Dokumentation

Lucica und ihre Kinder (2018)

Regie: Bettina Braun
Original-Titel: Lucica und ihre Kinder
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


Lucica hat es wirklich nicht leicht. Die 29jährige Rumänin lebt allein mit ihren 6 Kindern in Dortmund. Ihr Mann Daniel ist gerade aus dem Gefängnis raus, wo er wegen Diebstahl eingesessen ist, und direkt nach Rumänien abgeschoben worden. Nun darf er fünf Jahre lang nicht nach Deutschland einreisen. Lucica hat hinten und vorne kein Geld, manchmal gibt es für sie und ihre Kinder nur trockenes Brot zu essen. Der Job als Teilzeitreinigungskraft wirft eben nicht genug ab. Erschwerend kommt dazu, dass die junge Frau nur wenig Englisch und noch weniger Deutsch spricht. Übersetzen muss dann oft Stefan, der zweitälteste Sohn, dessen Deutsch zwar auch holprig ist, aber der zumindest in die Schule geht und dort lernt. Als Daniel aus dem Gefängnis kommt, reist die Familie nach Rumänien, um ihn persönlich in Empfang zu nehmen. Da aber Lucica kein Geld für die Erneuerung des Reisepasses ihrer jüngsten Tochter Marta hat, kommt es auf dem Weg zurück nach Deutschland, wo die Kinder weiterhin zur Schule gehen sollen, zum Drama. Marta muss in Rumänien bei der Großmutter bleiben. Fortan ist die einzige Sorge von Lucica, ihre geliebte Tochter wieder zurück nach Deutschland zu bringen. Und an diesem Punkt wird das Verhältnis zwischen Lucica und Bettina Braun, der Dokumentarfilmerin, zunehmend schwieriger. Man merkt die Erwartungshaltung Lucicas, dass die reiche Deutsche ihre Probleme löst. Schon in den ersten Szenen des Films gibt es Momente, in denen Lucica die Filmemacherin als Schwester oder einmal gar als Mutter bezeichnet. Wie kann man hier noch Distanz zu dem Thema, das man filmt, wahren? Genau das ist einer der spannendsten Aspekte des Films. Wir haben hier eine sichtlich überforderte, unter der Armutsgrenze lebende Migrantin, die zudem kein großes Interesse daran zeigt, in Deutschland mit der hiesigen Bürokratie und den hier geltenden Regeln zurecht zu kommen, und auf der anderen Seite die Filmemacherin, die persönlich involviert wird – die sicherlich etwas ändern könnte an der Situation der Familie, doch wie nachhaltig wären diese Veränderungen, und würden diese Hilfen nicht den Sinn des Dokumentarfilms unterlaufen? „Lucica und ihre Kinder“ ist ein schonungslos ehrlicher Film, der zum Einen die schwierigen Verhältnisse von Migranten aufzeigt und zum Anderen die Grenzen des Dokumentarfilms an sich. Dass der Film dennoch keine rein triste Angelegenheit ist, liegt an den Kindern, die immer wieder mit ihrer Neugierde und Lebensfreude für positive Momente sorgen.

 


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Dreaming Under Capitalism (2017)

Regie: Sophie Bruneau
Original-Titel: Rêver sous le Capitalisme
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


