Dokumentation

Titan: Die OceanGate-Katastrophe (2025)

Regie: Mark Monroe
Original-Titel: Titan: The OceanGate Disaster
Erscheinungsjahr: 2025
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Titan: The OceanGate Disaster


Am 18. Juni 2023 verschwand ein privates U-Boot auf dem Weg zum Wrack der Titanic plötzlich von der Bildfläche. Mit an Bord: OceanGate-Gründer und Besitzer Stockton Rush, Tiefseeforscher Paul-Henri Nargeolet und drei zahlende Gäste. Ich kann mich noch gut an die medialen Spekulationen erinnern: Was, wenn sie mit einem technischen Problem auf dem Meeresgrund liegen? Wie lange reicht der Sauerstoff? Wie kann man sie suchen und bergen? Doch zu diesem Zeitpunkt waren alle fünf Insassen schon tot, ums Leben gekommen durch eine Implosion, als die Kohlenstofffaserhülle dem Wasserdruck nachgegeben hatte. Gewissheit wurde das einige Tage später, als erste Wrackteile entdeckt wurden. Wie konnte es dazu kommen? Mark Monroe rekonstruiert in seiner Netflix-Dokumentation zwei Jahre später die Geschichte, die vom Aufstieg und Fall eines genialen Unternehmers handelt, die als Blaupause zum Verständnis solcher exzentrischer Gestalten dienen kann. Denn schnell wird klar: Diese Katastrophe wurde nicht nur durch Fehler in der Konstruktion verursacht, sondern primär durch das Selbstbewusstsein und die damit verbundene Fehleinschätzung eines Mannes, der glaubte, über den Dingen zu stehen. Mir fallen X (pun intended) weitere solcher „Genies“ ein, auf die Verhaltensmuster, wie Stockton Rush sie zeigte, übertragbar wären. Insofern ist „Titan: Die OceanGate-Katastrophe“ ein erhellender Film und als solcher sehenswert. Allerdings trägt er ein Problem mit sich, das vielen, wenn nicht sogar den meisten dieser Katastrophen-Rekonstruktionen zu eigen ist: Der Inhalt ist in ein allzu starres Korsett gezwängt. Chronologisch wird anhand von Interviews (aus dem Insider-Kreis natürlich) und Archiv-Material die Geschichte nacherzählt, wie man sie auch auf Wikipedia zu lesen bekommt. Aufstieg des charismatischen Unternehmers, eine unmöglich zu realisieren erscheinende Vision, erste Erfolge und Durchbrüche, dann die ersten Probleme, das Ignorieren oder Beiseitewischen dieser Probleme, bis es zur Katastrophe kommt, und danach noch die juristische Aufarbeitung. Das Drehbuch folgt einer Checkliste für derartige Dokumentationen und geht konsequent jeglichem Ansatz einer originellen Bearbeitung aus dem Weg. Das ist natürlich der sichere Weg zum Ziel, aber sonderlich spannend ist es nicht. Zu sehr verlässt sich Mark Monroe in seiner Bearbeitung des Stoffes darauf, dass die Geschichte an sich schon interessant genug ist. Das ist ja auch in Ordnung, aber mehr als 5,5 Kürbisse gibt es dafür halt nicht.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Dreaming Dogs (2024)

Regie: Elsa Kremser und Levin Peter
Original-Titel: Dreaming Dogs
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Dreaming Dogs


