Dokumentation

Space Dogs (2019)

Regie: Elsa Kremser und Levin Peter
Original-Titel: Space Dogs
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Space Dogs


Gleich vorweg: Vor keinem anderen Film musste ich bislang eine so deutliche Warnung aussprechen wie vor dem Dokumentarfilm „Space Dogs“ von Elsa Kremser und Levin Peter. Tierliebhaber und alle Menschen, die keine empathielosen Arschlöcher sind, werden diesen Film stellenweise nur schwer ertragen. (Was jetzt keine Empfehlung für empathielose Arschlöcher ist, diesen Film zu sehen.) Es gibt Szenen zu sehen, in denen zum Einen die Grausamkeit des Menschen am Tier unter dem Deckmantel der Wissenschaft sichtbar wird, und zum Anderen die Grausamkeit des Tieres gegenüber eines anderen Tieres. Lose folgt der Film zwei Moskauer Straßenhunden, während aus dem Off die Geschichte von Laika, der ersten Hündin im Weltall, und den Straßenhunden, die ihr ins All folgten, erzählt wird. Die Analogie ist klar: Die aus eindrücklicher Nähe dokumentierten Straßenhunde bilden die Brücke in die Vergangenheit, wenn sich die Geschichte Laikas als alternative Realität, die sie hätte haben können, im Herumstreunen der Hunde andeutet. Zwischendurch sind auch Archivaufnahmen zu sehen, wie die Hunde nach Laika für ihre Weltraummission vorbereitet werden. Diese Aufnahmen gehören zu jenen, die sich auf den Magen schlagen. „Space Dogs“ bringt so einen Gedankenprozess in Gang: Wie stehen wir zu den Tieren, was bedeutet unser Interesse an ihnen für sie, was unser Desinteresse? Hier setzt eine andere, sich auf den Magen schlagende Szene einen Kontrapunkt: Denn die Vorstellung, dass alle Tiere friedlich und im Einklang mit der Natur leben könnten, wenn wir sie nur ließen, erweist sich als Illusion. Denn auch die Natur ist grausam. Das muss man sich unbedingt ins Gedächtnis rufen, wenn man sich diesen Film ansieht. Denn ansonsten übersteht man ihn nicht. In diesem Fall dann lieber Aurel Klimts liebevoll gemachten Animationsfilm Laika aus dem Jahr 2017, der eine alternative und hoffnungsvollere Geschichte erzählt.


7,0
von 10 Kürbissen

 

Aus dem Osten (1993)

Regie: Chantal Akerman
Original-Titel: D’Est
Erscheinungsjahr: 1993
Genre: Dokumentation, Experimentalfilm
IMDB-Link: D’Est


Anfang der 90er fährt Chantal Akerman nach Russland, um Leute anzuschauen. Und das ist dann auch schon der ganze Film. Seitwärts patrouilliert die Kamera Straßen entlang, um Menschen, die (zumeist mit ausdruckslosem Gesicht) herumstehen, abzufilmen. Kaum jemand spricht, kaum jemand geht – es wirkt so, als hätte Akerman in Moskau die frühe Version von Flashmobs gefunden, zu denen sich an beliebigen Orten im Winter Leute zusammenfinden, um pelzmützenbewehrt auf etwas zu warten, was dann doch nicht kommt. Das Ganze ist ja für eine Weile recht lustig anzusehen, und man beginnt darüber zu sinnieren, dass irgendeine Firma in Russland wohl den großen Reibach mit Pelzmützen gemacht hat, denn die sehen tatsächlich alle gleich aus. Aber dann wandern die Gedanken langsam ab, von Pelzmützen zu Einkaufslisten, zu der Freundin, die zuhause in Wien sitzt, während man selbst in Locarno auf Pelzmützen im Moskauer Winter starrt, zu der Frage, ob man sich zu Abend eine Pizza gönnen soll oder lieber nicht, um irgendwann doch wieder zum Film zurückzukehren – nämlich der spannenden Frage, ob die Damen und Herren, die da abgefilmt wurden, ihre eigenen Pelzmützen mitgebracht haben oder ob die von der Produktionsfirma gestellt wurden – quasi der Obolus für das Mitwirken am Film. Ein paar Reihen weiter hinten schnarcht ein Zuseher friedlich vor sich hin, wer noch die Kraft hat, hievt sich aus dem Sessel und schleppt sich aus dem Saal, und nein, ich hatte zu Abend keine Pizza mehr, sondern eine Minestrone und danach ein Glas Montepulciano d’Abbruzzo. Und im Gegensatz zum Film war dieser vorzüglich.


