Dokumentation

Home Games (2018)

Regie: Alisa Kovalenko
Original-Titel: Domashni Igri
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Domashni Igri


Die 20jährige Alina möchte eine der besten Fußballspielerinnen der Ukraine werden und es bis ins Nationalteam schaffen. Das Talent und den Willen dazu hat sie. Was sie aber auch hat: Eine alkoholkranke Mutter, einen so gut wie immer abwesenden Vater, der keinen Cent von dem Geld, das er verdient, nach Hause bringt, zwei deutlich jüngere Geschwister und eine Großmutter, die zwar mit Ratschlägen, aber nicht mit Taten weiterhelfen kann. Und dann stirbt auch noch die Mutter. Alisa Kovalenko, die Regisseurin von „Home Games“ ist mit ihrer Kamera immer dabei: Auf dem Feld, wenn Alina ihre Wut auf das Leben in Energie im Spiel ummünzt, beim Begräbnis der Mutter, bei der Konfrontation mit dem Vater (dessen Charakter am deutlichsten sichtbar wird, als er sich nach einem Streit mit seiner Tochter aus dem Staub macht, sich dabei aber noch Zeit nimmt, sich an der Tür umzudrehen, in die Kamera zu blicken und der dahinter befindlichen jungen und hübschen Filmemacherin zuzwinkert), vor allem aber bei den Versuchen, die beiden Geschwister aufzuziehen. Die Familie lebt deutlich unter der Armutsgrenze. Hilfe gibt es keine. Der Tod der Mutter, die zumindest einen Teil der Verantwortung getragen hat, führt dazu, dass Alina alle Hände voll hat, den Alltag zu organisieren. Für Fußball bleibt da kaum mehr Platz. Stirbt damit ihr großer Traum und vielleicht die einzige Chance, der Armut zu entfliehen? Alisa Kovalenko hat einen sehr intimen Film gedreht. Das Vertrauen, das ihr Alina und ihre Familie entgegenbringen, ist enorm. Dadurch ist die Regisseurin immer und überall hautnah dran, ist dabei aber unsichtbar. Man könnte dem Film vielleicht zum Vorwurf machen, einen voyeuristischen Blick auf eine Familie in Armut zu werfen. Man könnte aber auch einfach ein respektvolles Porträt einer starken jungen Frau sehen, die zwar versucht, ihren Traum zu leben, gleichzeitig aber Verantwortung übernimmt, als es nötig ist, so schwer das manchmal auch fällt.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Hungary 2018 (2018)

Regie: Eszter Hajdú
Original-Titel: Hungary 2018
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Hungary 2018


„We’re fucked.“ So lautete das Fazit der Interview-Führerin nach dem Q&A mit Eszter Hajdú und Sándor Mester, die 2018 den Wahlkampf des ehemaligen ungarischen Premierministers und nunmehrigen Oppositionsführer Ferenc Gyurcsány begleitet hatten. Das Ergebnis ist bekannt: Die regierende Fidesz-Partei von Viktor Orbán landete einen Erdrutschsieg und zementierte Orbán noch fester im Sessel der Macht. Das „We’re fucked“ bezog sich auf die Einschätzung, die die beiden Filmmacher und Gyurcsány in „Hungary 2018“ treffen: Das war vielleicht die letzte Möglichkeit, Orbán mit demokratischen Mitteln aus dem Sessel zu hieven. Denn was der Film schonungslos und für wirklich jeden verständlich aufzeigt, ist, wie die Regierung über die Kontrolle der Medien und eine ganz klar abgestimmte (Des)Informationsstrategie die Bevölkerung in eine Art Psychose stürzt, in der Angst und Hass die Pfeiler für Wahlergebnisse wie eben jenes von 2018 sind. Wozu braucht man eine Diktatur, wenn man absolute Machtansprüche auch mit den Instrumenten der Demokratie realisieren kann? Für Orbán und seine Fidesz genügt es, der Bevölkerung über die von der Partei kontrollierten Medien (und das sind 90% aller ungarischen Medien) immer wieder mit rhetorisch einfachsten Mitteln die Trinität des Bösen zu präsentieren: Die Einwanderer. George Soros. Die EU. Damit ist in Orbáns Welt alles erklärt, und es wird nichts in Frage gestellt. An einem Punkt meint ein hochrangiger Fidesz-Minister zum Auditorium: „Ich kann mit Ihnen sofort nach Paris fahren und einen ganzen Nachmittag durch die Stadt gehen. Wir werden keinen einzigen Weißen auf der Straße sehen.“ Und die Bevölkerung? Sie glaubt diesen Lügen. Denn wenn alle Medien das Gleiche berichten, dann wird es wohl stimmen, oder? „Hungary 2018“ zeigt auf, wie eine Diktatur funktioniert. Gyurcsánys Kampf um eine Umkehr von diesem Irrsinn ist ehrlich geführt, aber hoffnungslos. Denn wie eine Wahl gewinnen, wenn man von der Bevölkerung nicht wahrgenommen wird außer auf den Plakaten der Gegenseite, wo man zum ultimativ Bösen und Verräter stilisiert wird? „Hungary 2018“ zeigt auch, wie „Austria 2022“ sein kann. Lassen wir das nicht zu. Denn sonst sind wir fucked.