In Space Dogs sind Elsa Kremser und Levin Peter schon einmal dorthin gegangen, wo es wehtut: Nach Moskau. Genauer gesagt sind sie tief in das Leben von streunenden Straßenhunden eingestiegen. „Dreaming Dogs“ ergänzt diesen ersten Film um eine weitere Perspektive: Wieder sind es streunende Hunde, deren Geschichte erzählt wird, doch wird diese ergänzt um die Interaktion mit der obdachlosen Nadja, die sich selbst als „Oma“ bezeichnet und die Anführerin des kleinen Rudels ist, das Zuflucht gefunden hat auf einem ehemaligen Fabriksgelände. Wie auch in „Space Dogs“ interessieren sich Kremser und Peter allerdings primär für die Hunde. Die Kamera ist immer ganz nah bei diesen und immer auf deren Höhe, was dazu führt, dass die Menschen automatisch in den Hintergrund treten. Gleichzeitig wird auf diese Weise über das Leben der Hunde auch indirekt die Geschichte von Nadja erzählt – jedenfalls ein Teil davon. Das Leid der Menschen spiegelt sich im Überlebenskampf der Hunde und vice versa. Wie auch in „Space Dogs“ lässt sich in „Dreaming Dogs“ einiges ableiten über das Leben derer, die in Russland am Rande der Gesellschaft leben – und damit über die Gesellschaft selbst. „Dreaming Dogs“ führt das Thema also auf eine konsequente Weise fort, wenngleich der Film nicht diese brutale Dringlichkeit von „Space Dogs“ erreicht. Darüber bin ich aber auch fast froh, liegen mir einige Szenen von „Space Dogs“ fünf Jahre später immer noch im Magen. So gesehen bietet „Dreaming Dogs“ nun einen leichter verdaulichen Einstieg in das Thema und die Welt der Streuner, die von allen übersehen werden mit Ausnahme von Nadja sowie den beiden Filmemachern Elsa Kremser und Levin Peter.


6,5 Kürbisse

Foto: (c) Viennale

Apollo 13: Überleben (2024)

Regie: Peter Middleton
Original-Titel: Apollo 13: Überleben
Erscheinungsjahr: 2024
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Apollo 13: Überleben


Der Flug der Mondlandungsmission Apollo 13, der erfolgreichste Fehlschlag in der Geschichte der NASA, wurde 1995 von Ron Howard genial und spannungsgeladen verfilmt. Die Geschichte gibt auch viel her. Drei Astronauten, so weit von der Erde entfernt wie sonst noch kein Mensch jemals, zerreißt es mitten im Flug einen Teil ihres Raumschiffes und sie müssen mit Klebeband, Socken und Nerven aus Stahl improvisieren, um die nun unmöglich erscheinende Reise zurück nach Hause zu schaffen. Peter Middleton hat nun aus imposanten Archivmaterialien eine Dokumentation gebastelt, die diesen schicksalshaften Flug nachzeichnet. Einen besonderen Fokus legt er dabei auf den Kommandanten der Mission, James A. Lovell. So umreißt er neben der eigentlichen Darstellung der Katastrophe auch die Biographie Lovells, während seinen Gefährten Fred Haise und John L. Swigert nur Nebenrollen bleiben. Ein Problem ist das nicht, die biographischen Stellen sind sauber eingearbeitet und bringen dem Zuseher die Menschen, die da in dieser Kapsel im Nirgendwo eingeschlossen sind, etwas näher. Das eigentliche Problem der Dokumentation ist, dass Ron Howard das filmisch eben schon vor drei Jahrzehnten aufgearbeitet hat. Wer den Spielfilm kennt, wird durch die Dokumentation nichts Neues erfahren. Auch die Nachbetrachtung der Katastrophe, ihre Folgen, die Ursachenforschung bleiben außen vor. Middleton konzentriert sich allein auf den Verlauf des Fluges und der Katastrophe. Die Archivaufnahmen sind eindrucksvoll und handwerklich gut montiert, keine Frage. Allein diese machen die Sichtung dieser Netflix-Dokumentation schon lohnenswert. Wenn man allerdings eine spannungsgeladene Darstellung der Geschichte sehen möchte, greift man lieber noch mal zurück auf Ron Howards Film.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle: http://www.imdb.com)

Miss Americana (2020)

Regie: Lana Wilson
Original-Titel: Miss Americana
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Miss Americana