Die Idee ist simpel, hat aber etwas für sich: Warum nicht einen Film über die Auswirkungen des kapitalistischen Systems auf das alltägliche Leben drehen, indem man die Menschen von ihren Albträumen erzählen lässt, die mit der Arbeit zu tun haben? Genau das macht Sophie Bruneau mit ihrem Dokumentarfilm „Dreaming Under Capitalism“, meinem ersten Crossing Europe-Film. Es ist Freitagnachmittag, die Sonne scheint aus einem nahezu wolkenlosen Himmel, es ist sommerlich warm, ich bin gerade in Linz angekommen – und mein erster Weg führt mich in den dunklen Kinosaal, um mir einen Film anzusehen, in dem Menschen vor filmischen Stillleben von Arbeitswelten von ihren nächtlichen Träumen erzählen (meistens aus dem Off). Im Laufe des Films, der mit einer Stunde Laufzeit ökonomisch angelegt ist, besinnen sich offensichtlich auch einige weitere Kinobesucher, dass da draußen ein wunderschöner Frühlingstag ist und ratzfatz ist der halbe Saal leer gespielt. Ich, müde vom Vorabend und der Zugfahrt am Vormittag, bleibe sitzen, was auch daran liegt, dass mir immer wieder die Augen zufallen. Kurz gesagt: „Dreaming Under Capitalism“ ist nicht unbedingt das, was man als Reißer bezeichnen würde. Manche Träume sind zwar durchaus interessant (wie etwa jener der älteren Consulting-Dame, die davon träumt, dass ihr Schädel aufknackt und kleine Männchen mit Riesenlöffeln im Kreis um ihr Hirn sitzen und dieses genüsslich auslöffeln), aber meistens sind es nichtssagende, larmoyante Sudereien über die alltägliche Arbeitsbelastung, die vor nahezu unbewegten Bildern von beispielsweise Bürogebäuden oder Baustellen erzählt werden. Wäre das mein heutiger Spätabendfilm gewesen, wäre ich wohl erst morgen in der Früh wieder im Kinosaal aufgewacht. So bleibt als Fazit: Eine nette Idee, aber langweilig umgesetzt – und einen ganzen Film trägt diese nicht.


3,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival Linz)

Gwendolyn (2017)

Regie: Ruth Kaaserer
Original-Titel: Gwendolyn
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Gwendolyn


Gwendolyn ist Mitte 60, von eher schmächtiger Statur, hat Krebs, der zu einer halbseitigen Gesichtslähmung geführt hat, und ist in ihrer Altersklasse dreifache Welt- und fünffache Europameisterin im Gewichtheben. Wenn die gebürtige Steirerin, die seit den 70ern in London lebt, nicht gerade im Fitnessstudio unter Anleitung ihres langjährigen Trainers Pat die Hanteln stemmt, geht sie mit ihrem ivorischen Freund Essen, mit ihrem Enkelsohn in den Tiergarten oder denkt darüber nach, welches Buch sie als nächstes schreiben möchte. Ihre Dissertation hat sie über alte babylonische Flüche geschrieben. Schnell wird klar: Gwendolyn, Gwen, wie sie von ihren Freunden genannt wird, ist eine wahrlich außergewöhnliche Frau. Hinter ihrer stoischen Art verbirgt sich, wenn man genauer hinsieht, eine scharfsinnige, willensstarke Persönlichkeit mit staubtrockenem Humor. Gwendolyn lässt sich nicht unterkriegen vom Leben, sie bleibt neugierig und abenteuerlustig. Eine Europameisterschaft in Aserbaidschan? Warum nicht. Mit eisernem Willen trainiert sie auf diesen Event hin, auch wenn sie ihre Arme kaum heben kann und alles schmerzt. „Wenn du Schmerzen hast, suche dir einen neuen Schmerz, der lenkt vom alten ab“, rät ihr Trainer Pat, und dieser Ratschlag unterstreicht, wie Gwendolyn tickt. Schmerzen gehören zu ihrem Leben. Aber diese sind kein Grund für sie, nicht auch Freude zu empfinden und Leistung zu bringen. Ruth Kaaserer setzt dieser inspirierenden Frau ein filmisches Denkmal. Schön ist, dass sich der Film ganz auf Gwendolyn konzentriert, ganz bei ihr ist, im Privaten wie im Öffentlichen, nicht bewertet, nicht hinterfragt, sondern sie einfach nur zeigt, wie sie ist. Gleichzeitig entsteht daraus auch die einzige nennenswerte Schwäche, die Ruth Kaaserers Porträt aufweist: Diese spannende Frau wird ganz im Hier und Jetzt gezeigt, die Hintergründe aber, wie sie zu dieser Frau geworden ist, bleiben verborgen und werden auch nicht hinterfragt. Man hat ein wenig das Gefühl, dass sie noch so viel mehr zu erzählen hätte, doch der Film stellt keine Fragen, er beobachtet nur, und wenn man Gwen nicht fragt, dann sagt sie eben auch nichts. Sie ist ganz bei sich – was Andere über sie denken, scheint zweitrangig für sie zu sein. Und so bleibt man auch als Zuseher ein wenig außen vor.