2,0
von 10 Kürbissen

The Tree House (2019)

Regie: Minh Quy Truong
Original-Titel: Nhà Cây
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Nhà Cây


Im Jahr 2045 befindet sich ein einsamer Vietnamese auf dem Mars. Als Erinnerung an die Erde hat er eine Kamera und Kassetten dabei. Damit versucht er, die Einsamkeit zu überbrücken und das Gedächtnis an die Menschen, mit denen er gelebt hat, zu pflegen. Soweit die nicht uninteressante Ausgangsbasis von Minh Quy Truongs inszeniertem Dokumentarfilm, denn ums Erinnern geht es. Und um das Ursprüngliche im Menschen und im Leben. In losen Monologen erzählen Menschen von ihrer Kindheit. Diese Erzählungen werden mit grobkörnigen Bildern unterlegt. Das Aufwachsen fern von jeglicher Zivilisation ist schließlich das, was Minh Quy Truong interessiert. Die Frau, die ihre ersten Lebensjahre mit ihrer Familie in einer Steinhöhle gelebt hat. Der Mann, der 45 Jahre lang allein mit seinem Vater bis zu dessen Tod im Wald gelebt hat. Außenseiter von Außenseitervölkern, deren Erzählungen uns so fremd sind und in denen doch das Urmenschliche durchklingt, was wir selbst vielleicht schon zur Gänze verloren haben, aber an das wir uns erinnern als kollektiver Bestandteil unserer Herkunft. Allerdings hat „The Tree House“ ein gewaltiges Problem: Er ist zäh wie Strudelteig, denn die Erinnerungen und Sequenzen und Montagen mögen – auch wenn sie per se interessant sind – nicht zueinander finden. Und so bekommt man Stück für Stück für Stück vorgesetzt, und alles sieht irgendwie gleich aus, keinerlei Entwicklung ist zu spüren. Der Film läuft ins Leere. Und vielleicht ist das ja auch so mit den Erinnerungen – auch sie haben keinen Anfang und kein Ende. Formal mag Minh Quy Truongs Film damit durchaus gut gemacht sein, aber wenn man bereits nach einer halben Stunde die Aufmerksamkeit seines Publikums verliert, die dann nur gelegentlich bei einzelnen gelungenen Sequenzen aufploppt, dann hat man halt nicht alles richtig gemacht. Sondern einen faden Film gedreht.


3,5
von 10 Kürbissen

Shirkers (2018)

Regie: Sandi Tan
Original-Titel: Shirkers
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Shirkers


Manchmal hast ein Pech. Da drehst du mit ein paar enthusiastischen Filmstudentinnen in Zusammenarbeit mit deinem charismatischen Professor das erste Independent-Roadmovie Singapurs, und dann haut ausgerechnet dein Prof mit den 70 Filmrollen ab und ward nie mehr gesehen. Blöd gelaufen. Was nach einem Pitch für eine neue Coen-Brüder-Komödie klingt, ist Sandi Tan in den 90ern tatsächlich passiert. Dagegen war die Produktionsgeschichte von The Man Who Killed Don Quixote ein Klacks. Zweieinhalb Jahrzehnte später zeichnet sie diese unglaubliche Geschichte nach. In Interviews mit ihren damaligen Gefährtinnen und mit Bekannten des flüchtigen Filmprofessors rekonstruiert sie zum Einen die Dreharbeiten selbst und deren Bedingungen damals, die sicherlich nicht einfach waren, und zum Anderen, was mit dem Film nach dem Abschluss der Dreharbeiten geschehen ist, als er eigentlich nur noch geschnitten hätte werden sollen. Und so funktioniert die Dokumentation auf gleich mehreren Ebenen: Als Stück Zeitgeschichte über das Filmschaffen in Asien in den 90ern, als Dokumentation eines filmischen Schaffensprozesses per se, als Beweis einer psychischen Erkrankung und als Reflektion der Filmschaffenden über ihre ersten Schritte in der Filmindustrie und ihrer eigenen Fehltritte, die sie damals gemacht hat. Und man stellt fest, wie schade es ist, dass dieses erste Independent-Roadmovie aus Singapur niemals das Licht der Welt erblickt hat – denn bei einem solch übermäßigen Enthusiasmus der damals Beteiligten gepaart mit der Notwendigkeit für Improvisationen und der daraus resultierenden Kreativität wäre das Ergebnis mit Sicherheit sehenswert geworden. Die Dokumentation selbst entschädigt ein klein wenig dafür, hat aber auch seine Längen und ist mir persönlich in manchen Szenen ein wenig zu selbstreferentiell gehalten. Wer sich selbst ein Bild machen möchte, kann dies aktuell auf Netflix tun.


