2018

Winter Flies (2018)

Regie: Olmo Omerzu
Original-Titel: Všechno bude
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Roadmovie, Komödie
IMDB-Link: Všechno bude


Auf diesen Film am letzten Tag des Crossing Europe Filmfestivals in Linz habe ich mich sehr gefreut. Ich mag Roadmovies. Ich mag Geschichten über Jugendliche, wie sie ausbrechen aus dem starren Gerüst, das sie zurückhält, und wie sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Der Geruch von Freiheit. Born to be wild. Vielleicht, weil ich selbst nie so ein Kind oder Jugendlicher war. Ich habe keinen Audi gestohlen, um damit quer durchs Land zu fahren. Und ich hatte keinen dicken Freund im Tarngewand an meiner Seite, der die ganze Zeit davon redet, endlich mal ein Mädchen flachzulegen. Stattdessen habe ich FIFA Soccer gezockt und dämliche Sitcoms angeschaut. Verwegene Freiheit: Wenn man mal im Garten die olympischen Spiele nachgespielt hat und beim Speerwurf mit Ast des Birnenbaums ein Kellerfenster dran glauben musste. Ja, in diesem Moment hätte ich mir gewünscht, in einem gestohlenen Auto abzuhauen mit einem Kumpel an meiner Seite. Und dann hätten wir vielleicht dieses eine hübsche Mädchen aufgegabelt und mitgenommen. Und wir hätten Abenteuer erlebt, andere, als wir uns vorgestellt haben, aber aufregend wären sie dennoch gewesen. Nachdem ich nun „Winter Flies“ von Olmo Omerzu gesehen habe, weiß ich aber: Es gibt für alles eine bestimmte Zeit. Ich habe sie damals verpasst. Vielleicht fiel es mir auch deshalb so schwer, mich in diesen Film, den ich so gern gemocht hätte, hineinfallen zu lassen. Ein anderer Faktor waren die Jugendlichen selbst, die trotz aller Bemühungen ihrer Hauptdarsteller für mich nicht glaubwürdig wirkten. Beziehungsweise zu eindimensional. Der Rebell. Der notgeile Dicke. Nur wenige Momente strahlen Glaubwürdigkeit aus, darunter eine sehr seltsame, aber doch nachvollziehbare Masturbationsszene. Aber unterm Strich konnte der Film mit meiner Erwartungshaltung nur viel zu selten mithalten. Sind wir doch ehrlich: Die besten Abenteuer sind die, die wir nie erlebt haben.


5,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Schwimmen (2018)

Regie: Luzie Loose
Original-Titel: Schwimmen
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama
IMDB-Link: Schwimmen


Der Ursulinensaal in Linz, eine der größten Spielstätten des Crossing Europe Filmfestivals. Ein ausverkauftes Haus – und das an einem Montagvormittag. Der Grund dafür ist rasch ersichtlich: Mehrere Schulklassen werden von ihren Lehrern in Luzie Looses Debütfilm „Schwimmen“ gelotst. Oder sagen wir eher: Der Saal wird von Hunderten Schülern überrannt. Die paar Lehrer und ein Filmkürbis haben Panik in den Augen. Aber trotz des anfänglichen Aufruhrs, der sich noch mal verstärkt, als vor der Vorführung vom Moderator noch Schokolade in den Saal geworfen wird, ist es bei der Sichtung von „Schwimmen“ mucksmäuschenstill. Die Schüler sehen der 15jährigen Elisa zu, wie sie zunächst aufgrund ihrer plötzlichen Blackouts von den Mitschülern gemobbt wird, dann Freundschaft mit der hübschen Möchtegernschauspielerin Anthea schließt und sich durch geheime Videoaufzeichnungen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler in prekären Situationen rächt. Das Rad der Rache dreht sich aber bald zu weit. So weit, so gut. Ein ambitionierter Film über ein wichtiges Thema, keine Frage. Im Mittelpunkt steht zwar eher die freundschaftliche Beziehung zwischen Elisa und Anthea, aber der Film bietet den anwesenden Lehrerinnen und Lehrern genügend Stoff, um anschließend erschöpfend über die Themen Mobbing, Drogenmissbrauch und Social Media-Missbrauch zu diskutieren. Das große Problem des Films bringt aber im anschließenden Q&A ein Schüler auf den Punkt: Gerade das Mobbing-Thema ist überzeichnet dargestellt. Als Elisa beginnt, sich zu rächen, indem sie die verfänglichen Videos teilt, springt sofort die ganze Schule darauf auf und mobbt sofort die gezeigten Schüler, egal, wie beliebt diese vorher waren. Auch folgen die Figuren weniger einer inneren Logik, sondern den Vorgaben des Drehbuchs, was zu Überzeichnungen und nicht nachvollziehbaren Handlungen und Reaktionen führt. Es ist immer ein Problem, wenn Figuren etwas tun, weil es das Drehbuch so will. Dann verliert ein Film nämlich seine Glaubwürdigkeit. Und genau das ist meiner Meinung nach Luzie Loose bei „Schwimmen“ passiert. So bleiben auf der Habenseite allein ein ambitioniertes und wichtiges Thema und eine gut aufspielende Hauptdarstellerin Stephanie Amarell sowie eine wirklich schön gefilmte Drogenmissbrauchsszene, die Lust auf mehr macht (was vielleicht aber nicht so ganz in der Absicht der Filmemacherin liegen dürfte).