Keine Frage: Wenn eine musikalisch sich dem Independent- und Alternative-Genre zugehörig fühlende Freundin während des Urlaubs extra um drei Uhr in der Früh den Wecker stellt, um Karten für die Tournee 2024 von Taylor Swift zu ergattern, oder wenn die Tageszeitung DerStandard damit beginnt, im Sportteil über einen hierzulande wenig bekannten Footballspieler zu berichten, nur weil er gerade der Hauptprotagonist des nächsten Taylor Swift-Albums ist, kann man von einem weltweiten Phänomen sprechen. Der als junge Countrysängerin gestarteten Pop-Prophetin kann man sich nicht entziehen. Und natürlich darf eine Dokumentation, die den bisherigen Karriereweg von Taylor Swift nachzeichnet, nicht fehlen. Lana Wilson nimmt sich dieses Jobs routiniert an. Frühe Aufnahmen deuten den Ehrgeiz der jungen Sängerin, der sie schließlich bis an die Spitze geführt hat, an. Doch begnügt sich Lana Wilson nicht damit, Schlaglichter auf diesen bisherigen Weg zu werfen, sondern gönnt Swift auch Raum, sich selbst auszudrücken und Dinge anzusprechen, die sie bewegen, wie zum Beispiel Body-Shaming, ihrer daraus resultierenden Essstörung und generell den Social Media-Mob, dem man als Künstler heute ausgesetzt ist. Das ist erfrischend ehrlich und durchaus interessant. Dennoch kommt Lana Wilsons Dokumentation nicht über den Status des Gewöhnlichen hinaus, weil sie eben sehr konventionell und damit vorhersehbar angelegt ist. Brav werden die einzelnen Stationen des Lebens abgehakt, dazwischen gibt es eben immer wieder aktuelle Aufnahmen, in denen Taylor Swift die Facette von sich zeigen kann, die sie gerade zeigen möchte, und Cat Content gibt es ebenfalls. Eh nett, eh kurzweilig, aber die große Erleuchtung wartet am Ende nicht. Für Swifties natürlich dennoch so etwas ähnliches wie die Heilige Bibel, nur ohne Leidensweg und Kreuzigung – das verträgt sich nicht mit Popmusik. Amen.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat: © Courtesy of the Sundance Film Festival, Quelle http://www.imdb.com)

Cosmosapiens (2023)

Regie: Pavel Cuzuioc
Original-Titel: Cosmosapiens
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


In der Dokumentation „Cosmosapiens“ von Pavel Cuzuioc kann man russischen Kosmologen beim Sternderl Schauen und Philosophieren zusehen. Klingt erst einmal gar nicht so schlecht, denn intelligente Menschen, die verstehen, was ein Schwarzes Loch ist, könnten ja durchaus interessante Gedanken teilen. Gibt es ein Leben im All außer abseits unserer Erde? Was bedeutet „Leben“ überhaupt, und wie sieht es aus? Was ist Unendlichkeit? Wie können wir uns mit unserem begrenzten Auffassungsvermögen diesen großen Fragen zuwenden? All das wird aber in „Cosmosapiens“ höchstens mal angerissen und angedeutet. Mehrheitlich sieht Cuzuioc lieber Ziegen zu; entzückende Tiere, keine Frage, wie auch einer der Kosmologen, der sie züchtet, bestätigt, aber halt auch nur bedingt geeignet, um uns die Ausdehnung des Weltalls zu erklären. Bietet der Enkelsohn eines anderen Kosmologen auf seinem Mountainbike profundere Einsichten? Auch nicht wirklich. Und die Studenten, die über die Objektivität und Subjektivität von Shakespeare-Interpretationen mit demselben Wissenschaftler streiten? Hätten sie wohl besser geschwiegen, diese aufgeblasenen Klugscheißer! Gähnende Langeweile überall. Eben dieser Wissenschaftler mit Zottelhaar und einer Vorliebe für Gedankenspiele steht im Zentrum der Dokumentation, und ja, er scheint eine durchaus interessante Persönlichkeit zu sein, doch verzetteln sich Cuzuioc und er in abstrakten Monologen, nach denen man in etwa genauso schlau wie vorher ist und die das eigentliche Thema seiner Wissenschaft, die Kosmologie, oft nur am Rande streifen. Im Übrigen ist dieser Herr ukrainischer Herkunft und musste nach Ausbruch des Kriegs und damit nach Fertigstellung des Kriegs aufgrund politischer Differenzen auswandern, und das ausgerechnet nach Israel, der arme Hund.


