Viennale

Red Rocket (2021)

Regie: Sean Baker
Original-Titel: Red Rocket
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama, Komödie
IMDB-Link: Red Rocket


The Florida Project von Sean Baker war eines meiner absoluten Kino-Highlights der letzten Jahre. Ich war dementsprechend gespannt auf Bakers neuen Film „Red Rocket“. Darin kehrt ein ehemaliger Pornodarsteller (ein großartiger Simon Rex) in das kleine Kaff in Texas zurück, aus dem er einst mit seiner damaligen Frau die große Karriere gestartet hat. Nun, die Frau ist nach einem kleinen Absturz in den Abgrund der Drogen wieder hier, sie wohnt bei ihrer Mutter und hat wenig Interesse, den abgebrannten Taugenichts wieder zu sich aufzunehmen. Aber Mikey kann vor allem eines gut: Leute bequatschen. Und so schläft er schon bald auf dem Sofa seiner Exfrau, bringt eine 17jährigen Donut-Verkäuferin dazu, ihn zu daten, und vertickt nebenbei das Gras seiner alten Bekannten an die Arbeiter der Ölraffinerie nebenan – die Jungs können nach Feierabend etwas Entspannung gebrauchen. So scheint alles gut für ihn zu laufen, Mikey strotzt vor Energie und Selbstbewusstsein. Aber Typen wie Mikey haben halt auch ein Problem: Das sind sie selbst. Denn jede Hürde, die sich aufbaut, ist fremdverursacht, alle Fehler sind unglückliche Schicksalsschläge, man kann ja nichts dafür, man will immer nur das Beste und erntet das Schlechteste. Mal die Fehler bei sich selbst suchen? Ach was! Und so wird „Red Rocket“ neben einem unglaublich komischen Porträt eines windigen Schelms ohne Selbstreflexionsfähigkeit gleichzeitig zu einem Blick auf das Trump’sche Amerika. Sean Baker seziert aber nicht genüsslich die Schwächen seiner Figuren, sondern begegnet ihnen mit Liebe und Respekt. Das prekäre Amerika ist einfach sein Thema, da steckt viel Herzblut und auch Ehrfurcht in den Filmen, die gerade dadurch so unterhaltsam werden. Ganz an die Klasse von „The Florida Project“ kommt „Red Rocket“ nicht heran, aber der Film reiht sich nur knapp dahinter ein und ist erneut ein großer Wurf.


8,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Jack’s Ride (2021)

Regie: Susana Nobre
Original-Titel: No Táxi do Jack
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: No Táxi do Jack


Jack heißt eigentlich Joaquim, steht drei Monate vor der Pensionierung, hat aber seinen Job verloren und muss nun stempeln gehen. Währenddessen erzählt der Mann mit dem Elvis-Gedächtnis-Toupet aus seinem Leben, von seiner Zeit, die er in den USA verbracht hat und als gelernter Flugzeugmechaniker zunächst Taxi und dann Limousinen gefahren ist. All das ist unaufgeregt, unspektakulär und direkt aus dem Leben gegriffen. Und genau das ist auch das Problem des Films, der zwar sympathisch das Leben eines Einzelnen aufgreift, um darauf auf das große Ganze zu verweisen, aber dabei so vage und unbestimmt bleibt, dass das alles ins Leere läuft. Susana Nobre hegt sichtlich Sympathie für Joaquim, und ja, der ist definitiv ein Original, dem man gerne zusieht. Aber ein bisschen mehr Substanz hätte es gebraucht. Man hätte viel herausholen können, mehr erzählen können über die prekäre Lage der Arbeitssuchenden in Portugal bzw. überall weltweit. Man hätte mehr erzählen können über das Leben jener, die ihr Glück woanders versucht haben und dann schließlich doch gescheitert sind. Vieles wird angedeutet, doch in die Tiefe geht es zu selten. Dafür hätte es wohl mehr Zeit gebraucht als die 70 Minuten, die der Film dauert, doch das wiederum hätte die ohnehin schon langsame Erzählweise noch zäher gemacht – ein Teufelskreis. Insgesamt also leider ein Film, der zwischen all den guten Festivalfilmen untergeht.