Für den Film, um noch mal eine Bewertung einzubringen, vergebe ich 7 Punkte und keine noch höhere Wertung, da er sich vielleicht ein wenig zu sehr auf Gyurcsány konzentriert und die (mit Sicherheit hochinteressanten) Stimmen des Wahlvolks dabei zwar nicht ausklammert, aber nicht so zur Geltung bringt. Gerade die Stimmen von Fidesz-Wählern hätten mich aber auch sehr interessiert. Wie denken Menschen, die eine solche Gehirnwäsche erfahren haben? Und wo könnte man bei ihnen vielleicht ansetzen? Das sind dringliche Fragen unserer heutigen Zeit, die der Film dann leider nicht wirklich berücksichtigt – bzw. angesichts der schwierigen Verhältnisse bei der Produktion (so wollten einige Crew-Mitglieder namentlich im Abspann nicht genannt werden aus Angst vor Repressalien durch das Orbán-Regime) nicht berücksichtigen kann.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: CROSSING EUROPE Filmfestival)

Free Solo (2018)

Regie: Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin
Original-Titel: Free Solo
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Free Solo


Es ist nicht bekannt, ob Alex Honnold die Musik von Tom Petty mag, aber ich bezweifle, dass sich dessen Song „Free Fallin“ auf der Playlist des Extrem-Bergsteigers befindet. Alex Honnold ist aus der Sicht eines leicht übergewichtigen, recht unsportlichen und faulen Bürohengstes (sämtliche Ähnlichkeiten mit real lebenden Personen oder Kürbissen sind rein zufällig) mit Verlaub völlig irre. Denn seine Leidenschaft gilt dem Free Solo, das heißt: ohne Seil die ärgsten Felswände hochkraxeln. Jeder kleinste Fehler führt dazu, dass es rasant nach unten geht, bis man auf dem Boden der Tatsachen landet. Und in dem Fall (diese Doppeldeutigkeit ist durchaus beabsichtigt) heißt das, dass man sich künftig die Radieschen (und Berge) von unten ansehen wird. Oder wie es in der Dokumentation über die Besteigung der imposanten Felswand El Capitan im Yosemite-Nationalpark mal sinngemäß heißt: Diese Wand Free Solo zu besteigen, ist ungefähr gleichzusetzen wie der Gewinn einer olympischen Goldmedaille in einer Sportart, in der alle ab dem zweiten Platz sterben. Man muss sich also schon sicher sein, diese verdammte Goldmedaille zu gewinnen, wenn man sich an dieses Abenteuer wagt. Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin, selbst passionierte Bergsteiger, die mich schon mit ihrem Film Meru überzeugen konnten, folgen in einem recht klassischen dokumentarischen Ansatz den Vorbereitungen von Alex Honnold auf dieses Wagnis. Doch schon bald entspinnen sich daraus recht spannende zweite Ebenen: Zum Einen kommt die Filmcrew bald an den Punkt, wo sie sich die Frage stellen müssen, ob das Risiko eines Absturzes durch ihre Anwesenheit nicht maßgeblich vergrößert wird – und das nicht nur wegen etwaiger störende Kameradrohnen und vom Filmteam gelösten Steinchen, sondern auch, da die bloße Tatsache, dass der Aufstieg gefilmt wird, bei Honnold dazu führen könnte, mehr Risiko zu nehmen als er allein ohne Kamerabegleitung nehmen würde. Zum Anderen entfaltet sich das Porträt eines Mannes, der Schwierigkeiten mit emotionalen Bindungen und Reaktionen hat, aber eine Beziehung eingeht, die durch diese fehlende Empathie und durch das enorme Risiko eines verfrühten Ablebens auf eine harte Probe gestellt wird. Der heimliche Star des Films ist Alex‘ Freundin Sanni, die jede Minute mit dem Schlimmsten rechnen muss, aber keine Forderungen stellt in dem Wissen, dass man einem Menschen nicht das, was er am meisten liebt (sogar mehr noch als die Partnerin) wegnehmen kann, ohne die Beziehung zu zerstören. Genau diese Zwischentöne machen „Free Solo“ neben den zu erwartenden spektakulären Kletter-Bildern zu einem sehenswerten Film, über den man gerne noch länger nachdenkt und der in meinen Augen auch verdient mit einem Oscar für den besten Dokumentarfilm gewürdigt wurde.