4,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Arctic (2018)

Regie: Joe Penna
Original-Titel: Arctic
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Thriller, Abenteuerfilm
IMDB-Link: Arctic


Hollywood on Ice. Mit diesen drei Worten ist Joe Pennas Survival-Drama „Arctic“ ausreichend beschrieben. Mads Mikkelsen spielt darin einen Mann namens Overgard, der ein klitzekleines Problem hat: Er ist mit seinem Flugzeug gecrasht. In der Arktis. Ohne Hoffnung, gesucht und gefunden zu werden. Alles in allem eine doch etwas missliche Lage. Aber weil man ja so etwas wie eine Routine braucht, hat er es sich im Flugzeugwrack häuslich eingerichtet, angelt Fische aus dem Eis, die er dann als Sushi verspeist, und sucht die Umgebung nach Radiofrequenzen ab in der Hoffnung, auf sich aufmerksam machen zu können. Und dann geschieht das Wunder: Ein Hubschrauber kommt vorbei. Leider inmitten eines üblen Eissturms. Das Resultat: Ein zweites gecrashtes Luftfahrzeug. Mit einer schwerverletzten Co-Pilotin. Plötzlich hat Overgard eine Verantwortung, die über jene für sein eigenes Leben hinausgeht. Also packt er seine Siebensachen und die verletzte Pilotin ein und macht sich auf dem Weg zu einem mehrere Tage entfernten Camp, das er auf einer Karte im abgestürzten Hubschrauber ausfindig gemacht hat. Was nun folgt, ist ein Survival-Drama, das alle Klischees Punkt für Punkt abhakt. Immer dann, wenn man sich denkt: „An dieser Stelle müsste nun das und das passieren, um im Klischee-Bingo weiterzukommen“, passiert mit Sicherheit genau das Erwartete. Und da kann sich Mads Mikkelsen, den ich sehr schätze und der auch wieder gekonnt aufspielt, noch so sehr abmühen, aber den Film über den Durchschnitt hinausheben kann auch er nicht. Immerhin gibt es dank Islands Naturgewalt, wo der Film gedreht wurde, schöne Landschaftsaufnahmen zu sehen.