6,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Stadtkino Filmverleih)

https://www.youtube.com/watch?v=rNU3QUaKCFI

Blackfish (2013)

Regie: Gabriela Cowperthwaite
Original-Titel: Blackfish
Erscheinungsjahr: 2013
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Blackfish


Am 24. Februar 2010 starb die erfahrene SeaWorld-Tiertrainerin Dawn Brancheau nach einer Attacke des Orcas Tilikum. Dieser Vorfall – und der mediale Umgang SeaWorlds damit – gab den Anlass für Gabriela Cowperthwaites Dokumentation „Blackfish“. Im Gespräch mit ehemaligen SeaWorld-Trainern und anderen involvierten Personen und mit altem Archivmaterial ausgestattet geht sie der Frage auf den Grund, wie es zu diesem tragischen Unglück kommen konnte – und warum Dawn Brancheau bereits die dritte Person war, die nach einem Vorfall mit Tilikum ihr Leben lassen musste. Tilikum steht dabei stellvertretend für alle in Gefangenschaft gehaltenen Orcas. Sein Lebenslauf steht exemplarisch für ein ganzes System, das seinen Beginn in den 70er Jahren genommen hat. Damals wurden die ersten Jungtiere gefangen, um sie in Aquarien wie SeaWorld zur Schau zu stellen. Die Sequenz, in denen mit Tränen in den Augen ein ehemaliger Mitarbeiter von den Fangmethoden erzählt und die Archivaufnahmen von damals zeigen, wie die Familie der Jungtiere bei den Booten bleiben und nach dem Jungen rufen, ist erschütternd und aufwühlend. Und man beginnt zu begreifen, wie grausam das System ist, das diese intelligenten, sozialen Tiere zu unserer Belustigung aus ihren sozialen Verbänden reißt. Interessant ist der Blick der Tiertrainer, die zwar selbst Teil des Systems sind (und das auch begreifen), gleichzeitig aber in ihrer Naivität und von SeaWorld gesteuerten Uninformiertheit auch Opfer dieses Systems sind. Unfälle werden totgeschwiegen, und wenn es gar nicht mehr anders geht und doch wieder etwas an die Oberfläche sickert, dann schiebt man den Trainern, die angeblich Fehler gemacht haben, die Schuld in die Schuhe. Die Wahrheit ist allerdings viel komplexer, und auch wenn „Blackfish“ den Fokus eher auf den Umgang mit den Tieren in diesen Aquarien legt und weniger auf das Sozialleben und die Intelligenz der Orcas, so wird doch deutlich, wie sehr die Tiere in Gefangenschaft leiden. Sie sind keine kaltblütigen Killer, sie sind intelligente, friedliche, soziale Tiere, die die meiste Zeit über auch eine Bindung zu ihren Trainern und Menschen aufbauen. Gleichzeitig aber entwickeln sie Neurosen und Psychosen, da alles, was sie erleben (müssen), wider ihre Natur geht. Sie leiden unter der Isolation, in der sie leben, unter der Enge, ihren fehlenden Familien. „Blackfish“ macht das deutlich, bewahrt dabei aber einen ausgewogenen Blick. Weder werden die Tiere verherrlicht oder gar vermenschlicht, noch werden die Trainer, die von der Arbeit mit den Orcas erzählen, vorgeführt. Als Zuseher beginnt man zu begreifen, dass ein Teil des Problems darin liegt, dass wir noch so wenig verstehen von der Welt, in der wir leben, und wir dann auch oft den Blick abwenden vor dem Unrecht, das sich hinter unserem Unverständnis verbergen könnte. „Blackfish“ ist nicht nur ein wichtiger, sondern auch ein sehr gut gemachter Film. Nach dem Abspann bleibt man noch lange nachdenklich sitzen.