4,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

The Witches of the Orient (2021)

Regie: Julien Faraut
Original-Titel: Les Sorcières de l’Orient
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Les Sorcières de l’Orient


Letztes Jahr hatten wir mit Druk den „betrunkenen Film“, dieses Jahr einen Film, der unter dem Viennale-Publikum nur als „Der Mila Superstar-Film“ bezeichnet wird. Man kann sich das Leben ja einfacher machen, und bevor ich mich mit meinen Nullkenntnissen der französischen Sprache vollends im Gespräch blamiere, greife ich dann doch lieber auf diese charmante Alternative zurück. Um Hexen geht es in „Les Sorcières de l’Orient“ nur am Rande, um Mila Superstar hingegen schon viel mehr, denn die Heldin der Anime-Serie beruht auf wahren Begebenheiten – was vielleicht viele (inklusive mir) nicht wussten. Jedenfalls wurde in den 60er Jahren in einer japanischen Textilfabrik eine Volleyball-Mannschaft herangezüchtet, die über 250 Spiele lang ungeschlagen war und für Japan den Weltmeistertitel und Gold bei den olympischen Spielen holte. Julien Faraut widmet diesem Sportwunder einen herrlich überdrehten Dokumentationsfilm, der tief eintaucht in die japanische Gesellschaft und ihrem Verständnis von Disziplin und Erfolg. Als fast schon grandios empfinde ich die Verknüpfung des japanischen Wiederaufbaus und Wirtschaftswunders mit den sportlichen Erfolgen – fußen die doch beide auf dem gleichen Verständnis von Ehrgefühl für das Heimatland und eisernem Willen. Der Film macht sehr viel richtig, indem er Elemente der Popkultur mit historischem Filmmaterial vermischt. Das ist ungemein unterhaltsam anzusehen. Was vielleicht ein bisschen fehlt, ist die kritische Distanz. Man hätte da durchaus mehr hinterfragen können, was die harten Trainingsmethoden betrifft und was das mit der Psyche der Spielerinnen gemacht hat. Man hätte auch zeigen können, wie das Leben der Spielerinnen nach diesen großen Erfolgen weiterging, was sie daraus mitgenommen haben und was eben auch nicht. Aber sei’s drum – „Les Sorcières de l’Orient“ ist dennoch großartige Unterhaltung und ein bisschen Good-Feel-Kino zwischen all den sonstigen „Problemfilmen“ des Festivals.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Alraune (1928)

Regie: Henrik Galeen
Original-Titel: Alraune
Erscheinungsjahr: 1928
Genre: Drama, Fantasy
IMDB-Link: Alraune


Ein besonderes Schmankerl von Filmfestivals sind die dort gezeigten Retrospektiven. So kommt man beispielsweise in den Genuss eines spannenden Vortrags zur Restaurierungsgeschichte des deutschen Stummfilmklassikers „Alraune“ von Henrik Galeen mit anschließendem Genuss ebendieses Filmes – dazu Live-Musik auf Klavier und Geige. So ein Abend im Kino, noch dazu, wenn die Vorführung im wohl schönsten Kinosaal Österreichs, jenem des Metro Kino Kulturhauses, stattfindet, hat was Gediegenes, da kann die Staatsoper, die sich unweit davon befindet, einpacken. Doch kann einem selbst ein solches Ereignis verleidet werden, wenn der Film nichts taugt. Glücklicherweise steht die Qualität von „Alraune“ außer Zweifel. Ein episches Fantasy-Drama rund um das künstlich geschaffene Mädchen Alraune (Brigitte Helm), ihrem besessenen „Vater“, der Wissenschaftler Prof. ten Brinken (Paul Wegener), und das sexuelle Erwachen eben jener Kreatur. Erinnerungen an Frankenstein werden wach, nur dass Brigitte Helm besser aussieht als Boris Karloff und sich auch anderer Mittel bedient, um ihren Platz in der Welt, in die sie hineingeworfen wurde, zu finden. Witzig ist im Vorfeld die Information, dass für die Restaurierung des Films auf Kopien aus Deutschland und Dänemark sowie Russland zurückgegriffen wurde und die Szenen, die durch die Zensur des jeweiligen Landes herausgeschnitten wurden, so wieder in den Film eingefügt werden konnten, da die deutschen Zensoren andere Meinungen zu dem zu zensierenden Bildmaterial hatten als die dänischen und die russischen. Allerdings ist der Film in der nun aktuell vorliegenden Fassung doch deutlich zu lang geraten. Über zwei Stunden erstreckt sich das Epos jetzt, und das wird bei einem Stummfilm doch zur Herausforderung. Vor allem das Ende zieht sich. Trotzdem: Zurecht ein Klassiker, der auch heute noch Beachtung verdient. Schön, das auf der großen Leinwand erlebt zu haben.