5,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Home Games (2018)

Regie: Alisa Kovalenko
Original-Titel: Domashni Igri
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Domashni Igri


Die 20jährige Alina möchte eine der besten Fußballspielerinnen der Ukraine werden und es bis ins Nationalteam schaffen. Das Talent und den Willen dazu hat sie. Was sie aber auch hat: Eine alkoholkranke Mutter, einen so gut wie immer abwesenden Vater, der keinen Cent von dem Geld, das er verdient, nach Hause bringt, zwei deutlich jüngere Geschwister und eine Großmutter, die zwar mit Ratschlägen, aber nicht mit Taten weiterhelfen kann. Und dann stirbt auch noch die Mutter. Alisa Kovalenko, die Regisseurin von „Home Games“ ist mit ihrer Kamera immer dabei: Auf dem Feld, wenn Alina ihre Wut auf das Leben in Energie im Spiel ummünzt, beim Begräbnis der Mutter, bei der Konfrontation mit dem Vater (dessen Charakter am deutlichsten sichtbar wird, als er sich nach einem Streit mit seiner Tochter aus dem Staub macht, sich dabei aber noch Zeit nimmt, sich an der Tür umzudrehen, in die Kamera zu blicken und der dahinter befindlichen jungen und hübschen Filmemacherin zuzwinkert), vor allem aber bei den Versuchen, die beiden Geschwister aufzuziehen. Die Familie lebt deutlich unter der Armutsgrenze. Hilfe gibt es keine. Der Tod der Mutter, die zumindest einen Teil der Verantwortung getragen hat, führt dazu, dass Alina alle Hände voll hat, den Alltag zu organisieren. Für Fußball bleibt da kaum mehr Platz. Stirbt damit ihr großer Traum und vielleicht die einzige Chance, der Armut zu entfliehen? Alisa Kovalenko hat einen sehr intimen Film gedreht. Das Vertrauen, das ihr Alina und ihre Familie entgegenbringen, ist enorm. Dadurch ist die Regisseurin immer und überall hautnah dran, ist dabei aber unsichtbar. Man könnte dem Film vielleicht zum Vorwurf machen, einen voyeuristischen Blick auf eine Familie in Armut zu werfen. Man könnte aber auch einfach ein respektvolles Porträt einer starken jungen Frau sehen, die zwar versucht, ihren Traum zu leben, gleichzeitig aber Verantwortung übernimmt, als es nötig ist, so schwer das manchmal auch fällt.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Messer im Herz (2018)

Regie: Yann Gonzalez
Original-Titel: Un couteau dans le coeur
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Thriller
IMDB-Link: Un couteau dans le coeur


„Messer im Herz“ von Yann Gonzalez ist eine mutige und farbenfrohe Angelegenheit. Denn der Film vereint das Genre des Giallo (in dem in den 70ern vorzugsweise junge, leicht bekleidete Mädchen von irren Serienmördern so farbenprächtig abgemurkst wurden, dass man eigentlich eine neue Bezeichnung für das strahlende Rot des Kunstblutes, das verwendet wurde, erfinden müsste) mit dem des Schwulenpornos. Hier sind es nun sinnliche junge Männer (manche davon mit beeindruckendem 70er-Jahre-Pornoschnauzer), die um ihr Leben bangen müssen. Diese Männer spielen allesamt in Annes (Vanessa Paradis) neuester Produktion mit. Anne hatte eine Beziehung zu ihrer Cutterin Lois (Kate Moran), die aber in die Binsen gegangen ist. Anne möchte nun das große Meisterwerk der drittklassigen Schwulenpornos drehen und damit Lois so beeindrucken, dass sie wieder zurückkehrt zu ihr. Blöd nur, dass ihr da der irre Serienmörder dazwischenkommt, der ihre Darsteller meuchelt. Da muss es eine biografische Verbindung geben, also beginnt Anne zu ermitteln. „Messer im Herz“ ist ein kompromissloser Film – völlig überdreht, stellenweise sehr komisch und bunt wie ein Papagei im Fasching. Man merkt an, wie viel Spaß es dem Regisseur bereitet hat, diesen Film zu drehen. Und er möchte – wie üblich beim Giallo – gar keine tiefgreifenden Botschaften vermitteln. Gonzalez möchte mit seinem Film nur zwei Dinge: Gut unterhalten und Vanessa Paradis abfeiern, die als Femme Fatale Anne eine gute Figur macht und heroisch gegen ihre miese Perücke anspielt. Ist das alles relevant? Nein. Ist das gut erzählt? Grundsätzlich schon, allerdings ist die Story selbst so konstruiert und unglaubwürdig, wie es sich für einen Giallo gehört (was ja durchaus ein Grund ist, warum ich mit dem Genre an sich nicht so viel anfangen kann). Aber macht das alles Spaß? Ja, das auf jeden Fall.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