8,0
von 10 Kürbissen

Theatre of War (2018)

Regie: Lola Arias
Original-Titel: Teatro de Guerra
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Teatro de Guerra


Von April bis Juni 1982 standen sich Argentinien und Großbritannien als Gegner im Falklandkrieg gegenüber. 35 Jahre später lädt die argentinische Filmemacherin Lola Arias Veteranen von beiden Seiten zu einem Projekt ein. Es geht darum, den Krieg, bei dem insgesamt etwa 1.000 Soldaten ihr Leben gelassen haben, gemeinsam aufzuarbeiten. Szenen aus den Erinnerungen der Soldaten werden nachgespielt, die Soldaten selbst erzählen von ihren eindringlichsten Momenten. Man merkt, dass viele seelische Wunden tief sitzen und längst nicht verheilt sind. Gleichzeitig sieht man auch, mit wie viel Respekt voreinander die ehemaligen Feinde miteinander umgehen. Es ist eine freundschaftliche Atmosphäre, die am Set entsteht, getragen von gemeinsamen Erinnerungen und Traumata. Was hierbei schnell klar wird: Im Krieg gibt es keine Gewinner und Verlierer, es gibt keine sich hassenden Feinde, sondern nur Menschen, die von ihren Ländern dazu gezwungen werden, auf andere Menschen zu schießen. Und oft sind die Überlebenden die eigentlich armen Schweine, denn sie müssen mit ihren Erfahrungen für den Rest ihres Lebens klar kommen. Allerdings wirkt die Dokumentation trotz ihrer intensiven Momente durch das spezielle Setting auch sehr artifiziell. Das Konzept sieht eben vor, dass Vieles gestellt ist. Der Titel „Teatro de Guerra“ ist durchaus Programm, aber gerade eben das Bühnenhafte der Situation, in die Arias ihre Protagonisten steckt, nimmt dem Film etwas an Wucht und Wahrhaftigkeit. Oft wünscht man sich, dass sich die Männer einfach zwanglos und ohne Vorgaben begegnen können, dass sie eben nicht Theater spielen müssen, um den Krieg begreiflich zu machen. Ihre Augen, wenn sie von den schrecklichen Erlebnissen berichten, sagen so viel mehr aus und bilden den Krieg nachvollziehbarer ab als Lola Arias‘ experimentelle Anordnung.

 


5,0
von 10 Kürbissen

Draußen (2018)

Regie: Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht
Original-Titel: Draußen
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Draußen


„Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht.  / Und man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Diese Zeilen aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht könnten als Motto vor dem Dokumentarfilm „Draußen“ von Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht stehen. Es geht um vier Obdachlose in Köln: Elvis ist darum bemüht, Ordnung unter der Brücke zu halten. Sergio, der Film-Fan aus Kasachstan, war mehr im Gefängnis als auf freiem Fuß und ist drogenabhängig, hat aber seinen Humor nicht verloren. Matze, ein alter Punk, schämt sich vor seinen Kindern. Und Peter, genannt Filzlaus, war schon überall. Er schläft in Parks und neben den Straßen im Gestrüpp. Eines der stärksten Statements im Film kommt von ihm, als er gefragt wird, ob er denn Angst davor hätte, im Wald zu schlafen. Nein, antwortet er. Er habe keine Angst im Wald. Es sei eher so, dass er derjenige sei, vor dem man Angst haben würde, wenn man ihm im Wald begegnete, dabei tue er niemanden was. „Draußen“ zeigt vier Menschen, die abseits der Gesellschaft leben und dabei versuchen, sich ein wenig Menschenwürde zu bewahren. Der Film geht dabei weniger auf das Warum ein (warum sie auf der Straße leben, wird bestenfalls nur kurz gestreift), sondern auf das Wie. Was ist diesen Menschen wichtig? Was motiviert sie, jeden Tag aufzustehen und weiterzumachen? Was sind die Gegenstände, die sie für ihr Leben da draußen brauchen, bzw. welche Gegenstände sind für sie Luxus? Darauf wird ein besonderer Fokus gelegt. Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht sind dabei ganz nah dran an den Menschen. Sie lassen sie ihre Geschichten erzählen und ihre Meinungen sagen. Es sind oft überraschend zarte Geschichten und klare Einsichten. Wenn Matze erzählt, dass er froh ist, noch das Gefühl der Scham zu kennen, sagt das viel aus. Und plötzlich werden sie sichtbar: jene, die für uns im Dunkeln sind. Die beiden Regisseurinnen zeigen diese Menschen ohne falsche Sentimentalität, sondern einfach so, wie sie sind. Vom Leben gezeichnet, aber aufrecht.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 54 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: (c) unafilm / Thekla Ehling)

