die gut durchdachte, mitreißende Story ins Auge. „Godzilla“ war anno dazumal nicht weniger als ein Versuch der cineastischen Aufarbeitung des japanischen Atombombentraumas. Gleichzeitig ist die Story verknüpft mit der Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft für das Weltgeschehen. Zwar werden dem Zuseher alle Fragen und Erkenntnisse mit dem Holzhammer eingebläut, aber schon der Versuch, sich dieser Themen anzunehmen, ist löblich und stellt den Original-Godzilla schon mal weit über das Emmerich’sche Desaster von 1998 (über das ich lieber keine weiteren Worte verliere, auch wenn ich Jean Reno seit „Léon der Profi“ vergöttere). Dazu kommen durchaus interessante Protagonisten mit eigenen Geschichten und Motivationen, die dem Zuseher Identifikationsmöglichkeiten bieten. Einzige Schwierigkeit: Die japanischen Gesichter auseinanderzuhalten, was durch die körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen noch einmal eine besondere Herausforderung darstellt für das die Physiognomie des Ostens betreffend ungeübte Auge. Aber gut, auch wir Europäer sehen schließlich alle gleich aus. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Und die japanische Perspektive ist eine durchaus interessante, die nicht nur viele weitere Fortsetzungen mit sich gezogen, sondern auch dazu geführt hat, dass auch der Westen dieses ur-japanischste aller Monster lieben gelernt hat.
Wenn ein Film 105 Minuten dauert und sich nach 150 Minuten anfühlt, ist das in den meisten Fällen nicht so gut. So ist es auch bei „Results“. Was fehlt nun dieser romantischen Independent-Komödie mit Guy Pearce, Coby Smulders und Kevin Corrigan in den Hauptrollen? Nun, ganz einfach gesagt, sind es zwei Dinge: Die Romantik und die Komödie. Der Film plätschert relativ unaufgeregt vor sich hin und erzählt von zwei Fitness-Trainern (Pearce und Smulders), die auf einen depressiven, frisch geschiedenen Neureichen (Corrigan) treffen. Einige lustige Szenen folgen. Ein tiefenentspannter Hund und eine schöne Katze sind zu sehen. Man unterhält sich, streitet sich, und all das ist auch ganz gut gespielt, Cobie Smulders bietet wie immer was fürs Auge, Guy Pearce ist sympathisch überfordert und Kevin Corrigan stiehlt allen die Show, aber am Ende war’s mir selten so egal, ob sich die beiden Love Interests nun finden oder nicht. (Spoiler: Sie finden sich. Wurscht.) Und dazwischen viel Fitness. Guy Pearce ist erstaunlich fit. Coby Smulders hat einen schönen Hintern. Okay. Nächster Film, bitte.
Regie: Giorgos Lanthimos
Original-Titel: The Lobster
Erscheinungsjahr: 2015
Genre: Drama, Fantasy, Satire
IMDB-Link: The Lobster
Vorweg: Der griechische Regisseur Giorgios Lanthimos hat einen an der Waffel. Definitiv. Oder gute Drogen. Oder beides. Aber das ist gut so. Denn nur deshalb kommen wohl solch außergewöhnlichen Filme wie „Dogtooth“ oder eben „The Lobster“ zustande, die verstören, aufwühlen und lange nachhallen. Worum geht es in „The Lobster“? In einer dystopischen Nah-Zukunfts-Welt oder einer alternativen Gegenwart (so ganz klar wird das nicht) müssen alleinstehende Erwachsene für 45 Tage in ein Hotel mit Rundum-Betreuung ziehen und innerhalb dieser 45 Tage einen Partner bzw. eine Partnerin finden. Gelingt ihnen das nicht, werden sie nach Ablauf der Frist in ein Tier ihrer Wahl transformiert und im Wald ausgesetzt. Sie können die Aufenthaltsdauer im Hotel verlängern, indem sie „Loners“ betäuben und einfangen – Menschen, die sich gegen ein Leben in Partnerschaft entschieden haben und in Grüppchen als Outsider durch die Wälder streifen. Und als wäre das alles nicht schon bizarr genug, finden sich die Paare über gemeinsame Merkmale wie ein hinkendes Bein oder Nasenbluten. Daraus resultiert dann ein lakonisches Kunstwerk, das zwischen bitter-zynischer Komödie, verstörender Dystopie und schwarzhumoriger Parabel über Beziehungssuche und das menschliche Bedürfnis nach Bindung changiert. Colin Farrell in der Hauptrolle spielt so gut wie noch nie zuvor, aber auch der Rest des Casts kann mit zurückhaltendem, nuanciertem Spiel überzeugen. Einige Szenen gehen massiv an die Nieren, und das Lachen bleibt dem Zuseher des Öfteren auch im Hals stecken. Ein Meisterwerk.