The Announcement (2018)

Regie: Mahmut Fazıl Coşkun
Original-Titel: Anons
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Politfilm, Drama, Komödie, Satire
IMDB-Link: Anons


Istanbul 1963. Vier Militäroffiziere versuchen, die Radiostation von Radio Istanbul in ihre Gewalt zu bringen, um einen Staatsstreich zu verkünden. Dabei stoßen sie auf unerwartete Probleme wie beispielsweise einen Fahrer, der die Gelegenheit nutzen möchte, seine Brötchen in der Nacht auszuliefern, da die Lieferung eh am Weg zu Radio Istanbul liegt. Oder einen Manager der Radiostation, der leider keine Ahnung von Technik hat, weshalb er den Senderaum nicht bedienen kann. Da muss erst der Techniker her, nur der ist gerade unterwegs. Stoisch nehmen die Putschenden jede neue Komplikation zur Kenntnis. Dagegen wirken Figuren von Kaurismäki wie geschwätzige Tratschtanten. Und ja, das ist teils auch sehr amüsant anzusehen. Allerdings übertreibt es Mahmut Fazıl Coşkun in meinen Augen mit der Lakonie. Denn man erfährt so gut wie nichts über diese Hanseln, die da eine Revolution anführen wollen. Nichts Persönliches, keine politischen Beweggründe, gar nichts. Erstaunlich ist, dass der Film auf wahren Begebenheiten beruht, insofern wäre es für einen Laien, was die türkische Geschichte der 60er Jahre betrifft, durchaus interessant gewesen, zu erfahren, warum es überhaupt zu diesem versuchten Staatsstreich gekommen ist. Aber diesen Gefallen tut uns Coşkun nicht. Seine Figuren bleiben sperrig und distanziert. Und damit verfolge ich auch das Geschehen distanziert – und am Ende ist es mir egal, ob diese Würstel ihr Ziel erreichen oder nicht. Auch ist diese extrem reduzierte Erzählweise, in der sich die Figuren nur in statischen Kamera-Tableaus bewegen, auf Dauer recht ermüdend. So ist der Film zwar gelegentlich unterhaltsam, insgesamt aber eher eine anstrengende Sache. Ein Kaurismäki kann das besser.


4,5
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

https://www.youtube.com/watch?v=1hPWgdcA0bU

Hungary 2018 (2018)

Regie: Eszter Hajdú
Original-Titel: Hungary 2018
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Hungary 2018


„We’re fucked.“ So lautete das Fazit der Interview-Führerin nach dem Q&A mit Eszter Hajdú und Sándor Mester, die 2018 den Wahlkampf des ehemaligen ungarischen Premierministers und nunmehrigen Oppositionsführer Ferenc Gyurcsány begleitet hatten. Das Ergebnis ist bekannt: Die regierende Fidesz-Partei von Viktor Orbán landete einen Erdrutschsieg und zementierte Orbán noch fester im Sessel der Macht. Das „We’re fucked“ bezog sich auf die Einschätzung, die die beiden Filmmacher und Gyurcsány in „Hungary 2018“ treffen: Das war vielleicht die letzte Möglichkeit, Orbán mit demokratischen Mitteln aus dem Sessel zu hieven. Denn was der Film schonungslos und für wirklich jeden verständlich aufzeigt, ist, wie die Regierung über die Kontrolle der Medien und eine ganz klar abgestimmte (Des)Informationsstrategie die Bevölkerung in eine Art Psychose stürzt, in der Angst und Hass die Pfeiler für Wahlergebnisse wie eben jenes von 2018 sind. Wozu braucht man eine Diktatur, wenn man absolute Machtansprüche auch mit den Instrumenten der Demokratie realisieren kann? Für Orbán und seine Fidesz genügt es, der Bevölkerung über die von der Partei kontrollierten Medien (und das sind 90% aller ungarischen Medien) immer wieder mit rhetorisch einfachsten Mitteln die Trinität des Bösen zu präsentieren: Die Einwanderer. George Soros. Die EU. Damit ist in Orbáns Welt alles erklärt, und es wird nichts in Frage gestellt. An einem Punkt meint ein hochrangiger Fidesz-Minister zum Auditorium: „Ich kann mit Ihnen sofort nach Paris fahren und einen ganzen Nachmittag durch die Stadt gehen. Wir werden keinen einzigen Weißen auf der Straße sehen.“ Und die Bevölkerung? Sie glaubt diesen Lügen. Denn wenn alle Medien das Gleiche berichten, dann wird es wohl stimmen, oder? „Hungary 2018“ zeigt auf, wie eine Diktatur funktioniert. Gyurcsánys Kampf um eine Umkehr von diesem Irrsinn ist ehrlich geführt, aber hoffnungslos. Denn wie eine Wahl gewinnen, wenn man von der Bevölkerung nicht wahrgenommen wird außer auf den Plakaten der Gegenseite, wo man zum ultimativ Bösen und Verräter stilisiert wird? „Hungary 2018“ zeigt auch, wie „Austria 2022“ sein kann. Lassen wir das nicht zu. Denn sonst sind wir fucked.