7,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)

Lampenfieber (2019)

Regie: Alice Agneskirchner
Original-Titel: Lampenfieber
Erscheinungsjahr: 2019
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Lampenfieber


Der Friedrichstadt-Palast in Berlin ist die Heimat des größten Jugendtheaters Europas. Einmal im Jahr findet die große Aufführung vor 1.800 Menschen im Publikum statt. Alice Agneskirchner folgt mit ihrer Kamera einigen Kindern und Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren, die es geschafft haben, ins Ensemble aufgenommen zu werden, ein Jahr lang – von den Aufnahmeprüfungen bis zum großen Auftritt. Sie konzentriert sich dabei nicht ausschließlich auf die Proben und das Geschehen im Theater selbst, auch wenn diese natürlich einen großen Raum einnehmen, sondern folgt den Kindern auch nach Hause und stellt sie und ihre Lebensumstände den Zusehern vor. Und diese sind manchmal nicht einfach. Da gibt es frühe Krebstode von Eltern zu verkraften oder auch aktuelle Krebserkrankungen, da gibt es die syrische Migrantenfamilie, wo die Großeltern noch in Syrien leben und nur per Skype präsent sind, da gibt es Dreifachbelastungen durch Schule, Theater und weitere zeitaufwändige Tätigkeiten wie das Schauspiel oder Mode-Bloggen nebenbei. Schnell wird sichtbar, welchen Belastungen Kinder und Jugendliche heutzutage ausgesetzt sein können, ohne dass mit dem Finger auf Verantwortliche gezeigt oder auf die Tränendrüse gedrückt wird. Alice Agneskirchner hält einfach (und unprätentiös) fest: Das ist das Leben. Manches davon suchen wir uns selbst aus (und auch das kann belastend sein), manches kommt auf uns niedergeprasselt. Und manchmal ist es auch einfach zu viel. So zeigt Agneskirchner nicht nur den Erfolg der Kinder bei der Theaterproduktion, sondern auch den Misserfolg, das Scheitern, wenn ein Kind aufgrund der zu großen Belastungen dann doch aus dem Ensemble genommen wird, um es nicht noch mehr zu beanspruchen. Insgesamt ist „Lampenfieber“ eine erfrischende und sympathische Produktion, handwerklich solide und konventionell gemacht. Kein Meilenstein, aber auch kein Film, der mehr sein will als er ist – und damit eine Atempause zwischen all den symbolisch aufgeladenen dramatischen Filmen, die man auf der Berlinale sonst so serviert bekommt.