Infinite Football (2018)

Regie: Corneliu Porumboiu
Original-Titel: Fotbal Infinit
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Fotbal Infinit


Der Provinz-Beamte Laurentiu gibt dem Filmemacher Corneliu Porumboiu ein Interview über seine revolutionären Pläne, den Fußball zu modernisieren. „Der Ball muss frei sein“, so seine Devise. Gleich zu Beginn des Interviews wird klar, dass die Pläne persönlichen Lebenskränkungen entsprungen sind. Die Verletzung als Jugendlicher beim Fußballspiel, die nicht eingetreten wäre, wenn Fußball nach anderen Regeln gespielt worden wäre. Die kurzfristige Absage eines Job-Angebots in den USA. Der langweilige Bürojob, den der Beamte nun schon seit zwanzig Jahren tagein, tagaus erledigt. Hinter all seinen Überlegungen, die er noch während des Gesprächs mit Porumboiu wieder verwirft, da er die Fehler und Unstimmigkeiten seines Regelwerks erkennt, steckt der Wunsch, etwas Bedeutsames zu leisten, anerkannt zu werden, eine Rolle im Weltgeschehen einzunehmen. Das macht „Infinite Football“ trotz des engen Themas zu einem sehr universellen Film. Gleichzeitig wirft Porumboiu eher beiläufig auch einen Blick auf die rumänische Bürokratie, an der schon so einige Träume zerschellt sind. Laurentiu steht hier stellvertretend für viele Menschen, die sich ihre Träume nicht verwirklichen konnten. Sein Umgang damit ist allerdings ein sehr eigener, sehr persönlicher, und teilweise auch rasend komischer, ohne dass Porumboiu Laurentiu zur Schau stellt oder gar auflaufen lässt. Das macht „Infinite Football“ auch zu einem mitfühlenden Film. Allerdings ist das Thema selbst trotz seiner universellen Gültigkeit keines, das geeignet wäre, den Zuseher durchzuschütteln. So gesehen verpasst man auch nicht viel, wenn man den Film nicht gesehen hat. Ihn zu sehen ist aber dennoch keine Zeitverschwendung.

(Dieser Film ist als Reiseetappe # 53 Teil meiner Filmreisechallenge 2018. Mehr darüber hier.)


6,0
von 10 Kürbissen

Donkeyote (2017)

Regie: Chico Pereira
Original-Titel: Donkeyote
Erscheinungsjahr: 2017
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Donkeyote