Für den Film, um noch mal eine Bewertung einzubringen, vergebe ich 7 Punkte und keine noch höhere Wertung, da er sich vielleicht ein wenig zu sehr auf Gyurcsány konzentriert und die (mit Sicherheit hochinteressanten) Stimmen des Wahlvolks dabei zwar nicht ausklammert, aber nicht so zur Geltung bringt. Gerade die Stimmen von Fidesz-Wählern hätten mich aber auch sehr interessiert. Wie denken Menschen, die eine solche Gehirnwäsche erfahren haben? Und wo könnte man bei ihnen vielleicht ansetzen? Das sind dringliche Fragen unserer heutigen Zeit, die der Film dann leider nicht wirklich berücksichtigt – bzw. angesichts der schwierigen Verhältnisse bei der Produktion (so wollten einige Crew-Mitglieder namentlich im Abspann nicht genannt werden aus Angst vor Repressalien durch das Orbán-Regime) nicht berücksichtigen kann.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Ein Gauner & Gentleman (2018)

Regie: David Lowery
Original-Titel: The Old Man & the Gun
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Krimi, Komödie
IMDB-Link: The Old Man & the Gun


Mit der Anhebung des Pensionsantrittsalter ist es so eine Sache. Prinzipiell natürlich richtig, dass wir bei gesteigerter Lebenserwartung auch länger einzahlen. Dass man aber wie der Redford Bertl bis 82 hackeln muss, ist dann jedoch ein ziemlicher Härtefall. Der Bertl hat es aber wie der Gentleman genommen, der er ist, und seine wohl endgültig letzte Kinorolle mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen veredelt. Gelernt ist gelernt. Und so darf er in David Lowerys 80er-Hommage noch mal zeigen, weshalb ihm ein halbes Jahrhundert lang die Frauenherzen zugeflogen sind. Ganz ehrlich: Eine bessere Abschluss-Rolle als jene des Gentleman-Gauners, der höflich und gewaltfrei Banken ausraubt, hätte es für ihn nicht geben können. Tatkräftig zur Seite stehen ihm dabei Danny Glover und Tom Waits, die ihrerseits auch schon langsam über den Ruhestand nachdenken dürfen. Sissy Spacek spielt den Love Interest, Casey Affleck den (grundsympathischen) Gegenspieler. In diesem Film ist selbst das Schlechte der Welt (und Banküberfälle zähle ich ehrlicherweise dazu) irgendwie gut. Wohlfühlkino eben. Das Erzähltempo ist extrem reduziert, und es braucht auch eine Weile, um sich darauf einzustellen. Überhaupt ist alles an diesem Film gedrosselt – das Tempo, die Schnittfolge, das Schauspiel selbst, die Dialoge. Was vielleicht nicht jedem gleichermaßen zusagt, folgt aber David Lowerys System. Denn der Film spielt Anfang der 80er. Und David Lowery ist bei der Umsetzung enorm konsequent. Es reicht ihm nicht aus, die Sets mit hübschen Requisiten aus jener Zeit vollzustopfen und den Protagonisten lustige Frisuren und Bärte zu verpassen. Nein, „The Old Man & the Gun“ lebt und atmet das Jahrzehnt, das er verkörpert. Das Bild ist körnig, die Farben weisen gelegentlich einen leichten Rotstich auf, und dazu passt eben auch das langsame Tempo, dazu gehören die unspektakulären, vor sich hinplätschernden Dialoge. Der Film will nicht 80er-Jahre sein, er ist 80er-Jahre. Nach dem grandiosen Mid90s von Jonah Hill der zweite Film, den ich innerhalb kürzester Zeit gesehen habe, der sein Jahrzehnt so völlig absorbiert. Allerdings ist „The Old Man & the Gun“ zwar gut umgesetzt, die Story aber tatsächlich nicht unbedingt mitreißend, sodass die Spuren, die er hinterlässt, wohl nicht allzu tief ausfallen werden. Als Robert Redfords Abschied vom Schauspiel passt er aber perfekt. Mach’s gut in der Pension, Bertl. Und wenn dir fad sein sollte, kannst du gern mal in Wien vorbeischauen, und wir gehen auf eine Melange. In Ordnung?