7,0 Kürbisse

(Foto: Filmarchiv Austria)

They Carry Death (2021)

Regie: Samuel M. Delgado und Helena Girón
Original-Titel: Eles transportan a morte
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama, Historienfilm, Abenteuerfilm
IMDB-Link: Eles transportan a morte


Drei Männer werden an die Küste einer einsamen Insel gespült. Die haben ein Segel dabei und flüchten vor ihren Verfolgern, die, wie man schon bald herausfindet, zur Crew von Christoph Kolumbus gehören. Parallel dazu kratzt in Galizien eine Frau ihre schwer verletzte Schwester von einem Felsen und macht sich auf dem Weg zu einer Heilerin. Was wie zwei völlig voneinander getrennte Episoden wirkt, wird am Ende auf subtile Weise zusammengeknüpft – mit einem Verweis auf nicht weniger als die letzten 500 Jahre Kolonialisierungsgeschichte. Da genau diese umfassende Geschichte für einen einzelnen Film zu viel ist, versuchen Samuel M. Delgado und Helena Girón gar nicht erst, einen epischen Historienfilm aus dem Stoff zu machen. Sie fokussieren sich vielmehr auf die Flucht der drei Männer über karges Lavagestein und bröckelige Felsen und der Wanderung der Frau mit ihrer verletzten Schwester auf einem Esel festgebunden durch ebenfalls unwegsames Gelände in Spanien. Schritt für Schritt wird hier gesetzt, das große Ganze bleibt im Hintergrund und spielt für die Figuren auch keine Rolle. Dass sie Teil einer weltumspannenden Geschichte sind, könnte ihnen nicht weniger egal sein. Gerade dieser Rückzug auf das kleine Detail am Rande macht den Film schwer verdaulich – der Applaus am Ende war verhalten und etwas ratlos. Allerdings betört der Film mit wunderschönen Bildern und entwickelt einen eigenwilligen, fast meditativen Sog, wie er sich oft in langsamen spanischen Filmen aufbaut. Das grandiose Zama von Lucrecia Martel sei hier als Beispiel genannt. Nichts für jeden Filmgeschmack, aber wenn man sich auf solche meditativen Übungen einlassen kann, sollte man durchaus mal einen Blick riskieren.


6,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Hold Me Tight (2021)

Regie: Mathieu Amalric
Original-Titel: Serre moi fort
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama
IMDB-Link: Serre moi fort


Gleich zu Beginn sieht man eine sichtlich überspannte Vicky Krieps, wie sie Mann und Kinder verlässt und mit dem Oldtimer ihres Göttergatten auf einen Roadtrip geht. Ihre sozialen Interaktionen lassen an Finesse zu wünschen übrig, und man merkt als alter Filmhase: Da ist etwas im Busch. Und tatsächlich biegt die Geschichte, die von Mathieu Amalric nach einem unveröffentlichten Theaterstück von Claudine Galea inszeniert ist, schon bald in eine ganz andere Richtung ab. Und das anfängliche Befremden über die Aktionen der Mutter weicht einem Verständnis und schließlich auch Interesse. Dem Film, der mich früh in der Handlung verloren hat, gelingt es, mich ab der Mitte des Geschehens wieder einzufangen. Allerdings bleibt die Struktur gewöhnungsbedürftig. Denn die Geschichte springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, zwischen Imagination und Realität hin und her, und auch wenn es schon bald nicht mehr allzu schwer fällt, diese Facetten auseinanderzuhalten, bleibt der Zugang dennoch sperrig. Vicky Krieps und Arieh Worthalter in den Hauptrollen machen ihre Sache gut, doch vor allem Krieps leidet hier ein wenig unter der, ich nenn’s mal, klassischen französischen Kinokrankheit, das alles groß und dramatisch sein muss. Die stillen Momente sind zumeist die besten, doch auf die zieht sich Amalric zu selten zurück. Das Drama, so emotional mitreißend es auch ist, wird dadurch noch ein wenig überhöht und verliert gerade dadurch paradoxerweise an Kraft. Aber gut, das ist eben die französische Art der Trauerbewältigung. Die österreichische ist es, sich mit einer Flasche Schnaps und einer Axt in den Wald zurückzuziehen und Bäume anzuschweigen. Das bringt auch nicht wirklich ergiebigere Filme hervor.