3,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Austria 2 Australia (2020)

Regie: Dominik Bochis und Andreas Buciuman
Original-Titel: Austria 2 Australia
Erscheinungsjahr: 2020
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Austria 2 Australia


There are no cangaroos in Austria! Man muss es immer wieder sagen. Aber wenn die lustigen Beuteltiere schon nicht bei uns in den Alpen herumhüpfen, dann müssen halt die Alpenbewohner in deren Heimat nach Australien kommen. Und wie geht man das am besten an? Natürlich per Fahrrad! Was nach einer irren Idee klingt, die man während einer durchzechten Nacht hat, ziehen die beiden Hobbyradler Dominik Bochis und Andreas Buciuman tatsächlich gnadenlos durch. Von Linz geht es quer durch Osteuropa nach Moskau, von dort weiter runter über Kasachstan, Kirgistan und Pakistan, dann via China rüber nach Indien, ab nach Nepal und dann über Fernost bis Singapur, wo man dann per Fähre oder Flugzeug rübersetzen möchte auf den australischen Kontinent, da das Befahren des Indischen Ozeans per Tretboot vielleicht technisch dem Fahrradfahren am nächsten kommt, aber dann doch irgendwie nicht zu empfehlen ist. Abenteuer erleben die beiden Jungs auf dem Landweg ohnehin mehr als genug. Wetterkapriolen, Murenabgänge, einen auf Schritt und Tritt verfolgende Polizisten, Wüstentouren ohne ausreichend Wasservorräte, Belagerungen durch Insekten – alles dabei, womit man den Freundeskreis zuhause nach der Tour unterhalten kann. Am schönsten sind aber die zwischenmenschlichen Begegnungen, und hier gelingt es Bochis und Buciaman mit ihrem Do-It-Yourself-Projekt, das sie „Austria 2 Australia“ genannt haben, tatsächlich, einige Vorurteile aufzuweichen und herzerwärmende Momente einzufangen. Man kann nur den Hut ziehen vor den beiden Burschen und ihrer Strapazierfähigkeit, Ausdauer und Neugier. Allerdings hat „Austria 2 Australia“ ein fundamentales Problem: Bochis und Buciaman mögen zwar leidensfähige Fahrradfahrer sein, doch sind sie keine Scorseses. Sprich: Bei allem Bemühen, einen hochwertigen und professionellen Film zu drehen, wirkt „Austria 2 Australia“ stellenweise so wie Onkel Herberts Urlaubsvideo aus Jesolo, mit dem er nach dem Abendessen die gezwungen lächelnde Verwandtschaft quält. Man merkt den beiden Pedalhelden immer wieder die Unsicherheit vor der Kamera an, und die Erzählungen aus dem Off klingen gekünstelt und sind einfach schlecht geschrieben. Das soll auf keinen Fall die unfassbare Leistung der beiden schmälern, und allein schon die Landschaftsaufnahmen der entlegenen Gegenden, durch die die zwei geradelt sind, lohnen die Sichtung, doch bleibt mein Fazit: „Austria 2 Australia“ bietet eine tolle Geschichte, die leider nicht gut erzählt wird.