6,0
von 10 Kürbissen

Mid90s (2018)

Regie: Jonah Hill
Original-Titel: Mid90s
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Mid90s


Der Freund, der mit mir im Kino war, drückte es nach dem Abspann wohl am besten aus. Mit einem fassungslosen Grinsen meinte er: „Wie haben wir die 90er bloß überlebt?“ Und ja, wenn man Jonah Hills Regie-Debüt Glauben schenken kann, war das eine echt verrückte Zeit. Die 90er waren ein Jahrzehnt, indem plötzlich alles möglich war – und nichts. Man konnte in Flanellhemden zum Rock-Idol werden. Auf Skateboards die Welt erobern. Sich die Zeit mit Videospielen vertreiben. Gleichzeitig war die Zeit aber auch geprägt von einer Ratlosigkeit, was die Zukunft betraf. Von einer immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden. Zwischen den Coolen und Uncoolen. Plötzlich war es wichtig, welche Kleidung man trug, welches Board man fuhr, welche Musik man hörte. Darüber wurde Zugehörigkeit definiert, und Außenstehende gnadenlos abgegrenzt. Jonah Hill hat einen brillanten Film über genau das gedreht: Zugehörigkeit, Anerkennung, Freundschaft, die Suche nach einer Zukunft. „Mid90s“ ist warmherzig, und obwohl er den Zuseher, der in dieser Zeit aufgewachsen ist, in eine nostalgische Stimmung versetzt, beschönigt er nichts. „Mid90s“ könnte auch eine Dokumentation über jugendliche Skater sein. Es passiert nicht viel, aber man spürt, wie hier etwas zusammenwächst und sich etwas entwickelt. Im Mittelpunkt steht der von Sunny Suljic großartig verkörperte Stevie, der sich einer Gruppe von Jugendlichen anschließt. Freundschaften wie Feindschaften entstehen fast beiläufig. Das Aufwachsen ist kein mühsamer Akt, sondern geschieht organisch. Erfahrungen werden gemacht. Man stürzt, steht wieder auf, fährt weiter. Nicht alles ist dabei gut und hilfreich, aber es gehört alles dazu. Selten habe ich einen Film gesehen, der sich so natürlich und ungekünstelt anfühlt, der sich nicht (auch nicht subtil) darum bemüht, eine Botschaft an die Zuseher zu bringen, und gerade dadurch Essentielles vom Leben vermittelt. Dabei ist „Mid90s“ auch auf einem erstaunlich hohen handwerklichen Niveau angesiedelt. Die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, mit Aussparungen, mit raffinierten, aber nie aufdringlichen Schnitten, mit dem immer auf den Punkt gebrachten Einbau des Soundtracks, das alles zeugt von großem Können. Überhaupt der Soundtrack: Neben erwartbaren Songs aus den 90ern (die allerdings allesamt aus der Nische kommen, selbst von Nirvana wurde nichts Offensichtliches genommen, sondern ein Song von ihrem Unplugged Live-Album) steuern Trent Reznor (der Nine Inch Nails-Mastermind) und sein kongenialer Partner Atticus Ross den vielleicht besten Original-Soundtrack des Jahres bei, der genau die oben angesprochenen Themen des Films auch akustisch erfahrbar macht. Bei „Mid90s“ wirkt einfach alles wie aus einem Guss. Ich bin schwer verliebt in diesen Film. Die Bewertung könnte sogar noch weiter steigen.


