Raúl Ruiz

Comedy of Innocence (2000)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Comédie de l’innocence
Erscheinungsjahr: 2000
Genre: Drama, Thriller
IMDB-Link: Comédie de l’innocence


Eine Familie feiert den 9. Geburtstag ihres Sohnes Camille. Es gibt Kuchen, der Kleine filmt mit seiner Filmkamera, der Onkel kommt dazu, man scherzt miteinander, anschließend geht Bursche mit der Haushälterin in den Park, die Mutter kommt nach, wenngleich auch arg verspätet, da sie sich mit ihrem Bruder verplaudert hat. Alles gut soweit. Doch plötzlich spricht Camille seine Mutter mit Vornamen an und besteht darauf, dass sie nicht seine Mutter ist. Er heiße Paul und wohne in einer weit entfernten Straße, wohin er nun gerne zurückkehren möchte. Ariane, die Mutter (Rollkragenkönigin Isabelle Huppert), ist verständlicherweise irritiert, doch lässt sie sich auf das Spiel ein und bringt Camille zur Adresse, die ihr der Junge nennt. Und siehe da: Dort wohnt Isabelle (Jeanne Balibar), deren Sohn Paul, der am gleichen Tag wie Camille geboren ist, vor zwei Jahren bei einem Bootsunglück ertrunken ist. Spätestens jetzt hat der geneigte Zuseher Gänsehaut und wähnt sich in einem Horrorfilm. So einfach macht es einem Raúl Ruiz aber nicht, wenngleich er den Thrill der Situation genüsslich auskostet. Seine Filme gehen nicht den geraden Weg, sondern schleichen sich auf Umwegen und über Hintertüren in den Kopf. Und so kommt Isabelle in das Haus von Ariane. Dass ein Gemälde über das Urteil des Salomo im Speisezimmer hängt, bringt – wenig subtil, doch zielführend – dem Geschehen Kontext. Zugegeben, ich habe mir nicht leicht getan mit den ersten beiden Filmen von Raúl Ruiz, die ich gesehen habe. Faszinierend, aber sperrig und schwer zu verstehen. „Comédie de l’innocence“, mein dritter Film des chilenischen Regisseurs, ist nun eindeutig zugänglicher als „Tres tristes tigres“ und „Fado majeur et minor“ und lässt den Funken endlich überspringen. Das Rätselhafte, Surreale bleibt, doch kann man der Geschichte gut folgen, die dann auch zu einer stimmigen Auflösung findet. Von den drei gesichteten Filmen von Raúl Ruiz ist „Comédie de l’innocence“ wohl der am besten geeignete, um einen ersten Blick auf das Schaffen des Regisseurs zu werfen.


7,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Fado, Major and Minor (1994)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Fado majeur et mineur
Erscheinungsjahr: 1994
Genre: Drama
IMDB-Link: Fado majeur et mineur


Raúl Ruiz zum Zweiten. Nach seinem Debütfilm Three Sad Tigers springen wir nun ein Vierteljahrhundert weiter und gehen nach Portugal. Pierre, Touristenführer und ehemaliger Vertreter für die Enzyklopädie Britannica, steht plötzlich wie der Ochs‘ vorm Berg und erkennt weder die Stadt, durch die er seine Gäste führt, noch sein eigenes Leben. In seinem Apartment trifft er auf einen rätselhaften jungen Mann und dessen Tochter, der auf Rache aus ist. Aber an wem? Und weshalb? Pierre wird in einen Fiebertraum aus Wollust, Rache und Betrug hineingezogen. Mit der schönen Tänzerin und Prostituierten Ninon vergnügt er sich auf einer versifften Herrentoilette, mit Joachim zieht er durch geheimnisvolle Nachtclubs. Die Ebenen von Realität und Fiktion sowie zeitliche Dimensionen verschwimmen. „Fado majeur et minor“ versucht erst gar nicht, die lose auf einer Erzählung von Fjodor Dostojewski basierende Geschichte zugänglich zu machen. Man tappt als Zuseher genauso im Dunkeln wie Pierre selbst, dem Hauptdarsteller Jean-Luc Bideau übrigens einen der denkwürdigsten Bärte der Filmgeschichte verpasst hat. Doch wenn man sich auf dieses surreale Abenteuer einlässt, entfaltet der Film einen rätselhaften Sog. „Fado majeur et minor“ ist kein Film, dem man sich mit seinem Kopf, seinem Verstand annähern kann, sondern nur mit einem Bauchgefühl, das zunehmend unguter wird, was aber nicht gegen den Film spricht. Man muss eben diese abenteuerliche Reise mitmachen, ohne das Ziel zu hinterfragen, um Genuss aus dem Film zu ziehen. Aber dann punktet er mit surrealer Erotik, erinnerungswürdigen Bildern und charismatischen Darstellerinnen und Darstellern, deren seltsames Handeln lange nachwirkt.


6,0 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)

Three Sad Tigers (1968)

Regie: Raúl Ruiz
Original-Titel: Tres tristes tigres
Erscheinungsjahr: 1968
Genre: Drama
IMDB-Link: Tres tristes tigres


Die diesjährige Retrospektive der Viennale ist dem chilenischen Filmemacher Raúl Ruiz gewidmet. Und da ich bislang noch keinen einzigen Film aus seinem doch recht umfangreichen Schaffen gesehen habe, steht nun auch Ruiz in meinem persönlichen Festivalprogramm. Sein Debütfilm, „Tres tristes tigres“, konnte 1969 gleich mal den Goldenen Löwen in Locarno gewinnen. Der Titel bezieht sich auf einen spanischsprachigen Zungenbrecher, und so unaussprechlich wie dieser ist es für mich auch unmöglich, eine kohärente Inhaltsangabe zu geben. Ein Typ namens Tito arbeitet für einen Rodolfo, den alle Rudi nennen, und zieht mit seiner Schwester Amanda und einem Don Lucho um die Häuser, ehe er Amanda, eine Nachtclubtänzerin, an Rudi verscherbeln will, weil der unzufrieden mit seiner Arbeit ist. Dass Rudi eigentlich Autos verkauft, habe ich erst nach dem Film kapiert, ich hielt ihn für einen Unterwelt-Boss, doch vielleicht war er das ja auch. Alles denkbar in diesem Film, in dem Leute einfach nur in Bars sitzen und über alles Mögliche reden, nur nicht über das, was eventuell Licht auf die Handlung werfen könnte. Dass „Tres tristes tigres“ trotz dieses inhaltlichen Unverständnisses meinerseits nicht zum Totalausfall gerät, liegt am dann doch faszinierenden Blick, den Ruiz auf die Schattenwelt von Santiago Ende der 60er Jahre und die mit Machogehabe ihre eigenen Unsicherheiten überdeckenden Männer wirft. Man versteht seine Figuren nicht, man findet sie wohl nicht einmal sympathisch, und doch folgt man ihnen neugierig, wenn sie durch die Nacht wandeln und sich hemmungslos betrinken. Ein Film wie ein Fiebertraum – unverständlich (jedenfalls für mich aus heutiger Sicht), mit harten Schnitten, die die Handlung springen lässt und Figuren, die man immer wieder mal durcheinanderbringt, und doch kehrt man, nachdem das Licht wieder an ist, immer wieder dorthin zurück, wenn auch nur in der (vergeblichen) Hoffnung, doch mehr als zwei Puzzleteile zu finden, die zueinander passen.


5,5 Kürbisse

(Foto: (c) Viennale)