4,5 Kürbisse

(Bildzitat: Foto von Dominik Bochis – © Dominik Bochis, Quelle http://www.imdb.com)

All the Beauty and the Bloodshed (2022)

Regie: Laura Poitras
Original-Titel: All the Beauty and the Bloodshed
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: All the Beauty and the Bloodshed


Über Nan Goldin, die mit ihren Fotografien in den berühmtesten Kunstmuseen der Welt, darunter die Tate Modern Gallery, das Metropolitan Museum, das Guggenheim Museum oder der Louvre in Paris, ausgestellt wird, wusste ich vor Laura Poitras Porträt recht wenig, was eine Umschreibung für „nichts“ ist. Allein schon aus diesem Grund ist die Sichtung von „All the Beauty and the Bloodshed“ eine durchaus erhellende Sache, kommt man doch einer faszinierenden Künstlerseele näher. Allein schon das Eintauchen in ihre bunte, sehr bewegte Biographie (mit von ihr selbst schonungslos offen gelegten Tiefen, aber auch den Höhen), die sich hauptsächlich in wilden New Yorker LBGTQ-Kreisen bewegt, unterhält und bewegt den Zuseher über die volle Filmlänge. Doch Laura Poitras gibt sich nicht damit zufrieden, ein einfühlsames Künstlerporträt zu zeigen, so wie sich Nan Goldin auch nicht damit zufrieden gibt, ihre Fotos zu schießen und auszustellen. Beide Frauen haben weitere Antriebe, sie wollen ein Stachel im Fleisch sein – Nan Goldin in jenem der Familie Sackler, bedeutende Kunstmäzene, nach denen ganze Flügel in den größten Museen der Welt benannt wurden, und Laura Poitras in unserem, jenem der Zuseher, die sich mit Abschweifungen und Foto-Collagen konfrontiert sehen, die zuweilen gegen die üblichen Sehgewohnheiten gehen. Aber was hat es nun mit dem Grant der rüstigen Dame gegen die Familie Sackler auf sich? Nun, die Sacklers beziehen ihren unermesslichen Reichtum, der sie Kunstschätze aus aller Welt anhäufen ließ, durch ihre Pharmakonzerne. Diese wiederum sind unter anderem für die Einführung von Valium verantwortlich (ein durchaus einträgliches Geschäft), aber auch für die Opioid-Krise in den USA, da deren Schmerzmittel, das die Ärzte dort wie Hustenbonbons verschreiben, hochgradig süchtig macht und oft als Einstiegsdroge für die dann ganz harten Sachen dient. Nan Goldin war eine der vielen Abhängigen, sie spricht also aus Erfahrung und hat somit mit der Familie Sackler auch eine persönliche Rechnung offen. In die Künstlerbiographie ist also auch geschickt der Kampf von Nan Goldin gegen die übermächtige Familie Sackler eingewoben, und nach und nach begreift man, dass Werk, Künstlerin und Frau zu einem großen Ganzen verschmelzen – dass das künstlerische Werk Ausdruck eines inneren Antriebs ist, Ausdruck eines Aufbegehrens gegen gesellschaftliche Einschränkungen und die Allmacht der herrschenden Klasse. So formt sich über Werk und Wirken das Bild einer schillernden Persönlichkeit, die mit ihrer Courage, ihrem Gerechtigkeitssinn und einer schonungslosen Ehrlichkeit auch gegenüber sich selbst für viele als Vorbild dienen kann. Der Film, der sie porträtiert, mag zu Beginn etwas gewöhnungsbedürftig wirken, entwickelt aber mit der Zeit einen unwiderstehlichen Sog, der der großartigen Nan Goldin gerecht wird.