9,0
von 10 Kürbissen

Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu (2018)

Regie: Cristina Gallego und Ciro Guerra
Original-Titel: Pájaros de verano
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Drama, Krimi, Thriller
IMDB-Link: Pájaros de verano


Gewalt erzeugt Gegengewalt. Actio = reactio. Man kennt das. Aber zunächst mal beginnt alles mit der Liebe. Einem Tanz. Dem Werben um die schöne Braut. Rapayet (José Acosta) vom indigenen Volk der Wayuu in Kolumbien bringt die geforderten 30 Ziegen, die Rinder, die Halsketten, und er bekommt dafür die schöne Zaida (Natalia Reyes) zur Frau. Ermöglicht wurde ihm dies durch ein im Jahr 1968 noch neues und sehr erträgliches Geschäft – nämlich jenes mit Marihuana, das gewinnbringend an die Gringos des Nordens verkauft wird. Und dieses Geschäft läuft sehr erfolgreich weiter und wird größer. Erste Komplikationen treten auf, als sich der Freund und Geschäftspartner Moisés (Jhon Narváez) als unberechenbar und gewalttätig herausstellt. Aber Drogenhandel ist schließlich kein Kindergeburtstag. Da wird selbst die Mutter der Braut, Úrsula (Carmina Martínez mit einer wundervoll ambivalenten Darstellung), zur pragmatischen Geschäftsfrau. Es ist allerdings schwer, in einer Welt, die von Kugeln und weniger von Regeln und Moral bestimmt wird, die Tradition des Volkes beizubehalten. Und wie das Geschäft größer wird, vergrößern sich auch die Probleme, bis die Situation schließlich eskaliert. „Birds of Passage – Das grüne Gold der Wayuu“ (den Zusatz hätte es echt nicht gebraucht) beginnt durchaus gemächlich, weiß aber mit jedem neuen Kapitel, das Tempo anzuziehen. Und die Gewaltspirale beginnt sich zu drehen. Begleitet ist diese Fahrt ins dunkle Herz des Drogenhandels von wunderschönen, surrealistisch anmutenden Bildern. Optisch kommt der Film nicht ganz an Ciro Guerras Vorgänger-Film „Der Schamane und die Schlange“ (nominiert für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film) heran, bietet aber durchaus genug fürs Auge. Hier wird wortwörtlich in Schönheit gestorben, was die Gewalt nicht weniger drastisch macht. Überhaupt interessant: Die Gewalthandlung selbst wird oft nur indirekt gezeigt, die Auswirkungen der Gewalt hingegen dann jedoch klar und deutlich. In dieser Hinsicht erinnert der Film an Lynne Ramsays großartiges You Were Never Really Here aus dem Vorjahr, auch wenn „Birds of Passage“ weniger konsequent ist. Ein weiterer spannender Aspekt des Films ist, dass er sich weniger auf den Drogenhandel selbst konzentriert (der für Rapayet nur ein Mittel zum Zweck ist), sondern vielmehr auf die Auswirkungen dieser modernen, kriminellen Welt auf das Wertesystem der Wayuu. Und die sehen gar nicht gut aus. Der Film dafür schon. Daher gibt es eine klare Empfehlung von mir – allerdings mit dem Warnhinweis, dass man für die erste halbe Stunde schon Geduld aufbringen muss, da es der Film zu Beginn wirklich sehr gemütlich angeht.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm Verleih)