6,0
von 10 Kürbissen

(Foto: gebrueder beetz filmproduktion)

Fahrenheit 11/9 (2018)

Regie: Michael Moore
Original-Titel: Fahrenheit 11/9
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Fahrenheit 11/9


Der Titel eines berühmten Films von Sidney Lumet mit Henry Fonda lautet „12 Angry Men“. Nun, manchmal braucht es gar keine zwölf wütende Männer, sondern es reicht einer. In diesem Fall Michael Moore. Der hat nämlich mal wieder die Schnauze voll von der politischen Welt, die er rund um sich herum antrifft. Und er stellt sich eine Frage: Wie zur Hölle konnte es passieren, dass Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte? Allerdings bleibt er nicht bei dieser Frage und deren Beantwortung. Er geht weiter. Die zweite Frage, die sich nämlich daran anschließend aufdrängt, lautet: Wie geht es nun weiter? Rutschen die Staaten tatsächlich in die Nähe einer Diktatur? Die Bilder, die Moore zeichnet, sind erschreckend. Erschreckend, weil sie konsequent sind. Weil da nicht nur einer mit billigen Polemik herumwirft (das auch, und das ist immer ja einer der Hauptkritikpunkte an Michael Moores Filmen gewesen), sondern weil zwischen dieser Überzeichnung immer wieder die brillante Analyse steckt, die Michael Moore eben auch auszeichnet. Vom Kleinen, vom Einzelfall ausgehend (hier am Beispiel seiner Heimatstadt Flint, Michigan, das aufgrund der Profit- und Machtgier der Regierenden nach und nach mit bleiverseuchtem Trinkwasser vergiftet wird), macht Moore Verbindungen und Strukturen sichtbar, die sonst kaum jemandem auffallen, die aber, wenn man sie einmal gesehen hat, absolut logisch nachvollziehbar sind. Und so ist „Fahrenheit 11/9“ nicht nur eine Abrechnung mit Donald Trump und seinen Verbündeten, sondern vor allem auch die schmerzhafte Obduktion eines kranken Systems, das vielleicht, wenn wir das nicht zu verhindern wissen, noch ärgere Blüten treiben wird, die demokratische Grundwerte zersetzen können. Bei aller Polemik – das, was Michael Moore hier zeigt, ist wichtig und sollte gesehen werden.


7,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Polyfilm)

RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit (2018)

Regie: Julie Cohen und Betsy West
Original-Titel: RBG
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: RBG


Ich muss gestehen, mir sagte der Name Ruth Bader Ginsburg nicht viel. Am ehesten bringt man sie hierzulande in Verbindung mit dem Präsidentschaftswahlkampf von Donald Trump, gegen den sie sich, Richterin am US-amerikanischen Supreme Court, also dem höchsten Gericht des Landes, öffentlich ausgesprochen hatte, was zu einem kleinen Skandal führte, denn von Mitgliedern des Supreme Courts wird erwartet, unpolitisch nach außen zu agieren. Über dem Teich ist Ruth Bader Ginsburg aber ein Superstar. Es gibt ihr Konterfei auf Tassen und Plakaten, irgendein Genie hat ihr den Spitznamen Notorious RBG verliehen, und der Hollywood-Film „On the Basis of Sex“, in dem sie von Felicity Jones gespielt wird, erzählt von ihrem Leben. Dabei hätte kaum jemand weniger Potential für ein solch öffentlichkeitswirksames Role Model wie Richterin Ginsburg. Zierlich ist sie und schüchtern. Sie trägt große Brillen, hat oft ein versonnenes Lächeln auf den Lippen, und lieber erzählt sie von ihrem Mann, ein erfolgreicher Steueranwalt, der immer für einen Spaß gut war, als von sich selbst. Dabei wären die USA heute in Sachen Frauenrecht noch in der Steinzeit ohne ihr. Seit den 70ern kämpfte sie entschlossen und mit brillantem Verstand gegen die Unterdrückung von Frauen in der amerikanischen Gesellschaft und zwang den Supreme Court immer wieder in die Knie, bis sie ihm schließlich selbst angehörte und darin die Stimme für Chancengleichheit, Fairness und sozialem Gewissen wurde. Auch an Kritik des inzwischen nach rechts gerückten Gerichts und dessen Urteile sparte sie nicht. Diese zierliche Frau ist eine Kämpferin, die nie müde wird, doch ihren Kampf trägt sie mit subtilen Mitteln und immer großem Respekt vor den Menschen aus. Man kann nicht anders: Nach Sichtung dieses Films hegt man die größte Bewunderung vor dieser starken Frau, die eine ganze Gesellschaft mitgeformt hat und das unprätentiös, uneigennützig und getrieben von einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Vielleicht ist die Darstellung für eine Biographie etwas einseitig geworden, aber der Film ist sehenswert und bringt einem diese interessante Frau näher. Möge sie der Welt noch viele Jahre erhalten bleiben.


