Sarah Polley

Stories We Tell (2012)

Regie: Sarah Polley
Original-Titel: Stories We Tell
Erscheinungsjahr: 2012
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Stories We Tell


Sarah Polley lässt Familienmitglieder die Geschichte ihrer Familie und jene über ihre früh an Krebs verstorbene Mutter erzählen. Das ist „Stories We Tell“. Und was sich jetzt so fürchterlich banal anhört, im schlimmsten Fall sogar wie eine grausame Bauchnabelschau voller Selbstmitleid und Pathos, entpuppt sich als irrsinnig kluge, vielschichtige, hochgradig spannende und komplexe Geschichte über Geheimnisse und Wahrheiten, über die Liebe und die Lügen, die wir der Liebe zu Willen auf uns nehmen, über Sehnsüchte und die Unfähigkeit, diese manchmal zum Ausdruck zu bringen – und nicht zuletzt über die Erinnerungen, die wir in uns tragen, und die oft sehr subjektiv geformt ist von unserer eigenen Perspektive. Die Genialität von Sarah Polley liegt darin, alle Beteiligten, die Erinnerungen an ihre Mutter mitbringen, gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen in sehr persönlichen Interviews, die per se schon unter die Haut gehen, in der Summe und den kleinen Widersprüchlichkeiten, die es zu entdecken gibt, aber das Bild einer Familie formen, wie man es selten, vielleicht sogar noch nie gesehen hat. Da sich ab einem bestimmten Punkt des Films alles um Sarah Polley selbst dreht, die Filmemacherin also zum Subjekt ihres eigenen Films wird und sie nicht davor zurückscheut, weiterhin einfach draufzuhalten, egal, wie aufwühlend das Gesagte für sie auch sein mag, spricht ebenfalls für Sarah Polley, einer sensiblen Ausnahmekünstlerin unserer Zeit. Für diesen Film brauchte es eine extragroße Portion Mut von allen Beteiligten und vor allem von Polley selbst. Herausgekommen ist ein intimes Meisterwerk, das vielleicht gelegentlich ein paar Längen aufweist und in der Form auch recht starr ist, aber definitiv aufrührt und den Zuseher gebannt am Bildschirm kleben lässt.


8,5
von 10 Kürbissen

Take This Waltz (2011)

Regie: Sarah Polley
Original-Titel: Take This Waltz
Erscheinungsjahr: 2011
Genre: Drama, Liebesfilm
IMDB-Link: Take This Waltz


Selten war eine Storyline so rasch erzählt wie jene von „Take This Waltz“: Margot (Michelle Williams) ist glücklich verheiratet mit Lou (Seth Rogan). Als sie den charismatischen Daniel (Luke Kirby) aus ihrer Nachbarschaft kennenlernt, beginnt sie, ihre Ehe in Frage zu stellen. Mehr gibt es inhaltlich erst einmal nicht zu sagen über Sarah Polleys Beziehungs- und Sinnfindungsfilm. Aber mehr ist auch gar nicht nötig, denn in diesem (klassischen) Stoff steckt ohnehin genug Material für zwei abendfüllende Stunden. Wortreicher lässt sich allerdings die Umsetzung beschreiben. Dann da gibt es allerhand zu entdecken. Von den warmen, gelb-goldenen Farben der Kamera über die Dramaturgie, die den Zuseher das eine oder andere Mal subtil in eine andere Richtung lenkt, um dann doch wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, bis zum verletzlichen Spiel einer zuckersüßen Michelle Williams, deren Figur man nach diesem Film vom Fleck weg heiraten würde, auch wenn man weiß, dass man damit sehenden Auges in den Untergang rennen würde. Interessant fand ich, dass in einigen Reviews, die ich zu diesem Film gelesen habe, von der realistischen Darstellung dieser Sinnkrise und von den realitätsnahen und glaubhaften Charakteren geschrieben wurde. Glaubhaft sind die Figuren allemal, aber dennoch erkenne ich in „Take This Waltz“ weniger einen Film mit Anspruch auf Authentizität als vielmehr ein strikt durchkomponiertes Planspiel über Sehnsüchte, bei dem viel auf eine Metaebene gehoben wird. Dass dieser streckenweise artifizielle Aufbau (so interagiert der Daniel, der Love Interest, bis auf wenigen Ausnahmen fast gar nicht mit seiner Umwelt; vielmehr zeigt Sarah Polley Margot und Daniel immer nur in abgeschotteten, zweisamen Situationen, sodass ich mich lange Zeit gefragt habe, ob Daniel nicht nur ein Produkt von Margots Fantasie sein könnte) dennoch so gut auf einer emotionalen Ebene funktioniert, ist Sarah Polleys handwerklichem Können (die angesprochenen warmen Farben, die gute Musikauswahl) sowie der schauspielerischen Exzellenz von Michelle Williams zu verdanken, die ihre Margot auf eine unnachahmlich sensible Weise spielt. Auch Seth Rogen und Sarah Silverman sind hervorzuheben, die ihre Sache außerordentlich gut machen. Allein Luke Kirby hat kaum Gelegenheit, seinem Daniel Konturen zu verleihen, aber genau darin glaube ich auch wieder Polleys Absichten zu erkennen, die eben genau diese Figur wie ein Abziehbild stehen lässt – denn weniger geht es ihr um eine reale Liebesbeziehung als um das Sichtbarmachen geheimer Sehnsüchte und wie diese trotz glücklichem Leben plötzlich groß wie Drachen werden können. Ob jener, auf den diese Sehnsüchte projiziert werden, nun Daniel, John, Hans oder Ahmed heißt, ist dabei zweitrangig.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)