6,5
von 10 Kürbissen

Junun (2015)

Regie: Paul Thomas Anderson
Original-Titel: Junun
Erscheinungsjahr: 2015
Genre: Dokumentation, Musikfilm
IMDB-Link: Junun


Diesen Tipp verdankte ich prinzipiell dem seligen Hans Hurch, der vor Beginn der letzten von ihm geleiteten Viennale das Publikum zu einer Informationsveranstaltung einlud. Dort machte er auf kleinere Perlen aufmerksam, die sonst vielleicht untergehen könnten. Dass ich aber „Junun“ verpassen könnte, stand von Vornhinein außer Frage, nachdem ich gelesen hatte, wer da aller seiner Finger im Spiel hatte. Beginnen wir mit dem von mir sehr geschätzten Jonny Greenwood. Der ist offenbar nicht damit ausgelastet, mit Radiohead die zeitgenössische Musik zu revolutionieren und Filmmusik zu schreiben. Also geht er nach Indien und bunkert sich dort mit einem Haufen lokaler Musiker (darunter eine Blasmusikkapelle) und dem israelischen Songwriter Shye Ben Tzur in der altehrwürdigen indischen Festung Meherangarh ein, um zu musizieren. Gut, dass er seine alten Spezis Paul Thomas Anderson und Nigel Godrich (den Produzenten von Radiohead) im Gepäck hat, denn so entsteht ein ganzes Album mit wunderbarer israelisch-indisch-westlicher Crossover-Musik, und der Entstehungsprozess wird auch noch filmisch eingefangen. Dabei hält sich Paul Thomas Anderson angenehm zurück. Er lässt Drohnen über die eindrucksvolle Festungsanlage kreisen, als würde er das Geschehen respektvoll aus der Ferne betrachten wollen. Eigentlich ist die nicht einmal eine Stunde dauernde Doku „Junun“ gar kein Film. Es ist ein langer Musikclip, der die Produktion des Albums „Junun“ dokumentiert. Und doch ist keine einzige Sekunde langweilig. Zu faszinierend ist es, diesen allesamt begnadeten und so unterschiedlichen Musikern zuzusehen, wie sie sich aufeinander einschwingen und wie aus ihren jeweiligen Zugängen zur Musik etwas völlig Neues, Einzigartiges entsteht. Die Musik ist absolut mitreißend und zeigt vor allem eines: Dass es auch unter Fremden immer etwas gibt, das sie vereint.

 


7,0
von 10 Kürbissen

Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht (1935)

Regie: Leni Riefenstahl
Original-Titel: Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht
Erscheinungsjahr: 1935
Genre: Dokumentation, Propagandafilm, Kurzfilm
IMDB-Link: Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht


Leni Riefenstahl war eine geniale Filmemacherin. Visuell gehören ihre Filme zu den eindrucksvollsten ihrer Zeit. Ihre Inszenierungen sind visuelle Leckerbissen. Aber bei niemandem geht die Schere zwischen Form und Inhalt so weit auseinander wie bei ihr. Das strrrrammme teutschäää Määdääl hat nämlich Filme gemacht, die die Welt so dringend gebraucht hat wie Darmkrebs. „Tag der Freiheit – Unsere Wehrmacht“ ist Propagandamüll der übelsten Sorte. Der Inhalt? Nun, bevor Paintball populär wurde, mussten sich die militanten Halbstarken anderweitig behelfen, und zwar mittels Wehrsportübungen mit scharfen Waffen. Daneben stehen Onkel Adi und seine Wadlbeißer und blicken mit Argusaugen auf die vorexerzierte Stärke von deutschem Kruppstahl (der sich vorzugsweise dort befindet, wo andere Menschen ihr Gehirn haben). Da wird marschiert und gesungen und geballert und in Hakenkreuz-Formation geflogen. Würde man nicht wissen, welch verheerenden Schaden diese Ballermänner im Laufe des nächsten Jahrzehnts noch angerichtet haben, wäre diese ganze Turnübung fast tragikomisch. So aber geht einem das Geimpfte wieder auf. Wie gesagt, visuell ist das alles sehr gut inszeniert, und man denkt sich unweigerlich: Was für eine Verschwendung von Talent! Aber Freude hat an diesem Film mutmaßlich nur jemand wie Gaul-Leiter Kickl, der sich an der strammen Formation der Kavallerie erfreut. Für alle Anderen gilt: Dieser Dreck kann weg. Der hat nicht einmal mehr pädagogischen Wert.


1,0
von 10 Kürbissen

Inland (2019)

Regie: Ulli Gladik
Original-Titel: Inland
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Inland


Gitti, Alexander und Christian sind recht leiwande, kommode Leute. Gut möglich, dass man einfach mal zufällig in einem Wirtshaus zusammensitzt und bei einem Bierchen (oder in meinem Fall: einem Achterl Wein) über Gott und die Welt plaudert und sich dabei gut versteht. Vielleicht kommt dann irgendwann die Sprache auf Politik, und da werden sich dann Differenzen zeigen. Ah, ihr habt also die Blauen gewählt? Warum eigentlich? Ulli Gladik hat genau das getan: Sich mit drei FPÖ-Wählern an einen Tisch gesetzt und mit ihnen geredet bzw. sie reden lassen. Immerhin haben wir eine türkis-blaue Regierung, die von einer Mehrheit der österreichischen Wählerinnen und Wählern legitimiert ist. Zu erfahren, was diese Menschen denken – von der Partei, die sie gewählt haben und einige Monate später auch von ihren bisherigen Taten – ist durchaus spannend und gerät dank Gladiks behutsamer und respektvoller Inszenierung nie zur Nabelschau. Was sich dabei zeigt: zu erwartende Widersprüche, wenn beispielsweise Christian zu Beginn der Doku durch den zehnten Wiener Gemeindebezirk spaziert und kopfschüttelnd über einen türkischen Friseurladen meint: „Da wirst als Österreicher eh nie drangenommen“, ehe er am Ende des Films sehr zufrieden über das tolle Preis-Leistungs-Verhältnis seine Haare von einem türkischen Friseur (der noch dazu eh österreichischer Staatsbürger ist) schneiden lässt. Was sich auch zeigt: wie geschickt es die FPÖ versteht, durch das Schüren diffuser Ängste und Sorgen jene für sich zu gewinnen, die letzten Endes durch ihre Politik noch ärmer gemacht werden. Ein Schlüsselsatz fällt, als Ulli Gladik den arbeitslosen Alexander fragt, als sich jener in Widersprüche verwickelt, ob es ihm tatsächlich lieber sei, wenn er ihm selbst schlechter ginge, solange es den Ausländern und Migranten ebenfalls schlechter ginge, als wenn es allen besser ginge. Der überlegt kurz und bestätigt dann, dass er das tatsächlich bevorzugen würde. Hauptsache, den Ausländern gehe es schlechter. So sehr hat sich das Mantra, dass Zuwanderung an allem Übel schuld sei, durch die Propaganda der blauen Partei in die Köpfe dieser Menschen gebrannt. Die Gastwirtin Gitti wiegelt nur ab, als Ulli Gladik versucht, mit Fakten ihren Fehlinformationen entgegenzutreten: Das sei ihr alles zu hoch. Sie könne nur das bewerten, was sie im täglichem Umfeld wahrnehmen würde. Immobilienblasen, Steuererleichterungen für Konzerne, das alles verstehe sie nicht. Die Stärke des Films ist, dass man ihr diese Unwissenheit nicht vorwerfen möchte. Man versteht diese vom Leben desillusionierten Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben, auch wenn man ihnen mit der eigenen Meinung diametral gegenübersteht. Und plötzlich wäre es interessant, mal selbst mit einem Christian, einem Alexander, einer Gitti zu reden. Wer weiß, was das auslösen würde? Immerhin heißt es ja: Durchs Reden kommen die Leute zusammen. Und ein bisschen Verständnis für die jeweils andere Position auf beiden Seiten könnte schon dazu führen, künftig konstruktiver miteinander umzugehen und sich nicht nur auf sozialen Medien zu beflegeln.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm Verleih)