7,0
von 10 Kürbissen

Matangi / Maya / M.I.A. (2018)

Regie: Steve Loveridge
Original-Titel: Matangi / Maya / M.I.A.
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Matangi / Maya / M.I.A.


Steve Loveridge und Matangi „Maya“ Arulpragasam, die später eine Weltkarriere als M.I.A. hinlegen sollte, lernten sich in London am Saint Martins College of Art kennen und freundeten sich an. Diesem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass etwa zwei Jahrzehnte später die Dokumentation „Matangi / Maya / M.I.A.“ in die Kinos kommt, die unter Anderem die Kritiker des Sundance-Filmfestivals überzeugen konnte. Sowie den Kürbis eures Vertrauens. Denn der Film erzählt keine gewöhnliche Geschichte vom Aufstieg trotz aller Widerstände und dem Erreichen des Olymps. Vielmehr bietet Loveridge ein Porträt über die Hintergründe der Musikerin an und zeigt, wie die persönliche Geschichte ihre Kunst geformt hat. Denn M.I.A. hat so einiges Charakterbildendes erlebt. Ihr Vater gründete in Sri Lanka den bewaffneten tamilischen Widerstand gegen die Regierung mit und kämpfte in dem sich an der Unterdrückung der Tamilen entzündeten Bürgerkrieg. Der Rest der Familie migrierte nach London, wo M.I.A., damals noch Maya, mit den Schwierigkeiten von Flüchtlingen und Fremdenhass konfrontiert wurde. Später kam der Vater nach, doch der Krieg blieb. Und je älter Maya wurde, desto mehr beschäftigte sie sich mit der Geschichte ihres Volkes und dem Mord, der an ihm begangen wurde. All das manifestierte sich schließlich in der Musik, die die angehende Dokumentarfilmerin schließlich als für sie passendste Ausdrucksform fand. Und von diesem Findungsprozess erzählt Loveridge in seinem Film. Und von den Konfrontationen mit der Presse und dem Fernsehen, die M.I.A. immer wieder suchte, um auf den Bürgerkrieg in Sri Lanka hinzuweisen. Sie kann nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht.  Und so erfährt man in dieser Dokumentation nicht nur viel über die Herkunft von M.I.A. selbst und die historischen Hintergründe Sri Lankas, sondern vor allem über ihren Charakter, ihren Kampfgeist, ihre Menschlichkeit und auch ihre Verletzbarkeit. Loveridge ist damit ein sehr persönliches Porträt gelungen, das lange nachhallt.


8,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Stadtkino Filmverleih)

Die Sammler und die Sammlerin (2000)

Regie: Agnès Varda
Original-Titel: Les Glaneurs et la Glaneuse
Erscheinungsjahr: 2000
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Les Glaneurs et la Glaneuse