„Donkeyote“ ist in mehrfacher Hinsicht ein ungewöhnlicher Film: Erzählt wird die Geschichte des pensionierten Manolo, der seine Zeit damit verbringt, mit seinen Hunden und seinem Esel Gorrión Wanderungen zu unternehmen. Nun hat er sich in den Kopf gesetzt, die Route der Cherokee-Indianer in den USA nachzugehen, die diese eingeschlagen haben, als sie vertrieben wurden. Das Problem dabei: Manolo lebt in Andalusien, Spanien, also nicht gerade ums Eck. Ebenfalls ungewöhnlich ist, dass es sich hierbei um einen Dokumentarfilm handelt. Und auch bemerkenswert ist die Nähe des Filmers zu Manolo, er ist nämlich dessen Neffen, und zeichnet so das sehr intime Porträt eines Menschen, der seinen eigenen Weg geht. Dabei wird auch angedeutet, dass es in der Familie nicht immer harmonisch zugeht, dass der störrische Manolo da vielleicht auch die eine oder andere Brücke hinter sich abgerissen hat. Der Film lebt aber weniger von den Beziehungen der Menschen untereinander, sondern von der Beziehung zwischen Manolo und seinen Tieren. Er macht sich tatsächlich mit Gorrión und seinem Hund Zafrana auf den Weg nach Sevilla, um dort sich selbst und seine Tiere einzuschiffen. Das Problem bei der Geschichte: Er weiß weder, wie er die teure Überfahrt finanzieren soll, noch, was er alles an Behördenkram zu erledigen hat. Und während der Wanderung nach Sevilla kommen ihm, dem Unbeirrbaren, allmählich Zweifel.

„Donkeyote“ ist ein sehr stiller, bedächtiger Film, in dem nicht viel passiert. Chico Pereira zeigt seinen Onkel und die beiden Tiere auf der Wanderung – mal in der Sonne, mal im Regen. Sie campieren, sie gehen, sie machen flüchtige Bekanntschaften, sie gehen weiter. Währenddessen versucht Manolo, Englisch zu lernen. So gesehen ist der Film inhaltlich ein wenig dürftig, aber was ihn dann doch wieder heraushebt aus der Belanglosigkeit und zu einem Vergnügen macht, ist, dass sowohl Manolo selbst als auch seine tierischen Begleiter, vor allem Gorrión, echte Persönlichkeiten sind, denen man gerne zusieht. Ja, dieser Esel hat Charisma, und die liebevolle Beziehung zwischen den drei Wanderern zeigt ein blindes Verständnis füreinander, das gleichzeitig ein Plädoyer für einen freundlicheren und respektvolleren Umgang mit uns selbst, mit unserem Umfeld und auch mit der Natur und den Geschöpfen darin ist. Ein warmherziger Film über einen modernen Don Quijote und seinen vierbeinigen Sancho Pansa.


6,5
von 10 Kürbissen

20,000 Days on Earth (2014)

Regie: Jane Pollard und Iain Forsyth
Original-Titel: 20,000 Days on Earth
Erscheinungsjahr: 2014
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: 20,000 Days on Earth


Ich bin kein ausgewiesener Fan von Nick Cave & The Bad Seeds. Ich mag die Musik, aber es ist nicht so, dass der melancholische Australier bei mir in der Dauerschleife läuft. Dennoch: Als der Film 2014 auf der Viennale gezeigt wurde, war mir klar, dass ich den sehen muss. Denn der Ansatz dieser Dokumentation ist speziell: Jane Pollard und Iain Forsyth zeigen in enger Zusammenarbeit mit Nick Cave den (fiktiven) 20.000sten Tag seines Lebens. Nick Cave ist real, der Tag ist es nicht, und dennoch entsteht auf diese Weise durch ein wahrlich poetisches Konzept ein Blick hinter die Kulissen, der den Künstler als Mann zeigt, als Familienmensch, verletzlich, kreativ, reflektiv. Nick Cave ist ein Entdecker, ein Erforscher der menschlichen Seele. Alte Weggefährten wie Blixa Bargeld oder Kylie Minogue tauchen auf, fahren kurz mit ihm im Auto mit und lassen die gemeinsame Zeit im Guten wie im Schlechten Revue passieren. Manche Erinnerungen tun auch weh, aber es wird nichts ausgespart. Was am Ende bleibt, ist das Porträt eines vielseitigen Suchenden, der nie aufgehört hat, seinem Herz zu folgen, auch wenn es ihn in die tiefsten Abgründe gezogen hat. Und dazu gibt es großartige, mitreißende Musik. Poesie in Wort, Bild und Klang.


8,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Stadtkino)