8,0 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Victim/Suspect (2023)

Regie: Nancy Schwartzman
Original-Titel: Victim/Suspect
Erscheinungsjahr: 2023
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Victim/Suspect


Sexuelle Belästigung bzw. Vergewaltigung ist ein traumatisierendes Erlebnis, das tiefe Wunden in die Seelen schlägt. Zusätzliches Salz wird in diese Wunden gestreut, wenn man dem Opfer keinen Glauben schenkt. Doch wie verstörend und ungerecht muss es sich anfühlen, wenn man im Zuge der Ermittlungen, weil man mutig genug war, einen solchen Vorfall zur Anzeige gebracht zu haben, selbst vom Opfer zum Täter gemacht wird, wenn einem die ermittelnden Polizisten (und ja, ich bleibe hier bewusst bei der männlichen Form) unterstellen, man hätte die ganze Geschichte nur erfunden. Und plötzlich klicken die Handschellen, und man findet sich wegen angeblicher Falschaussage vor Gericht wieder. So ist es Hunderten von Opfern in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten ergangen. Anhand einiger exemplarischer Beispiele rollt hier die Journalistin Rachel De Leon diese Vorfälle auf und zeigt Missstände der polizeilichen Ermittlungen auf. Die Logik, die hier angedeutet wird, beläuft sich darauf: Wenn eine Verhaftung vorgenommen wird, ist der Ermittlungsakt erst einmal geschlossen, und man muss sich nicht länger damit beschäftigen. Und wenn ein Täter schon nicht greifbar ist, versucht man eben, das Opfer in Widersprüche zu verstricken, um dann eben eine Verhaftung aufgrund von Falschaussagen vornehmen zu können. Natürlich: Man möchte nicht unterstellen, dass diese Methodik im ganzen Land System hat, aber Rachel De Leon legt dar, dass es solche Fälle eben gibt. Leider ist die filmische Verarbeitung des Themas durch Nancy Schwartzman nur mäßig gelungen. True Crime ist ja derzeit ein sehr beliebtes Genre, doch wird der Dokumentarfilm nur allzu routiniert und spannungsarm heruntergearbeitet, was dem brisanten Thema leider auch die Schärfe nimmt. Man hätte hier durchaus mehr in die Tiefe gehen, die einzelnen Fälle konzentrierter bearbeiten können – es hätte für dieses Thema vielleicht eine eigene Mini-Serie gebraucht, die sich die Zeit nimmt, um einerseits den Opfern gerecht zu werden, und andererseits auch die Seite der polizeilichen Ermittlungen und der weiteren Verfolgung der Fälle vor Gericht näher zu beleuchten. Dies fehlt aber fast komplett. Insofern bearbeitet „Victim/Suspect“ als Dokumentarfilm zwar ein wichtiges Thema, man hat aber zu selten das Gefühl, dass der Film sein Thema so ernst nimmt, wie es eigentlich sein sollte.


5,5 Kürbisse

(Bildzitat:© 2023 Netflix, Inc , Quelle http://www.imdb.com)

Nawalny (2022)

Regie: Daniel Roher
Original-Titel: Navalny
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Navalny