Kritiker lieben Agnès Vardas selbstreflexive Dokumentation über Sammler. Ausgehend von jenen Sammlern, die in Frankreich legal nach der Ernte durch die Felder gehen und nicht abgeerntete Früchte auflesen dürfen, beleuchtet sie in ihrem Film schon bald verschiedene Aspekte des Sammelns: Sammeln als Lebensgrundlage, wenn man sonst nichts hat, Sammeln als Wertschätzung für alte Dinge, Sammeln als Wiederverwertung, Sammeln als Akt des Widerstands (so wie die Episode des Studenten, der von weggeworfenen, aber noch genießbaren Lebensmitteln lebt, um ein Zeichen gegen Verschwendung zu setzen) und schließlich – auf einer Meta-Ebene – das Sammeln von Erfahrungen. Dafür bringt Varda sich selbst ins Spiel mit einer kindlichen Freude an der kleinen Kompaktkamera, die sie erstmalig für einen Film verwendet. Immer wieder hält sie mit naiver Unschuld drauf, mit dem gleichen neugierigen Blick, der auch beispielsweise in ihrem späteren Werk Augenblicke: Gesichter einer Reise zu bemerken ist. Sie ist ganz nah dran – bei jenen, die sie filmt, und bei sich selbst. Immer dokumentiert sie auch, was das Dokumentierte mit ihr macht. Wenn man so will, kann man Varda als humanistische Filmemacherin bezeichnen – es wäre nicht falsch. Und das macht auch „Die Sammler und die Sammlerin“ zu einem interessanten und sehenswerten Film. Ich kann verstehen, warum sich die Kritiker dafür dermaßen begeistern. In einer Umfrage des Filmmagazins „Sight and Sound“ im Jahre 2014 wurde „Die Sammler und die Sammlerin“ als achtbeste Dokumentation der Geschichte ausgezeichnet, und auch die BBC setzte den Film 2016 auf die Liste der besten 100 Filme des 21. Jahrhunderts. So weit würde ich selbst nun nicht gehen. Denn für meinen persönlichen Geschmack mäanderte der Film dann doch ein bisschen zu sehr vor sich hin, und so sympathisch er auch jeden Moment lang anzusehen ist, am Ende fehlte mir ein wenig die Relevanz. Man kann natürlich nun argumentieren, dass sich diese Relevanz aus der Wertschätzung für das wenig Beachtete und Weggeworfene ergibt und der Film somit durchaus als Kommentar auf die heutige Lebensweise zu verstehen ist, aber sehr bewegt hat mich „Die Sammler und die Sammlerin“, anders als „Augenblicke: Gesichter einer Reise“, nicht.


6,5
von 10 Kürbissen

Wild Relatives (2018)

Regie: Jumana Manna
Original-Titel: Wild Relatives
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: Wild Relatives


Als „Wild Relatives“ bezeichnet man a) bei Weihnachtsfeiern über die Stränge schlagende Tanten und b) wild wachsende Verwandte von gezüchteten Pflanzensorten. In Jumana Mannas Dokumentarfilm des gleichen Namens geht es um Letzteres. Bzw. um Saatgut generell. Und um den Krieg in Syrien. Denn vor dem Krieg befand sich in Aleppo eine wichtige Gen-Bank für Saatgut. Zum ersten Mal in der Geschichte musste 2012 aus dem weltweit wichtigsten Samen-Lager im norwegischen Spitzbergen, wo auch Samen aus Aleppo gelagert wurden, Saatgut entnommen werden, um im Libanon die Pflanzen aus Syrien neu anpflanzen zu können. Das norwegische Lager ist eine interessante Einrichtung. Von den 21 weltweit wichtigsten Pflanzenarten werden dort Samen aufbewahrt, tief in den Bergen und atombombensicher. Bezeichnend wird das Lager auch als „Doomsday Vault“ bezeichnet. Wenn wir es also aus Dummheit schaffen sollten, eine oder mehrere dieser Nutzpflanzen in der Natur auszurotten (und ich halte es in dieser Beziehung mit Albert Einstein, der schon gesagt hat, dass zwei Dinge grenzenlos seien, das Universum und die menschliche Dummheit, nur beim Universum sei er sich noch nicht ganz sicher), gibt es also auf dieser entlegenen Insel noch ein Backup. Und da die ICARDA (Internationales Zentrum für Landwirtschaftsforschung in Trockengebieten) im Zuge des Bürgerkrieges ihre Gen-Bank in Syrien aufgeben musste, mussten zum ersten Mal überhaupt eben Samen aus dem Doomsday Vault angefordert werden, um die Forschungen im Libanon weiterbetreiben zu können. Was in diesem Film natürlich unterschwellig mitschwingt, ist die Frage der Nachhaltigkeit. Es ist erstaunlich, dass so ein Saatgutlager wie in Norwegen überhaupt erst notwendig ist. Schlicht, weil wir zu deppert sind im Umgang mit der Natur, und immer wieder Gefahr laufen, ganze Pflanzenarten auszurotten. Der Inhalt des Films ist also hochgradig interessant. Der Film selbst ist es jedoch nicht. Zusammenhänge werden nur unzureichend behandelt und erklärt – das Meiste von dieser inhaltlichen Einleitung musste ich tatsächlich nachrecherchieren. Auch finden sich Szenen in dem Film, die völlig entbehrlich für den Inhalt sind – wie beispielsweise Gespräch eines Priesters auf Spitzbergen mit einem Wissenschaftler. Da gäbe es ja durchaus Potential, die Rolle des Menschen in der Natur zu verhandeln. Stattdessen verlieren sie sich in Betrachtungen über die schöne Landschaft und über Eisbären. Hier wurde leider ein spannendes Thema auf eine recht belanglose und langweilige Weise umgesetzt. Ein Film über besoffene Tanten wäre kurzweiliger gewesen.