Mein Bruder kann tanzen (2019)

Regie: Felicitas Sonvilla
Original-Titel: Mein Bruder kann tanzen
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Mein Bruder kann tanzen


Felicitas Sonvilla hat einen Bruder, der angeblich ganz gut tanzen kann. Und der Musik macht. Der in einer anderen Stadt lebt als sie selbst, in Wien nämlich. Und mit dem sie sich nicht gut versteht. Und weil das irgendwie oasch ist (auf gut Wienerisch), wenn sich Geschwister voneinander entfremdet haben, bricht sie mit ihrem Bruder Silvius, dessen Freundin und einer Kamerafrau in einem winzigen Auto, das so kaputt ist, dass man nur durch die Fenster einsteigen kann, von Wien aus Richtung Helsinki auf. Denn dort sind die beiden Geschwister einige Jahre lang aufgewachsen, dort verbinden sie gemeinsame Erinnerungen. Diese Versuchsanordnung, einen Film über die eigene Geschwisterbeziehung und sich selbst zu drehen, kann natürlich sehr leicht zu einer narzisstischen Nabelschau verkommen. Dieses Problem ist Felicitas Sonvilla natürlich bekannt, und sie adressiert es auch direkt zu Beginn ihrer Dokumentation. Was in diesem Film dann passiert, ist Folgendes: Er gerät zeitweise zu einer narzisstischen Nabelschau. Felicitas Sonvilla erzählt von einem Konflikt, den man als solchen von außen nicht erkennen kann. Auch dessen ist sie sich bewusst. Am Ende steht ein selbstironisches Fazit: „Vielleicht haben wir auch gar kein Problem, sondern sind einfach nur zwei Idioten“. So weit würde ich in meiner Bewertung nicht gehen, denn allein schon das Bewusstsein dessen, dass man hier vielleicht im Trüben fischt und einen Film über ein Nicht-Problem dreht, das man zu einem Konflikt hochstilisiert, bringt Sympathiewerte ein. Auch kann man in diesem Film durchaus etwas über übliche Geschwisterbeziehungen und ihre Auf und Abs erfahren. Im anschließenden Q&A erzählte die Regisseurin davon, dass sich durch diese Reise und den Film darüber die Beziehung zu ihrem Bruder tatsächlich gebessert hat. Allerdings werde ich trotz allem den Verdacht nicht los, dass der Film selbst aus neutraler Sicht und abseits therapeutischer Effekte eigentlich überflüssig ist. Und dafür gibt es dann am Ende doch nur 4 Punkte. Und einen halben Punkt noch als Bonus dazu für den vielleicht originellsten Filmtitel unter den von mir 21 am Crossing Europe Filmfestival gesichteten Filmen.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Transnistra (2019)

Regie: Anna Eborn
Original-Titel: Transnistra
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Transnistra