Alexei Nawalny ist kein Heiliger, wie seine bisherige politische Karriere und die Leute, mit denen er mitmarschiert ist, beweisen. Vielmehr ist er ein mit allen Wassern gewaschener Politiker, der immerhin ein hehres Ziel verfolgt: Russland von Korruption zu befreien und wieder zu demokratischen Werten zu führen. Nur ein winziges Problem stellt sich ihm dabei in den Weg: Vladimir Putin. Den Namen mag man schon mal gehört haben. Das ist der Typ mit dem Minderwertigkeitskomplex und der KGB-Vergangenheit, der der Meinung ist, dass die Ukraine zu einem großrussischen Reich gehört und den Ukrainern dies gerade mit zweifelhaften Methoden erklären möchte. Und dieser Möchtegern-Stalin verfügt dank seiner Macht über jede Menge Leute, die sich für ihn die Finger schmutzig machen. Und so findet sich Alexei Nawalny 2020 nach einer Veranstaltung in Sibirien plötzlich nicht im heimatlichen Moskau wieder, sondern nach Notlandung seines Flugzeugs mit Vergiftungserscheinungen in einem Krankenhaus. Dort springt er dem Tod gleich zum zweiten Mal in Folge von der Schippe, da sich die Ärzte wenig interessiert daran zeigen, ihn wieder zu heilen. Das müssen dann schon die Deutschen machen, die ihn ins Berliner Charité einfliegen lassen. Wieder bei Kräften, begibt sich Nawalny mit Unterstützung eines investigativen Recherchenetzwerks auf die Suche nach seinen Attentätern. Und wird fündig. „Nawalny“, dieses Jahr mit einem Oscar für die beste Dokumentation ausgezeichnet, beginnt relativ unspektakulär und dröge, und auch das Setting, Nawalny in einer Bar von sich erzählen zu lassen, steigert das Interesse zunächst nicht ins Unermessliche. Doch spätestens, wenn auf den Giftanschlag und die Folgen davon eingegangen wird, entspinnt sich ein spannender Krimi, der sich mehr und mehr steigert, gut getragen auch von Nawalnys beiläufigen sarkastischen Kommentaren. Man glaubt kaum seinen eigenen Augen und Ohren, wenn dann Nawalny und sein Team genüsslich die Hintergründe des Verbrechens aufdecken und die Attentäter auch noch am Nasenring durch die Arena zerren. Das ist wortwörtlich großes Kino.


7,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)

Absturz: Der Fall gegen Boeing (2022)

Regie: Rory Kennedy
Original-Titel: Downfall: The Case Against Boeing
Erscheinungsjahr: 2022
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Downfall: The Case Against Boeing


Wenn Netflix neue Dokus braucht, rufen sie wohl bei Rory Kennedy an. Die umtriebige Dokumentarfilmerin ist den großen Geschichten des Versagens auf der Spur, jener Art von Versagen, das tragische Konsequenzen zeitigt. Es ist noch nicht so lange her, da sind zwei brandneue Boeing 737 MAX kurz nach dem Start vom Himmel gefallen. In einer Zeit, in der Flugreisen so sicher wie noch nie zuvor scheinen, ein schwerer Schlag gegen den US-Konzern, der sich immer besonderer Qualitäts- und Sicherheitsstandards gerühmt hat. Wie konnte das passieren? Allmählich zeigt sich, dass – wie hinter vielen Tragödien der jüngeren Geschichte – Profitgier, Fehleinschätzungen und mangelnde Kommunikation die Dreifaltigkeit des Desasters ergeben. Gleichzeitig beleuchtet Rory Kennedy die Geschichte von Boeing – von den Jahrzehnten des Erfolgs über die Herausforderungen, die sich durch den immer mächtiger werdenden Konkurrenten Airbus ergeben haben. An dieser Stelle sei gesagt, dass man für Dokumentationen über komplexe Vorgänge und Strukturen zwar immer mit Vereinfachungen arbeiten muss, es sich Kennedy aber vielleicht an der einen oder anderen Stelle zu einfach gemacht hat. Die Erzählung in „Absturz: Der Fall gegen Boeing“ lässt den Schluss zu, dass angesichts des Konkurrenzdrucks die Führungsetage bei Boeing einfach irgendwann beschlossen hätte: „Pfeif auf die Qualität. Billig muss es sein, und ob der Flieger vom Himmel fällt, ist egal.“ Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Simplifikation den wichtigsten Entscheidungen eines Konzerns mit über 140.000 Mitarbeiter:innen gerecht wird. Keine Frage, die Geschichte der beiden Boeing-Abstürze ist eine Geschichte des Versagens. Doch gerade deshalb hätte ich mir gewünscht, dass mehr und vielfältigere Stimmen in der Doku zu hören gewesen wären (vielleicht auch von Mitarbeiter:innen, die direkt am Bau der Flugzeuge beteiligt waren), um das Bild zu schärfen, auch wenn es dadurch komplexer wird.


6,5 Kürbisse

(Bildzitat: Quelle http://www.imdb.com)