Regie: J. C. Chandor
Original-Titel: A Most Violent Year
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Drama, Krimi, Thriller
IMDB-Link: A Most Violent Year
1981. New York. Die Kriminalitätsrate ist hoch, und in der Wirtschaft kommen noch eher Brechstangen und Eisen als Computer vor. Die Heizölgesellschaften bekämpfen sich gegenseitig mit allen erlaubten und vielen unerlaubten Mitteln, und die Staatsanwaltschaft ermittelt sicherheitshalber gleich mal gegen die gesamte Branche. Im Mittelpunkt von „A Most Violent Year“ steht der von Oscar Isaac verkörperte Unternehmer, der versucht, halbwegs redlich über die Runden zu kommen, dabei aber mit einem Bein im Gefängnis steht, den anderen Fuß in der Tür eines großen Geschäftsabschlusses hat und von hinten von den Gangstern gefickt wird, die seine Lastwagen kapern und sein Öl klauen. Dass seine von Jessica Chastain überragend gespielte Frau ihre Erziehung durch einen Gangstervater genossen hat, ist auch nur bedingt hilfreich. Kurz: Er hat Stress. Als Folge davon entwickelt sich ein Wirtschaftsthriller mit Längen, der zunächst nur schwer in Fahrt kommt, dann aber doch noch packender wird und am Ende ein ziemlich zynisches, da zutreffendes Statement über den Zustand des Kapitalismus abgibt. Der kleine Arbeiter liegt am Boden, der Rest wäscht sich gegenseitig die Hände.
Seit gestern ist die Viennale 2017, die letzte, die der im Sommer verstorbene Hans Hurch zum größten Teil gestaltet hat, nun auch wieder Geschichte. Ich selbst bin es überraschenderweise nicht, trotz 27 Filmen in 14 Tagen (davon 2 Viennale-frei). Bei meiner Filmauswahl hatte ich heuer ein glückliches Händchen. Es war wenig Mist dabei, viel Gutes. Und ein paar Highlights habe ich mir dank sicheren Kinostarts auch aufgehoben: Three Billboards Outside Ebbing, Missouri. The Shape of Water. Licht. Teheran Tabu. Helle Nächte. Auf die alle freue ich mich schon sehr. In meinem Viennale-Kalender untergebracht hätte ich die aber beim besten Willen nicht mehr. Auch wenn ich mir am 27., 30. und 31.10. Urlaub genommen habe, war mein Programm wirklich dicht mit zum Teil drei Filmen in Folge. Mehr geht nicht, jedenfalls, wenn man auch noch essen und schlafen möchte (und eben auch, so wie ich, arbeiten muss.)
Aber nun zu den Empfehlungen (und Verfehlungen). Das ist die Rangliste meiner gesichteten Viennale-Filme.
Unter den sehr guten Filmen möchte ich aber noch mal eine Warnung vor „Raw“ aussprechen – der Film ist wirklich nichts für schwache Mägen. Und „How to Talk to Girls at Parties“ ist dermaßen absurd, dass wohl auch viele Kinogeher damit nicht viel anfangen können. Mir hat’s gefallen, aber den Film uneingeschränkt jedem empfehlen würde ich dennoch nicht. Anders als bei „The Florida Project“ – mein absolutes Viennale-Highlight dieses Jahr und auch ein Highlight auf das Gesamtjahr gesehen.
Regie: Robert Bresson
Original-Titel: Au Hasard Balthazar
Erscheinungsjahr: 1966
Genre: Drama
IMDB-Link: Au Hasard Balthazar
In Gedenken an Hans Hurch, den vor kurzem verstorbenen Direktor der Viennale, suchten in einer Hommage vierzehn Freunde jeweils einen Film aus, den sie Hurch widmen möchten. Die Wahl von Tilda Swinton fiel auf „Au Hasard Balthazar“ von Robert Bresson. Dieser wurde bei seinem Erscheinen von der Kritik frenetisch gefeiert, und Godard meinte sogar, dass der Film in 90 Minuten die ganze Welt zeigen würde. Godard. Mein alter Spezi. Hüstel. Jetzt die spannende Frage: Kann ein Film, den Godard liebt, auch mir gefallen? Die Antwort vorweg: Ja, er kann. Denn Bresson ist nicht Godard, und die Leidensgeschichte des Esels Balthazar ist eindringlich und gleichzeitig ökonomisch erzählt – auch wenn man dem Film sein Alter ansieht, vor allem in manch unbeholfener Darstellerleistung. Von der ungestümen und unschuldigen Jugend über die harten Jahre als misshandelter Packesel und gedemütigter Zirkusesel bis zum Tod zeichnet Bresson das Leben Balthazars nach und findet damit eine Allegorie auf das menschliche Leben und die parallel ablaufende Geschichte der jungen Marie, der einzige Mensch, der Balthazar wirkliche Zuneigung zukommen lässt. Der religiöse Symbolismus, der aber nur dezent in den Film eingebaut wird, lässt sich recht leicht als Anspielung auf den Leidensweg Christi entziffern. Die unschuldige Kreatur büßt für die Sünden der Menschen. Die meisten Menschen nämlich nutzen Balthazar für Zwecke, die nicht unbedingt als rechtschaffen zu bezeichnen sind. Der Esel lädt die Sünden nicht nur im übertragenen Sinne auf – sondern auch auf seinem Rücken. Dabei ist „Au Hasard Balthazar“ kein religiöser Film. Man kann ihn auch als naturalistischen Abgesang auf die Unschuld sehen. Das Ende ist bitter und rührt zu Tränen. Die Unschuld ist tot.