5,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

A Chiara (2021)

Regie: Jonas Carpignano
Original-Titel: A Chiara
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama
IMDB-Link: A Chiara


Die fünfzehnjährige Chiara hat ein leiwandes Leben. Papa verdient gut, mit den beiden Schwestern (eine älter, eine deutlich jünger) versteht sie sich super, in ihrer Stadt und der Schule wird sie geschätzt – sie lebt ein ganz normales und behütetes Teenagerleben. Das bekommt allerdings Risse, als eines Tages der fürsorgliche Papa in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Hintertür verschwindet und es vorne auf der Straße das Familienauto zerfetzt. Vielleicht sollte man sich an dieser Stelle mal fragen, was Papa eigentlich beruflich so macht. Chiara erfährt dies schon bald aus den Medien, und natürlich ist es schwer zu verdauen, wenn man feststellt, dass der geliebte Vater für die Mafia arbeitet und Drogen vertickt. „A Chiara“ ist ein bemerkenswertes Stück Kino. Denn es handelt sich hierbei um ein sehr intimes Familiendrama, in dem Angehörige der Mafia als ganz private Personen gezeigt werden – eben liebevolle Väter, scherzende Cousins, lebenskluge Tanten – was die moralische Bewertung ihrer Taten nicht ändert. Dafür wird die Ebene der Kollateralschäden hinzugefügt, vertreten durch die 15jährige Tochter, die aus ihrer heilen Welt gerissen wird und schneller erwachsen werden muss, als sie sich das jemals erwartet hätte. Für die Familie hat Regisseur Jonas Carpignano gleich eine ganze echte Familie rekrutiert, und alle spielen, als hätten sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. Herausragend ist dabei Swamy Rotolo als Chiara, die die ganze Bandbreite ihrer Figur von Egoismus über Verletzlichkeit, Angst, Wut, Verzweiflung abdeckt und dabei zu jedem Zeitpunkt glaubwürdig bleibt. Eine ganz starke Leistung. „A Chiara“ ist ein konzentriert inszeniertes und leidenschaftlich gespieltes Drama, das man sich nicht entgehen lassen sollte.


7,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

In gewisser Hinsicht (1977)

Regie: Sara Gómez
Original-Titel: De cierta manera
Erscheinungsjahr: 1977
Genre: Drama, Politfilm
IMDB-Link: De cierta manera


Filme können Arbeit sein. Und Arbeit kann Inhalt des Films sein. Beides trifft sich in „De Cierta Manera“, der einzige Langfilm der früh verstorbenen kubanischen Filmmacherin Sara Gómez aus den Jahren 1974-1977. Ihr Film spielt kurz nach der Revolution 1959. In einem arg didaktischen Ansatz erzählen eine männliche und eine weibliche Stimme aus dem Off von gesellschaftlichen Entwicklungen in den Schichten der Ärmsten, während sich auf einer fiktionalisierten Ebene die Liebesgeschichte zwischen Mario, einem Arbeiter und Macho, und der Lehrerin Yolanda entspinnt – mit allen Höhen und Tiefen. Die Ideale der Revolution ziehen sich auch in den privatesten Bereich hinein, das Fiktive vermischt sich mit dem Dokumentarischen, die Bilder schwanken zwischen intimer Vertrautheit und abstrakten Bildern von Abrissbirnen, die sich durch die Elendsviertel von Havanna fräsen. Ich muss zugeben: Mehr als einmal hat mich der Film gedanklich verloren, obgleich er nicht zu später Stunde, sondern an einem lauen Nachmittag gelaufen ist. Das Problem – für mich – ist eben dieser didaktische Aufbau, der kaum Nähe zu den Figuren zulässt. Auch springt Gómez arg hin und her, möchte alles, möchte ganz Kuba in einen Film packen und verliert den Zuseher dabei auf dem Weg. So bleiben einige sehr schöne Szenen, aber der Film fügt sich nicht zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Man kann durchaus die Ambition würdigen, filmhistorisch ist das alles auch recht interessant und ein gefundenes Fressen für alle Filmstudenten dieser Welt, noch mal werde ich mir den Film allerdings nicht ansehen.