Transnistrien ist eine sehr stark russisch geprägte Region in Moldawien, die auf eine sehr wechselhafte und problembehaftete Geschichte zurückblickt Anfang der 90er Jahre kam es im Zuge des Unabhängigkeitsstrebens von Transnistrien zu einem kriegerischen Konflikt zwischen der Region und dem Staat Moldawien. Etwa 500 Menschen starben damals. Und so richtig leiwand haben es die Leute auch heute nicht. Das alles wäre zwar spannend für eine filmische Aufarbeitung, aber daran ist Regisseurin Anna Eborn nicht interessiert. Vielmehr geht es ihr um eine Gruppe von Jugendlichen und ihren Träumen von einem besseren Leben. Im Mittelpunkt stehen dabei Tanja und Tolya. Tanja weiß nicht so recht, was sie will – so hüpft sie von einem Typen zum nächsten – und doch ist es sie, die am Ende die konkreteste Veränderung durchmacht. Tolya wirkt einfältig und ebenso ziellos, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Diese Ziellosigkeit, die man anfangs an ihm wahrnimmt, entpuppt sich aber im Laufe der Erzählung als Desillusionierung. Die wohl größte Stärke des Films ist es, dass er das alles nicht plakativ aufrollt, sondern sich diese Aspekte erst nach und nach in den Gesprächen der Jugendlichen untereinander entfalten. Anna Eborn zeigt hauptsächlich die Freundschaften, wie sie sich entwickeln und verändern, wie man die Zeit miteinander totschlägt, wie neue Allianzen geschmiedet werden und alte Freundschaften in die Brüche gehen – das normale Leben von Jugendlichen eben. Über diesen Zugang findet sie schließlich zum Blick auf die Zukunft dieser jungen Menschen und damit den Kern ihres FIlms – und der ist wahrlich nicht rosig. Trotzdem ist „Transnistra“ kein Feel-Bad-Movie, sondern hauptsächlich ein intimes Porträt von Freundschaften in prekären Verhältnissen. Allerdings tröpfelt die Erzählung manchmal etwas zu langatmig vor sich her. Und gerade die komplette Auslassung der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und vor allem geschichtlichen Hintergründe zu der Region, in der der Film spielt, lassen den Zuseher nur schwer ins Geschehen finden und erschweren das Verständnis. Wer etwas über Transnistrien wissen möchte, um eine Vorstellung davon zu bekommen, warum diese Jugendlichen so desillusioniert auf ihre Zukunft blicken, muss anschließend Google und Wikipedia bemühen – so wie ich.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Normal (2019)

Regie: Adele Tulli
Original-Titel: Normal
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Normal


Was ist normal? Eine einfache Frage mit einer schwierigen Antwort. Fragt hundert Menschen auf der Straße, was für sie Normalität bedeutet, und ihr werdet hundert verschiedene Antworten und Sichtweisen bekommen. Normal ist für den Einen, dass zwei Menschen, die sich lieben, den Bund der Ehe eingehen können. Normal ist für den Anderen, dass die Ehe nur zwischen Mann und Frau möglich ist. Und für einen Dritten ist ein Zusammenleben ohne ehelichem Bund normal. Um nur ein Beispiel zu nennen. Adele Tulli findet in ihrem dokumentarischen Essay-Film einige sehr einprägsame Beispiele für in unserer Gesellschaft auf breiter Basis wahrgenommene Normalität, die sich bei genauerem Blick aber als Absurdität entlarvt. Wenn beispielsweise in einer Fabrik am Fließband rosa gefärbte Spielzeug-Bügelbretter für Mädchen gefertigt werden während daneben die blau gefärbten Spielzeuge für Burschen verpackt stehen, dann wird jedem, der das sieht, die Absurdität dieser gesellschaftlichen Norm bewusst. Oder wenn Tulli bei einem Junggesellinnenabschied kreischende Mädchen und eine peinliche berührte Braut in spe zeigt, wie sie Kuchen in der Form eines Penisses anschneiden und lasziv verspeisen. Oder bei der Gruppe von Müttern im Park, die mit ihren Kinderwägen Gymnastikübungen aufführen. Oder bei dem Sohn, der von seinem Vater noch martialische Anfeuerungen vor einem Motorrad-Rennen für Kinder mitbekommt. Das alles wirkt lächerlich und absurd und zeigt allzu deutlich die Geschlechterrollen auf, in die sich unsere Gesellschaft hineinmanövriert hat. All das ist sichtbar im Alltag – nur wird es dort nicht wahrgenommen. Im Gegenteil: Allzu selbstverständlich unterwerfen wir uns diesem Diktus der Normalität, denn wir kennen es nicht anders. Und ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis das glückliche schwule Paar bei der Hochzeit zur Normalität wird. Wohl erst dann, wenn wir uns nicht mehr bewusst sind, dass es ein schwules Paar ist, dass da heiratet, sondern einfach nur zwei Liebende. Adele Tulli ist mit „Normal“ ein unaufgeregter und unspektakulärer Film geglückt, der uns vor einfache und gut bekannte Situationen stellt und uns damit vor Augen führt, wie absurd diese eigentlich sind, wenn man genau hinschaut. Sie schärft damit den Blick, und das tut uns allen gut.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)