 


4,0
von 10 Kürbissen

(Foto: Viennale)

Kino Wien Film (2018)

Regie: Paul Rosdy
Original-Titel: Kino Wien Film
Erscheinungsjahr: 2018
Genre: Dokumentation
IMDB-Link: –


Wenn man im Rahmen eines Filmfestivals in einem altehrwürdigen Wiener Kino sitzt und eine Dokumentation über altehrwürdige Wiener Kinos ansieht, in der auch das Festival, an dem man gerade teilnimmt, erwähnt wird, dann ist das wohl die höchste Stufe der Metaebene, die man jemals im Kino erreichen kann. So ging es dem Publikum bei der Premieren-Vorführung von Paul Rosdys Dokumentation „Kino Wien Film“ im Rahmen der Viennale. Und Rosdy förderte mit seiner Spurensuche nach den alten, größtenteils schon abgerissenen Wiener Kinos und ihren Anfängen durchaus Interessantes zutage. So weiß ich nun, was ein „Kinopendler“ war. Oder wie die Kiba (Kino-Betriebsanstalt) zu ihrer übermächtigen Stellung unter den Wiener Kinobetreibern kam. Oder aber auch, wo sich das Forum-Kino, der einst größte Kinosaal Österreichs, befand. Das alles erfährt man durch Archiv-Aufnahmen und Gesprächen mit Zeitzeugen. Diese Gespräche fallen im Übrigen gar nicht mal so negativ und pessimistisch aus, wie man das vielleicht befürchten könnte. Vom großen Kinosterben ist hier eher nicht die Rede – jene, die noch da sind, blicken durchaus hoffnungsfroh in die Zukunft, allerdings auch mit einer gewissen Skepsis und einem Bedauern über das Ende der goldenen Zeiten. Ein bisschen geraunzt werden muss natürlich schon, wir sind immer noch in Wien. Aber dafür, dass das Kino seit Jahrzehnten totgeschrieben wird, hat es doch einen recht langen Atem. Auch wenn manche Kinobesucher nur wegen der Nachos mit Käsesauce kommen. Und dabei auch mal auf den eigentlichen Kinogenuss verzichten, Hauptsache Nachos. Jedem das Seine. Dass Paul Rosdys Dokumentation dennoch nicht wirklich überzeugen kann, liegt an der oft zu didaktischen Herangehensweise. Nicht nur einmal fühlte ich mich in die Schulzeit zurückversetzt, wo in der Geografiestunde lehrreiche Unterrichtsvideos gezeigt wurden, zu denen man  Papierflieger gebastelt hat, um nicht einzuschlafen. Ganz so schlimm steht es um Rosdys Film nicht, aber vom Hocker gerissen hat er mich trotz des (gerade für mich als Wiener Kinosüchtigen) interessanten Stoffes nicht.


5,5
von 10 Kürbissen

(Foto: Viennale)