4,5 Kürbisse

(Foto: (c) ICAIC / Viennale)

Ein Polizei-Film (2021)

Regie: Alonso Ruizpalacios
Original-Titel: Una película de policías
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Una película de policías


Mehr Meta-Ebene geht nicht als eine Dokumentation über ein Polizisten-Paar in Mexiko Stadt, in der sich nach etwa knapp der Hälfte der Spielzeit herausstellt, dass dieses Paar von Schauspielern gespielt wird, die als Vorbereitung für die Rollen selbst eine Polizeiausbildung gemacht haben und darüber in Videotagebüchern berichten. Zentrale Frage ist hierbei: Was bedeutet es, Polizist zu sein – vor allem in einer gefährlichen Stadt wie eben Mexiko Stadt, in der Anfang 20jährige Rekruten nach einer 6-monatigen Basisausbildung schon auf die Straße geschickt werden, weil so viele Polizist:innen erschossen werden? Alfonso Ruizpalacios geht in „Una película de policías“ sehr eigene und verschlungene Pfade, um zu zeigen, woran es in Mexiko krankt. Korruption ist allgegenwärtig, und wie ein (echter) Polizist mal erzählt, als er mit dem Schauspieler auf Streife fährt: „Es gibt gute und schlechte Cops. Ganz wie in der Zivilbevölkerung. Auch dort gibt es gute und schlechte Menschen.“ Die Aussage klingt resignierend, denn ohne eine kleine Bestechung hier, eine verdeckte Erpressung da, scheint das System nicht zu funktionieren. So interessant das alles auch anzusehen ist, so anstrengend ist der Film aufgrund seiner verschachtelten Struktur aber auch. Gelegentlich driftet die Aufmerksamkeit auch mal kurz weg, vor allem in der ersten Hälfte des Films, die sich in scheinbaren Banalitäten verliert, und erst, als klar wird, wohin die Reise geht, bleibt man gebannt dabei – aber bis dahin muss man aber auch einigen Leerlauf erdulden. Insgesamt also ein ambivalentes Ereignis.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Women Do Cry (2021)

Regie: Mina Mileva und Vesela Kazakova
Original-Titel: Women Do Cry
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Drama
IMDB-Link: Women Do Cry


Nach Cat in the Wall bringen die beiden bulgarischen Regisseurinnen Mina Mileva und Vesela Kazakova mit „Women Do Cry“ nun eine Familiengeschichte ins Kino, die tief in der bulgarischen Seele verwurzelt zu sein scheint. Die Geschichte handelt von drei Schwestern, die allesamt aus diversen Gründen nicht glücklich sind, und den beiden Töchtern einer der Schwestern. Der Jüngsten, Sonja, wird eine erschütternde HIV-Diagnose gestellt, die sie in den Abgrund zu reißen scheint, dann aber zu einer schwesterlichen Solidarität führt, die stark genug scheint, um das Schicksal überwinden zu können. Soweit der Handlungsrahmen. „Women Do Cry“ ist im Kern ein politischer Film. Hier wird das bulgarische (das damit stellvertretend für fast alle anderen Länder steht) Patriachat gehörig zerpflückt und fast schon beiläufig das bulgarische Gesundheitswesen auch noch kritisch unter die Lupe genommen. Männer kommen kaum vor – und wenn, dann als Antagonisten wie ein erzkonservativer Gynäkologe, oder mit einer latenten Gewaltbereitschaft, wie sie der Großvater zeigt. Der Stil ist gelegentlich semi-dokumentarisch, die Kameraarbeit uneinheitlich, und auch die Handlung zerfranst immer wieder mal und scheint etwas unschlüssig umherzuspringen. Mehr Fokus hätte der Geschichte gut getan. Gleichzeitig wirkt der Aufbau beinahe schon kaleidoskopartig, und die verschiedenen Frauenschicksale verknüpfen und spiegeln sich. Der Film wirkt dadurch länger, als er ist. Das Thema ist relevant, die schauspielerischen Leistungen sind durch die Bank auch gut – so darf sich beispielsweise die durch den zweiten Borat bekannt gewordene Maria Bakalova als Sonja vielseitig und ausdrucksstark zeigen – und doch ist der Film anstrengend und wirkt nicht wie aus einem Guss. Dennoch gab’s von einem dankbaren Urania-Publikum nach einem sehr sympathischen (aber leider eher nichtssagenden) Interview für die beiden Regisseurinnen Standing Ovations. So weit würde ich nun nicht gehen, aber interessant ist „Women Do Cry“ trotz gelegentlicher Schwächen jedenfalls.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)